Imervard-Kreuz
Jesus Christus am Kreuz, eine von einem Meister namens "Imervard" geschaffene Holzplastik, gilt als das bedeutendste Kunstwerk im Braunschweiger Dom. Der Name "Imervard" weist auf den europäischen Norden. Sein Träger könnte niederdeutscher, aber wohl auch angelsächsischer oder skandinavischer Herkunft sein. Unter den Kunsthistorikern herrscht darin Einmütigkeit, dass der "Imervard" zum sogenannten Volto-Santo-Typus gehört, also zu einer Gruppe von vornehmlich in Italien und Spanien vorfindlichen Großkreuzen, die sich in ihrer Gesamtheit auf das "hochverehrte und legendenumwobene Kreuz" (volto santo) in Lucca/Italien bezieht. Das Imervard-Kreuz trug ursprünglich eine purpurrote Tunika, die erst später in ein sternengeschmücktes Nachthimmelblau umgefasst wurde.
Wo und wann das Kruzifix entstanden ist, läßt sich nur anhand stilkritischer Vergleiche vermuten. Das Material des Kunstwerks ist Eichenholz, das gelegentlich bis zu einer Wandungsstärke von nur noch 3 cm ausgearbeitet ist. Der Rücken ist hohl. Kunstgeschichtlich betrachtet handelt es sich um ein romanisches Viernagelkreuz mit einem Corpus in streng stilisierter langer Gewandung, erhobenem, sehr schmalem Haupt mit weit offenen Augen unter schweren Lidern und hohen dünnen Brauen. Die Verbindung des Christus mit seinem Kreuz ist geradezu unwirklich, als würde hier nicht ein zu Tode gemarterter Mensch am Holz hängen, sondern das Kreuz fast nur noch die Rolle eines Identifikationszeichens tragen, vor dem der erhöhte Herr "schwebt". Man spricht von einer "maiestas-Figur".
Diese Unwirklichkeit wird neben der außerordentlich betonten Stilisierung durch Verlängerung der Extremitäten (Haupt, Hände und Füße) und die sehr flache Gestaltung des Corpus erreicht. All dies wird umso anschaulicher, als das große Maß formaler Eigenständigkeit und Abstraktion weit über ein direktes, dieser Zeit ohnehin fremdes Abbilden der Realität hinausweist. Zwar zeigt die Kopfbildung ein genaues Studium lebendiger Formen, doch werden sie sogleich dem Aufbauprinzip dieser Christusgestalt unterworfen und angepasst.
Sie erscheinen gelängt, gestreckt und in das Linien- und Stufengerüst der Figurenzeichnung konsequent eingebunden. Viele Generationen hindurch war in Vergessenheit geraten, dass der "Imervard" ein Großreliquiar ist. Das Hinterhaupt, ausgehöhlt und mit einem Schieber verschlossen, barg in sich 30 Reliquien, die 1881 bei einer Überprüfung entdeckt, dem Haupt entnommen und im Kapitell der Mittelsäule des Marienaltars untergebracht wurden. Das Kreuz ist wohl um 1150 entstanden, da es bereits vor dem Bau des jetzigen Doms bezeugt ist.