Gottesdienste

Landesbischof Dr. Christoph Meyns und Dompredigerin Cornelia Götz
Landesbischof Dr. Christoph Meyns und Dompredigerin Cornelia Götz

Gottesdienste

Der Braunschweiger Dom ist Alltags- und Festtagskirche zugleich; darum gibt es neben den Hauptgottesdiensten am Sonntag um 10.00 Uhr und regelmäßigen Familiengottesdiensten im Anschluss, von Montag bis Freitag um 17.00 Uhr 5-Minuten-Andachten und am Sonnabend um 12.00 Uhr ein Mittagsgebet mit 20 Minuten Orgelmusik. Das Abendmahl feiern wir in der Regel am ersten Sonntag im Monat und an jedem Freitag im Anschluss an die 5-Minuten-Andacht.

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Das Vaterunser
Gebete
Dompredigerin Cornelia Götz

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Landesbischof Dr. Christoph Meyns

Landesbischof Dr. Christoph Meyns

Predigten

  Laetare

Laetare

Cornelia Götz, Dompredigerin - 10.03.2024

Pünktlich zur Wahl der neuen Kirchenvorstände titelt die „Junge Kirche“: „Kirche wozu?“
Es geht in dem Heft um Zukunftstress und Utopien, nüchterne Einordnung und Lebensentwürfe derer, die im Dienst der Kirche alt geworden sind und der ganz Jungen, die es jetzt wagen wollen, um Gott und das Brot der Armen.
„Kirche wozu?“ ist dabei fast sowas wie ein Gründungsstatement dieser Zeitschrift, die zum ersten Mal 1933 als „Mitteilungsblatt“ der jungreformatorischen Bewegung erschien. Die Gruppe aus Theologen und evangelischen Pfarrern, die sich gegen die Deutschen Christen und damit die Gleichschaltung der Kirche unter den Nationalsozialisten gefunden hatte, bildete mit dem Pfarrernotbund die Wurzel der Bekennenden Kirche.
Zum Start gab es nicht nur ein Medium für die Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch ein Bekenntnis,
die Barmer Theologische Erklärung. Das finde ich wichtig.
Mit diesem Text hatte man sich Klarheit verschafft, abgegrenzt, festgelegt. So heißt es denn darin auch: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“
Kirche muss sich hüten: vor dem Zeitgeist, vor der Sehnsucht, zur Mehrheit zu gehören und auch den verführerischen Möglichkeiten wohlgesonnener Umstände. Dem Volk nach dem Maul zu reden, wie Luther es anmahnte, heißt nicht, sich seinen Gedanken anzubiedern sondern sich einer Sprache zu bedienen, die jede und jeder verstehen kann.
Ein aktuelles Beispiel für dieses klare Reden ist eine Pressemitteilung der katholischen Bischofskonferenz, die bekennt: „Völkischer Nationalismus ist mit dem christlichen Gottes- und Menschenbild unvereinbar.“ Und dann erklärt: Rechtsextreme Parteien können deshalb für Christinnen und Christen kein Ort der politischen Betätigung sein und sind auch nicht wählbar.
Solche Deutlichkeit hätte man sich auch an anderer Stelle gewünscht.
An dieser Stelle heute hier verstehen wir: Kirchenvorstandswahl in solchen Zeiten ist ein Bekenntnisakt: derer, die antreten und Gesicht zeigen und derer, die wählen. Gerade weil wir immer wieder in schwieriges Fahrwasser geraten, muss, wer für und in Kirche Verantwortung übernimmt, Entschlossenheit und Demut mitbringen und auch ein gerüttelt Maß an positiver Beklopptheit. (Und sich hin und wieder vergewissern, ob man das noch hat - ich schließe mich ein).
So sind wir schon fast bei der Frage: „Wer macht es?“ - aber vorher rät die nicht mehr ganz so „Junge Kirche“ mit den Worten des inzwischen 90-jährigen Fulbert Steffensky, der beide Kirchen kennt, festzuhalten:
1. Wir werden kleiner obwohl wir - wie es vor ein paar Jahren noch hieß: „Gegen den Trend wachsen“ wollen. Das führt in ein Missverständnis, denn „Wachstum“ in der Kirche ist eine geistliche Größe und nicht dasselbe wie in der Wirtschaft: wir sollen nicht an Macht und Geld wachsen, sondern an Glauben und in Zuversicht.
2. Die Institution, also die verfasste Kirche wie wir sie mit Pfarrverbänden, Propsteien, Landeskirchenamt kennen, macht uns wenig Spaß, aber „ohne Institutionen, die den Glauben langfristig machen und ihn aus den Händen zufälliger Charismatiker*innen befreien wird es auch nicht gehen.
3. Richtet er aus: Lasst uns statt der Jammerei lieber Spottlieder über unsere Weinerlichkeit einüben, damit wir soweit wach im Kopf und Herzen bleiben, dass wir den Unterschied zwischen der real existierenden Kirche und dem Reich Gottes nicht vergessen.
Um damit sind wir mitten in der konkreten und schwierigen Wirklichkeit unserer Gemeinde angekommen: Wer übernimmt Verantwortung; wie finden wir die Richtigen für die Leitung?
Wer lässt sich von Gott rufen?
Die Bibel erzählt davon in vielen Varianten: Gott ruft im Traum oder schlägt einen mit Blindheit, um ihn hernach wieder sehend zu machen, er schickt seine Boten.
Eine sehr folgenreiche Variante haben Sie vorhin im Evangelium gehört:
Die Berufung der zwölf Apostel.
Die gehören zum Inventar. Wir kennen sie von Gemälden und Mosaiken, sie sitzen auf Thronen und an Abendmahlstischen, mit Textrollen in den Händen oder erhobenen Zeigefingern. Es sind immer Männer. Und sie haben - vorhin habe ich es vorgelesen - alle einen Namen.
Allerdings: diese Namen und auch ihre Reihenfolge variieren in den Evangelien, mal so, mal so. Es kommt offenbar gar nicht darauf so darauf an, ob es damals genau diese zwölf waren. Es ist aber zu allen Zeiten wichtig, dass man weiß, wer sie sind, denn Kirche geht nur mit echten Menschen, von Angesicht zu Angesicht.
Was qualifiziert gerade diese? Berufe, Erfolge, gesellschaftliche Positionen werden nicht erwähnt.
„Jesus rief, welche er wollte.“ Das ist wunderbar und sehr ermutigend zu hören - für alle, die heute antreten. Allerdings: Judas war auch unter ihnen. Zerbrechlichkeit und Fehlbarkeit gehört, wo Menschen sind, dazu. Nochmal Fulbert Steffensky: „Gerade Institutionen rechnen mit der Durschnittlichkeit der Menschen“.
Letzteres wurde vergessen. Denn in der Kirchengeschichte wurde aus diesem Text eine besondere Berufung und Amtseinsetzung abgeleitet. Als gäbe es zwischen Gott und uns noch ein paar Profis, die näher dran sind.
Davon sagt der griechische Urtext nichts.
Das Wort, das Markus hier verwendet, „poiein“, heißt eben nicht „berufen“ oder „einsetzen“ sondern: „machen“. Es ist dasselbe „machen“ wie in der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, wenn davon die Rede ist, dass Gott Himmel und Erde „machte“ oder Noah alles „machte“, was Gott wollte. Der wiederum „machte“ Abraham zu einem großen Volk und eben auch die „zwölf“.
Es lohnt, sich das bewusst zu machen - denn offenbar geht es nicht um institutionelle Macht, die einigen zuteil wird oder um besondere Begabung - sondern um eine Neuschöpfung.
Die brauchte es. Denn Markus lebte in einer Zeit, die von Krieg, Besatzung, Not und Gewalt gezeichnet ist. Die Menschen sind es erst recht. Sie können nicht mehr. Sogar ihre Hände sind verdorrt. Sie brauchen Heilung und Frieden. Davon erzählt Markus als Einleitung zur sogenannten Berufungsgeschichte.
In diese Wirklichkeit wird er Menschen schicken, um die die Dämonen zu verjagen.
So lerne ich nach all den Jahren: Die Geschichte von den Zwölfen ist auch eine Krisenerzählung.
Gott findet unter uns die, die er zu denen macht, die es jetzt braucht.
Es sind Menschen, die nicht von oben oder außen kommen und ansagen, wie es geht.
Es sind die, die die Spuren ihrer - unserer - Zeit am Leib tragen.
Es sind nicht unüberschaubar viele.
Wir kennen sie.
Und da wird das Heft der „jungen Kirche“ meisterlich - denn alle Texte begleiten Schwarz-Weiß-Fotografien über einen Fischer an der Schlei: im Boot bei Sonnenaufgang auf dem Weg zur Reuse, beim Ausbringen der Reuse und bei Fangfahrten, beim Säubern der Reuse während einer Quallenplage.
Die Fischer hatten auch schon bessere Zeiten. Die Zukunft ist herausfordernd.
Aber es scheint nichts Sinnvolleres zu geben.





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  Sexagesimae

Sexagesimae

Cornelia Götz, Dompredigerin - 04.02.2024

Da geht einer und wirft in weiten Schwüngen Samen auf das Land.
Auf Bildern kann man das sehen, bei Van Gogh oder Millet.
Es sind große Schritte, die die Sämänner da machen. Ausgreifend. Sicher.
Wer so geht, hat Grund dazu, der hofft etwas.
Denn er hat den kostbaren Samen in der Bauchtasche und fruchtbaren Boden unter den Füßen.
Händeweise wirf er die Körner und mit ihnen Hoffnung:
auf ein grünes Feld, auf wogende Halme und goldgelbe Ähren, auf die Ernte zur rechten Zeit.
Es ist keine ungefähre Hoffnung.
Es ist kein „irgendwas geht immer“.
Es ist eine sehr konkrete Hoffnung.
Aus einem Korn kann ein Halm mit zwei oder drei Ähren wachsen. Dann hätte man, wenn das Korn aufgeht und alles passt zu seiner Zeit 120 Körner, wenn es ein besonders gutes Jahr wird sogar 150. Und dann je nachdem, wie groß die Körner geworden sind, wie gut die Ernte letztlich war, braucht man - so habe ich gelernt - 18 000 Körner für einen 1kg-Laib-Brot.
Das kann man hoffen.
Davon kann man leben.
Die Bäume müssen nicht in den Himmel wachsen.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Denn der da sät ist ja nur ein Mensch.
Sie haben das Gleichnis vorhin gehört.
Jesus erzählt es einer Gruppe, die übergeblieben ist von einer riesigen Zuhörerschaft. Die anderen, die vielen haben sich zerstreut.
Jetzt sind noch die da, die es genauer hören wollen, die Zweifel haben und bohren, die dem Sinn dieser Bildergeschichten nicht trauen wollen oder können.
Denen - den unruhigen - erzählt er weiter:
Vom Licht, das auf einen Leuchter gestellt werden muss, damit es den Raum heller macht und die Dunkelheit ausleuchtet - und also von der Wahrheit.
Denen erzählt er vom rechten Maß, das ihnen gilt und zukommt, was sie anderen zumuten oder ermöglichen, also von der Gerechtigkeit.
Und zuletzt - jetzt - von der Hoffnung.
Denn wer sich die Wahrheit zumutet, Gerechtigkeit ersehnt, braucht ganz dringend Hoffnung.
Er erzählt deshalb von der Hoffnung auf sein Reich, auf eine Wirklichkeit voller Gerechtigkeit und Wahrheit.
Diese Wirklichkeit ist schon da, jetzt, in diesem Moment, in dem er spricht und die Menschen um ihn herum hören.
Sie ist noch nicht ganz da. Das muss ich nicht ausmalen. Aber an ihm, an Jesus, kann man sehen, wie es werden wird: Menschen werden heil werden, ihre Plagen, Sorgen und Gebrechen verschwinden, Menschen werden endlich keinen Hunger mehr leiden, die Güter werden gerecht verteilt sein. Es wird Frieden sein. Auch zwischen denen, die für sich ausgeschlossen haben, gemeinsam zu essen.
Es ist ganz konkret.
Man kann schließen von dem, was jetzt um ihn und durch ihn passiert, auf das, was sein wird.
Vom Samenkorn, auf die Ähre, auf das Brot.
Als Van Gogh seinen Sämann in Arles malte, hoffte er auch sehr konkret: dass die Zusammenarbeit mit Paul Gauguin Frucht bringen würde und endlich auch sichtbaren Erfolg in den Händen, damit er seinem Bruder Theo Schulden zurückzahlen kann.
Auch wir haben Samen in der Hand, Körner, aus denen etwas werden kann: Ideen, Begabung, Mut und dazu ein paar Ressourcen.
Also geh und wirf deinen Samen aufs Feld, schwungvoll, das Land ist hell und weit, trau der Zukunft etwas zu!
Es gibt Grund zur Hoffnung.
Und dann?
Dann geht der Sämann nach Hause. Wie die vielen vorhin nach der ersten Rede auch, denn Gottes Zukunft und Hoffnung gilt allen - nicht nur den unruhigen Strebern.
Er geht nach Hause und - Sie haben es vorhin gehört-: „schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie.“
So geht es weiter - im Rhythmus des Lebens.
„Es wird Abend und Morgen, ein neuer Tag“ - wie an allem Anfang. Da blättert Gott den Rhythmus einer ganzen Woche vor unseren Augen und Ohren und Herzen auf und überrascht an jedem Tag mit einer Neuschöpfung. Immer kommt über Nacht etwas Neues, Wunderbares dazu, was vorher noch nicht da war.
An jedem Tag, den Gott werden lässt, erfüllt sich etwas von seiner Zukunft für uns.
Es passiert.
Man weiß nicht wie.
Wir wissen nicht wie.
Gott weiß es.
Und wir?
Wir haben Pause.
Denn das Gleichnis erzählt nichts vom Unkraut jäten, vom Hacken und Gießen, von Schädlingsbekämpfung, vom sorgenvollen Blick auf das Wetter und zum Horizont, von unermüdlicher Tätigkeit und Unentbehrlichkeit.
Der Sämann hat Pause.
Nichts zu tun. Leerlauf.
Depression. Müdigkeit, nicht gebraucht und zu nichts nütze?
Mitnichten!
Denn die Pause ist, das weiß jede und jeder, der Musik macht oder hört, von elementarer Bedeutung.
Da gilt es, nicht dazwischen zu singen oder zu geigen - nie hört man den Fehler mehr!
Da gilt es, tunlichst nicht aufzustehen, sich zu verbeugen, feiern zu lassen. Nichts wäre lächerlicher.
Da gilt es, aufzupassen.
Gewärtig zu sein.
Gleich!!!
Gleich.
Das ist unser Ort im Kirchenjahr. Zwischen Weihnachtszeit und Osterfestkreis.
Das ist der sogenannte „Sitz im Leben“ dieser Geschichte.
Ein paar Tage dazwischen.
Pause.
Zeit, in der das Korn aufgeht.
Grünes Parament, grüne Stola - mit Ähren und Trauben drauf - Gottesdienst mit Abendmahl. Wegzehrung - während es Abend und Morgen wird.

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  Letzter Sonntag nach Epiphanias

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Cornelia Götz, Dompredigerin - 28.01.2024

Letzter Sonntag nach Epiphanias:
Fest der Verklärung.
Fest eines Lichtes nicht ganz von dieser Welt und doch auf deinem Angesicht.
Noch ehe der Frühling kommt.
Noch ehe die Sonne übernimmt.
Noch unterm Stern von Bethlehem.
Noch in unserem wirklichen Leben.
Da hinein schreibt Paulus, der es nicht lassen kann, der irgendwie nie zufrieden ist, der immer noch was klarstellen und erhellen muss, der selbst mit Blindheit geschlagen werden war, ehe er sieht und begreift:
„Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten…“
Gott, der…
Erinnerung an unseren Gott und seine Schöpfung, an Gott, der aus Finsternis und Chaos ein Paradies gemacht hat und es immer wieder machen kann.
Erinnerung gegen das Vergessen.
Erinnerung, um das Wissen festzuhalten, dass es Gott ist, der es hell werden lässt - an jedem Tag neu.
Nicht aus Laune oder willkürlicher Freundlichkeit heraus.
Das soll so sein.
Licht soll hervorbrechen und wird leuchten.
Verlässlich. So geschieht sein Wille.
Und wir können uns jeden Morgen erinnern an das, worauf wir wirklich hoffen können.
Das ist wichtig, Lebenshilfe pur.
Solches Erinnern ist ein Korrektiv wider das falsche Verklären, das uns lichte Wege suggeriert, die doch in viel tiefere Schwärze führen.
Wir brauchen solches Erinnerungsfundament, solche Hoffnungsstabilität dringend.
Es wird schlimm, wenn - so beschreibt es die chinesische Journalistin Wu Qin, „alle Gedanken verbannt, alle Ideen vertrieben und Erinnerungen vergänglich wie Meereswellen sind … dann wird alles, über- oder umgeschrieben, ohne Beständigkeit oder Zusammenhang.“
Tohuwabohu.
Wüst und leer.
Da ist Finsternis.
In unserer Welt.
In unserer Kirche.
In unseren Gedanken, Worten und Werken.
Da ist Finsternis in verdrehten Worten und verbogener Wahrheit.
Wie finden wir da raus?
Vielleicht durch das Licht in den hoffnungsvollen Gesichtern derer, die Gott an unsere Seite gestellt hat? Auf dem Weg zur Demonstration neulich hab ich das gesehen - helle Gesichter vor Erleichterung, nicht allein zu sein, Hoffnung und Ernst.
Reicht das?
Woher wissen wir, dass das kein Licht der Verblendung ist?
Um zu unterscheiden, brauchen wir die Erinnerung an den, der aus dem Dornbusch sprach, der als Feuersäule mitging, über Bethlehem seinen Stern aufscheinen und den Ostermorgen werden ließ. Andernfalls laufen wir Gefahr etwas für Licht zu halten, das doch nur Brandstiftung ist, gefährliches Zündeln.
Denn da ist Finsternis und wir tun gut daran, nicht nach den sanft leuchtenden Schildern „Notausgang“ zu suchen. Da kommt man zwar raus - aber meist in die nächste Dunkelheit.
Wir brauchen ein anderes Licht, einen anderen Weg, eine neue Tür.
Das alles sind Gottesnamen, seine Selbstvorstellung.
Das will er uns sein: Wahrheit, Leben, Brot, Tür und Licht.
Darum, schreibt Paulus weiter, hat Gott selbst „einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben“ oder vielleicht noch einleuchtender übersetzt: „leuchtet Gott selbst in unseren Herzen auf.“
Gott setzt nicht nur Lichter ans Firmament, damit es hell wird.
Gott schickt nicht nur seine Engel, damit sie als Boten seiner Klarheit für Licht sorgen.
Er weiß auch um die Finsternis innendrin, er weiß um unseren Kleinmut und Zweifel, die Gefahr, der Hoffnungslosigkeit anheimzufallen, die Angst, vergeblich auf Hoffnung zu setzen. Er weiß, dass wir Zuversicht brauchen.
„Zuversicht“, das hört man schon, hat mit dem Sehen zu tun, mit der Sicht auf etwas hin. Aber das Wort birgt noch viel mehr, denn, so sagt es das etymologische Wörterbuch: „Zuversicht“ kommt von „sich zu jemandem versehen, auf jemanden vertrauen.“
Sich zu jemandem versehen. Vertrauen wagen.
Wenn das gelingt, dann bricht ein Lichtstrahl durch die Finsternis.
Dann wird es heller in uns.
Dann leuchtet „es“ in uns und aus uns heraus.
Bei Menschen, die lieben, kann man das sehen.
Verklärung.
Dann leuchtet ein Gesicht so, dass an der Menschlichkeit dessen, der es trägt, kein Zweifel sein kann. Dann leuchtet der menschgewordene Gott selbst aus uns heraus. Dann sehen wir Ebenbildlichkeit an dir und mir. Dann können wir in einem Menschen Gott erkennen.
Dann scheint Hoffnung auf. Licht und hell!
Aber: Obacht! Warnt Paulus, dem intellektuelle Redlichkeit so wichtig ist, der nicht verführen, sondern denken will.“ Vorsicht!
Berauscht euch nicht daran!
Hütet euch vor dem Kurzschluss, dass so schon dann alles gut wird.
Das wäre billige Gnade, gefährdete Hoffnung.
So leicht ist es nicht, denn „wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen“.
Wir sind zerbrechlich, gefährdet, nicht für die Ewigkeit gemacht.
Dieses Licht, Gottes Licht, es leuchtet aus uns. Aus dir und mir.
Wahrlich, es gibt edlere, vollkommenere Gefäße. Stabilere auch.
Gottes Licht leuchtet durch die Risse meiner porösen Erscheinung.
Die Hoffnung, die ich ausstrahlen kann, ist mithin kein Flutlicht.
Ach schade. Es wäre so schön…
Nein, widerspricht Paulus. Das wäre es nicht.
Es ist ganz und gar gut so. Wieder bohrt dieser Paulus an der ewig gleichen Stelle.
Denn auch hier gilt: Licht und Hoffnung, Zuversicht kommen allein von Gott, allein aus Gnade.
Damit wir uns nicht falsch verklären, blenden und in zu vorteilhaftes Licht setzen, muss es so sein, denn sonst vergessen wir: „dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns“,
Andernfalls würde die Hoffnung nicht tragen, wir könnten ihr nicht trauen.
Ich darf Hülle sein, Gefäß. Das ist nicht wenig. Im Gegenteil!
Ich darf Hoffnungsbotschaft sein für die neben mir.
Denn aus dir und mir leuchtet der menschenfreundliche Gott.
So lasst uns rausgehen - auf die Straße, in Gespräche, in Zweifel, in Angst.
Heute, am Fest der Verklärung und immer.
Darum kann Paulus behaupten, fühlen, erklären, postulieren:
Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht.
Uns ist bange, aber wir verzagen nicht.“
Wir sind - sagt er - Menschen, ja, wir leiden und sterben wie Jesus Christus gestorben ist.
Aber an unseren Körpern, an uns selbst, wird auch sein Leben offenbar.
Unverletzlich. Österlich.
„Wir“ schreibt er. Wir.
Keine, niemand muss draußen bleiben. Es gilt allen.
Gott leuchtet mit seinem Antlitz über und aus uns allen.
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Amen

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  3. Sonntag n. Epiphanais

3. Sonntag n. Epiphanais

Cornelia Götz, Dompredigerin - 21.01.2024

Über diesem Tag steht eine verblüffende Geschichte, die ich zur Bibelkundeprüfung bestimmt kannte aber dann gründlich vergessen habe. Sie gehört zu den Berichten über den Propheten Elisa - ein kleines Stück haben Sie vorhin in der Lesung gehört.
Ich steige noch ein bisschen vorher ein:
Naaman war ein Oberbefehlshaber der aramäischen, heute syrischen, Armee. Samaria, also Nordisrael, war der Erzfeind, die Völker ähnlich verschwistert wie Russen und Ukrainer.
Den aktuellen Krieg zwischen beiden hatte Namaan zugunsten seines Landes entscheiden können - sehr zur Freude seines Königs aber nicht nur durch eigenes Können und Vermögen. Denn, so wird erzählt: „durch ihn gab der HERR den Aramäern den Sieg.“
Es gehört zu den manchmal vergessenen Aspekten der biblischen Geschichte, dass Gott sich profangeschichtlicher durchaus gewaltsamer Auseinandersetzungen bedient, um sein Volk auf Kurs zu bringen.
Aber das ist ein anderes Thema.
Hier geht es heute um Grenzüberschreitungen, unten und oben, Provokation und Friedfertigkeit. Denn uns wird erzählt, dass der aramäische Held ein Hautleiden hatte, das ihn quälte und entstellte.
So erfolgreich er war - sein Körper spielte nicht mit und erzählte vor aller Augen von Gebrechlichkeit und Grenzen. Naaman litt.
Dies beschäftigte und rührte am meisten ein Mädchen. Ein israelisches Mädchen, entführt, zur Zwangsarbeit verpflichtet.
Man stelle sich das vor: ausgerechnet eine der israelischen Geiseln würde nicht mehr mit ansehen können, dass einer der Terroristen sich mit seiner Krankheit quält, ausgerechnet ein verschlepptes ukrainisches Kind könnte es nicht länger ertragen, dass der russische Armeegeneral Waleri Wassiljewitsch Gerassimow schlechte Haut hat…
Doch so war es. Dies Kind sagt: „Ach, dass er doch bei dem Propheten in meinem Land wäre, der könnte ihn heilen.“
Ausgerechnet sie, die ohne Frage zu den Opfern des Krieges zählt, deren Leben unter der Gewalt dieses Fremden aus dem Ruder gelaufen ist, ausgerechnet sie sieht in Naaman nicht den Feind, sondern einen Menschen und seine Not.
Sie spricht darüber und erstaunlicherweise erfährt Naaman davon.
Erstaunlicherweise ist die Kommunikation von unten nach oben durchlässig genug.
Und noch erstaunlicher: der Mann oben nimmt die Nachricht von „unten“ ernst und nicht nur das. Dieser Feldherr ist kein Andrij Melnyk. Er unterscheidet. Nicht alle sind unbesehen Feinde.
Darum bittet Naaman bittet seinen König nach Israel - zum Feind! - ziehen und sich helfen lassen zu dürfen.
Er hält für möglich, dass die eben Besiegten ihm Gutes tun!
Er hält für möglich, dass sie ihn nicht mit Hass überschütten und davonjagen!
Sein König scheint das nicht zu sorgen. Er lebt in seiner Blase und kann sich deshalb keinen anderen Fortgang vorstellen, als Pomp, Getöse und eine Luxusbehandlung auf der Chefetage - entweder aus Angst oder Hoffnung.
So schickt er Naaman mit großem Geleit, teuren Geschenken, Brief und Siegel zum König nach Israel und richtet damit gefährliches Chaos an.
Denn der fühlt sich provoziert - er ist ja nur König und kein Wunderheiler, schon gar nicht Gott.
Was kann der Feind wollen, mag er sich panisch fragen.
Ein offenes Hilfsgesuch kann er nicht denken, denn in seinem Kosmos ist ein Perspektiv-, Positions- oder gar Methodenwechsel ein gefährliches Spiel.
Wieder wird die Lage im politischen Großen und für den einzelnen Betroffenen durch einen gerettet, der in der Hierarchie normalerweise nicht gehört wird, weil er zu weit unten steht: Elisa. Der ist Prophet an einem lokalen Heiligtum, Dorfpfarrer sozusagen.
Er erfährt von der Eskalation und eilt zu Hilfe.
Und wieder geschieht Ungewöhnliches.
Ein zweites Mal in dieser Geschichte geht ein Mensch, der eigentlich nur ein kleines Rädchen im Getriebe ist, nicht automatisch davon aus, dass er sowieso nicht gehört wird, sowieso nichts bewegen kann, dass seine Intervention sowieso nichts nützt.
Im Gegenteil. Elisa traut seinem Gott und darum sich selbst etwas zu und lässt seinem König ausrichten: „Schick ihn her, damit er wahrnimmt, dass es hier einen Propheten gibt“, damit er begreift und erlebt, wer wir wirklich sind.
Schick ihn her! Nicht etwa: Ich komme. Sondern: Ihr müsst Euch bewegen, wenn es gut werden soll!
Und tatsächlich: Naaman reitet mit seinem Gefolge zu Elisa.
Aber was immer er erwartet hat: der Prophet kommt nicht mal vor die Tür! Unfassbar. Er schickt nur einen Boten, der dem prominenten Patienten ausrichten lässt, dass der zum Jordan gehen und sich siebenmal waschen soll.
Keine Heilungszeremonie, kein magisches Ritual - geh dich waschen…
Elisa, so viel ist klar, liegt nichts an Diplomatie und geschmeidigen Prozessen.
Naaman soll begreifen, dass es Gottesmänner wie ihn gibt und auch, dass es auf ihn, Elisa, dabei nicht ankommt. Heilung und Heilsein sind Geschenke aus Gnade, die keinen Mittler braucht.
Und außerdem soll der Feldherr lernen, dass man nicht alles kaufen kann.
Da flippt Naaman aus.
Sich siebenmal zu waschen funktioniert auch in jedem Gewässer seiner Heimat.
Dafür hätte er sich nicht auf den Weg machen müssen.
So lässt er sich nicht vorführen.
Dann eben nicht.
Und ein drittes Mal sind es die Diener, die sogenannten kleinen Leute, die die Situation retten und einen gangbaren Weg finden, die Namaan bewegen:
Wäre es kompliziert und teuer, du hättest es auf dich genommen - warum nicht das?
Muss es immer der ganz große Wurf sein?
Siehst Du nicht, wo Frieden und Heilung anfangen?
Warum traust Du diesem kleinen Schritt, der überall geht, nichts zu?
Und noch einmal erweist sich Naaman als einer, der hört, der sich bewegen lässt und sich schließlich nicht nur wäscht, sondern siebenmal untertaucht. Mit Haut und Haar lässt er sich ein.
So wird er gesund.
Es ist nicht sein Glaube, der ihn rettet, sondern Hören und Tun.
Es hat keines Wunders bedurft und ist doch eins; eins, das Naaman selbst zu Wege gebracht hat. Er ist ein anderer geworden. Ganz sicher von außen, vermutlich auch von innen.
So dreht er um, will sich bedanken, den Propheten beschenken und ihm Ehre erweisen.
Doch das wollte der schon vorhin nicht.
Immerhin darf Naaman zwei Maultierladungen Erde mit nach Hause nehmen, handgreifliche Erinnerung, Glaubenshilfe und ein Wort: „Zieh hin mit Frieden.“
Dorthin, wo Du lebst und Verantwortung hast, wo alle sehen werden, dass Du Dich verändert hast und etwas verändern kannst.

Das sagt er uns auch.
„Zieh hin mit Frieden“ - in diese neue Woche,
in der man sich kaum noch wagt, nach Osten zu schauen,
in der Manövergrummeln schon zu hören ist,
in der in Israel noch immer um Geißeln gebangt und in Gaza gehungert wird,
in der auch in unserem Land, Unruhe und Sorge zahllose Menschen auf die Straßen treibt…
„Zieh hin mit Frieden“ - nicht „in“ - „mit“! - und gib die Hoffnung nicht auf, dass Gott mitgeht und immer wieder etwas passiert, das so erstaunlich ist, wie diese Geschichte -
ein Wunder am Wegrand, ein Vorbote des Friedens.

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  Jahreslosung 2024

Jahreslosung 2024

Cornelia Götz, Dompredigerin - 01.01.2024

Mit den Jahreslosungen ist es so eine Sache. Manches Jahr weiß ich sie im Oktober noch nicht auswendig und in anderen Jahren geht sie mit - von Anfang an.
So war es im vergangenen Jahr.
Aus dem 1. Buch Mose hieß es: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Hagar hatte das an einem Scheidepunkt, einer Wegkreuzung des Lebens, verstanden.
Gott sieht mich. Er sieht das Gelingende und das Scheitern, er sieht, was ich versuche und verdränge, womit ich konfrontiert bin - er sieht das Zuviel und das Zuwenig.
Er übersieht mich nicht.
Sein Blick macht mich nicht fix und fertig, so dass ich vor lauter Komplexen, Schuldgefühlen oder überhöhten Erwartungen an mich selbst und das, was ein glückliches Leben sein soll, nicht mehr weiter kann.
Sein Blick hilft, einen gangbaren Weg zu finden.
Nicht ideal, aber möglich, menschlich.
So geht es denke ich auch für uns:
Solche Vergewisserung hilft, wenn all das passiert, was man vermutet hat oder nicht kommen sah - im Guten wie im Bösen.
So haben wir es auch über die Schwelle vom alten zum neuen Jahr geschafft - mitsamt der Erfahrung, dass nicht nur das Kind in der Krippe verletzlich ist, sondern wir auch
• wenn das Wetter kommt und das Wasser, dem weder ein Stall gewachsen ist noch eine Strohschütte
• wenn die Nachrichten über Krieg und Gewalt kein Ende nehmen
• das Mutmachen für die angeschlagenen Demokratien mühsam ist…
Und dann sind da ja noch die Steine auf dem Herzen, die zum Glück nicht jeder sieht.
Und jetzt sind wir hier und Gott sieht uns.
Er sieht hinter unsere Stirnen und in unsere Herzen.
Er sieht, was wir uns zusammenreimen oder vorgenommen haben, wovor wir uns fürchten.
Was wird das für ein Jahr werden?
Wird es sein, wie Thüringens Innenminister Georg Maier gerade sagte: „Ich habe manchmal das Gefühl, wir schlafwandeln in ein ziemliches Desaster hinein und wachen am 2. September in einem autoritären System auf.“
Wie wird sich auswirken, dass Gletscher schmelzen und Böden auftauen während Kriege geführt werden, die Unsummen verschlingen …
Was ist mit den Völkerwanderungen, dem Hunger, dem Verteilungskampf?
Was sieht Gott, wenn er uns sieht?
Ohnmacht, Wut, Lethargie?
Vermutlich.
Aber hoffentlich nicht nur.
Ich hoffe, dass er Zuversicht und Mut sieht, klein vielleicht aber kräftig genug, um sich nicht unterkriegen zu lassen.
Ich hoffe, dass er Vertrauen sieht - in Menschen und Menschlichkeit, in ihn.
Ich hoffe, dass er Kraft sieht, weiterzugehen über die nächste Kreuzung hinaus.
Und auch, dass wir im neuen Jahr nicht vergessen, dass er uns sieht.
So gerüstet, hoffnungsvoll, dankbar für ein altes Jahr, in dem wir behütet und bewahrt worden sind, bin ich Ohr für das, was nun die Überschrift sein soll.
Was sagt er also zum neuen Jahr mit all den Risiken, in die hinein wir unser kleines begrenztes Leben gebaut haben?
„All eure Dinge lasst in der Liebe geschehen.“
Puuh.
Nachdem Gottes Antlitz über uns leuchtet und wir uns schon fast in Gott Arm kuscheln wollten, nun die Ansage: ich seh Dich, Du kannst das, Du hast ja grad gemerkt, wie gut es tut, liebevoll angesehen zu werden, auf geht’s!
2024 lass alles! - nicht nur das, was deine Liebsten betrifft oder woran dein Herz hängt, sondern alles - lass in der Liebe geschehen.
Staubwischen, Steuererklärung, Wahlzettel ausfüllen, tanken, einkaufen, Fahrradfahren, Hände waschen, Haare kämmen, Pläne schmieden, Whattsapp-schreiben. Alles.
Das wird die Diktatur des diakonischen Lächelns und ich bin, wie Ildiko von Kürthy so fantastisch schreibt, eine sprechende Duftkerze.
Ach, es ätzt sich gut und passt nicht zur Jahreslosung, die ernstgenommen werden will.
2. Versuch:
„All eure Dinge lasst - 2024 - in der Liebe geschehen.“
Paulus schreibt das eine ganze Bibel und alle Arten zwischenmenschlicher Vorfälle und lebensgeschichtlicher Standardsituationen später als das Mosewort.
Am Ende eines Briefes.
Schlussformeln und letzte Worte haben es in sich, egal was vorher alles geschrieben war. Am Ende, was kommt dann?
Ein „bis uns wiedersehen“? Oder eine Zärtlichkeit? Vielleicht ein „dein“, das eines meint…
Nein, Paulus schreibt keine Liebesbriefe, jedenfalls nicht solche.
Er erklärt, erinnert, ermahnt, klagt manchmal. Teilt Pläne mit und Erwartungen. Nicht zu knapp. Er weiß ja: Gott sieht uns. Wir können das. Und also hören wir:
„Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark!“ und dann schiebt er gleich hinterher: „und all eure Dinge lasst in der Liebe geschehen.“
Taumelt nicht gedankenlos ins neue Jahr, ängstlich, verschreckt - dafür steht zuviel auf dem Spiel.
Passt auf, vertraut, seid tapfer. Und Achtung! Es hängt alles zusammen:
Wachsamkeit, Mut und Stärke ohne Liebe können gefährlich werden.
Ohne Liebe führt Wachsamkeit zu Misstrauen, Kontrollzwang, Angst.
Ohne Liebe wird fester Glaube zu Ideologie und hartherziger Enge.
Ohne Liebe führt Mut und Stärke zu Gewalt, Selbstüberschätzung, Terror.
Darum: „Lasst alles in der Liebe geschehen.“
Ja… Aber wie? Wie kann einer das verlangen?
Ich habe gelesen, solche Ermahnung funktioniert wie Prinzenerziehung.
Befähigung und Begabung werden nicht bezweifelt, denn die Adressatin ist nicht auswechselbar. Darum wird auch nicht geschimpft sondern ermutigt.
Solche Ermahnung hofft alles und glaubt alles.
Wie die Liebe.
Und in diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen - sehr liebevoll - dass wir diese Jahreslosung mit uns herumtragen und immer wieder neu zu Herzen nehmen.
Möge 2024 in der Liebe geschehen.
Unter Gottes Segen und vor seinem Angesicht, damit ihn freut, was er sieht.

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  Altjahresabend 2023 - Psalm 121

Altjahresabend 2023 - Psalm 121

Landesbischof Dr. Christoph Meyns - 31.12.2023

Liebe Gemeinde!
Am Beginn des Gottesdienst haben wir miteinander den 121. Psalm im Wechsel gebetet. Er hat einen Titel, der nicht mit im Programm abgedruckt ist. Auf hebräisch steht dort wörtlich: „Lied der Hinaufzüge“. Dieser Titel bezieht sich auf die Wallfahrt, die Menschen im alten Israel einmal im Jahr unternahmen. Zum Laubhüttenfest zwischen Mitte September und Mitte Oktober zogen sie von allen Ecken des Landes aus hinauf zum hochgelegenen Tempel in Jerusalem. Die Menschen im alten Israel waren überwiegend Kleinbauern. Für sie endete das Jahr nicht am 31. Dezember wie für uns, sondern nach der Ernte im Herbst. In Deutschland entsprach dem über viele Jahrhunderte hinweg der 29. September, der Tag des Erzengels Michael, im Volksmund „Michaeli“ genannt. An diesem Tag endeten das Wirtschaftsjahr in der Landwirtschaft und die Dienstverträge für Knechte und Mägde. Die Neubestellung der Felder und neue Lehr- und Dienstverträge begannen. Der Tag wurde vielerorts mit einem Volksfest begangen und am Sonntag darauf mit dem Erntedankfest beschlossen. Die Menschen im alten Israel pilgerten am Laubhüttenfest zum Tempel nach Jerusalem, um Gott für die Ernte zu danken und um seinen Segen im kommenden Jahr zu bitten.
Der 121. Psalm ist eines der Lieder, die während der Pilgerreise gesungen wurden, vermutlich zu Beginn der Reise. Er bittet Gott um seinen Segen für den Weg und um Schutz vor Unfällen, vor zu viel Sonne beim Pilgern und vor zu viel Mond. Zu viel Mond? Was ist damit gemeint? Im Alten Orient wurde dem Mond üble Wirkungen zugesprochen. Mondlicht galt als Verursacher von mancherlei Krankheiten. „Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ Diese Bitte um Gottes Segen bezieht sich vermutlich auf den Ausgang aus dem Haus zu Beginn der Wallfahrt und den Wiedereintritt über die Schwelle des Hauses am Ende der Reise. Während ihrer teilweise mehrtägigen Wanderung zum Tempel hatten die Menschen Zeit, das alte Jahr in Gedanken noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen. Wie war die Getreideernte in diesem Jahr ausgefallen? Wie hat sich meine Herde aus Schafen und Ziegen entwickelt? Wie ist es meiner Familie ergangen? Welchen Segen habe ich erlebt? Wofür will ich Gott danken? Und um welchen Segen möchte ich ihn für das neue Jahr bitten?
Was sie dabei persönlich bewegt hat, ist wohl sehr verschieden gewesen. Ein Anliegen aber hatten alle Pilger gemeinsam: Die Bitte um ausreichend Regen. Das war der entscheidende Faktor für das Wohlergehen von Pflanzen und Tieren. Blieb der Regen aus, kam es zu Hungersnöten. Denn die Menschen produzierten keine Überschüsse, die sie einlagerten, sondern nur so viel, wie sie selbst im Laufe des Jahres zum Leben brauchten.
Mit den Menschen im alten Israel blicken wir heute Nachmittag am letzten Tag unseres Jahreslaufes auf das vergangene Jahr zurück: auf Familie und Beruf, Freunde und Nachbarn, auf die Höhepunkte des Jahres und den Alltag, auf Schönes und Schwieriges, auf Fröhliches und Trauriges. Wir danken Gott für das Gute, das wir erlebt haben. Wir legen in seine Hände, was unsere Tage verdunkelt hat und uns auf der Seele liegt und bitten ihn, es in Segen zu verwandeln. Wir blicken auch auf das neue Jahr, das vor uns liegt.
Wir bitten Gott um seinen Segen für unser Leben, für Schule, Studium und Beruf, für Ehepartner, Kinder und Enkel, für Freunde und Nachbarn, um Kraft und Gesundheit, für Stadt und Land. Um Regen sollten wir anders als die alten Israeliten heute wohl nicht gemeinsam bitten. Aber ich denke, was uns im Blick auf das neue Jahr eint, ist die Bitte um Frieden: für die Ukraine, für Israel, für den Gazastreifen, für die Opfer von Hass und Gewalt, für die Geflüchteten um Schutz und Solidarität, für die Mächtigen um Einsicht, Weisheit und Vernunft.
Mit der Kollekte des heutigen Tages schließen wir darüber hinaus eine Gruppe von Menschen in unsere Gebete, an die wir nur ungern denken und mit denen wir nicht so viel zu tun haben wollen: Strafgefangene. In der JVA in Wolfenbüttel sitzen Menschen ein, die viel Schuld auf sich geladen haben. Sie wurden zu langen Haftstrafen verurteilt aufgrund von Betrug, Erpressung, Raub, Totschlag, Mord, Sexualstraftaten, Drogendelikten. Einige verbüßen eine Strafe bei uns aufgrund einer Verurteilung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag für Kriegsverbrechen. Aber auch sie sind Gottes Kinder. Sie bedürfen in besonderer Weise der Fürbitte: um Gottes Geleit, um Einsicht in ihre Schuld, um die Fähigkeit zu Reue und echter Umkehr. Und sie bedürfen der Seelsorge. Deshalb arbeitet dort ein Pfarrer unserer Landeskirche. Er steht für Gespräche zur Verfügung, bietet Gottesdienste an, Gesprächsgruppen und einen Chor. Er ist zugleich Ansprechpartner für die Justizvollzugsbeamtinnen und -beamten, die einen anspruchsvollen und belastenden Beruf wahrnehmen in der Spannung zwischen Kontrolle und Sicherheit auf der einen Seite, Resozialisation, Bildung und Therapie auf der anderen Seite.
Wenn Menschen auf eine lange Reise gehen, dann müssen sie sich gut vorbereiten und allerhand in ihren Koffer packen. Diejenigen, die zurückbleiben, geben ihnen gute Wünsche mit auf den Weg: „Gute Reise“, „pass auf dich auf“, „sei vorsichtig“, „bleib gesund“ „komm heil wieder nach Hause“, „gottbefohlen“. Der 121. Psalm ist so etwas wie ein Schatzkästchen voll mit guten Wünschen für die Reise. Er ruft Gott an als den Schöpfer von Himmel und Erde und als den guten Hirten, der seine Herde behütet. Er bittet Gott um Schutz auf dem Weg und vor den größten Gefahren einer Reise in der Antike: Unfall, Sonnenbrand und Krankheit, und vor allem körperlichen und seelischem Übel im allgemeinen. Für Menschen heute sind es wunderbare Worte für ihre Reise durch das Leben. Mich selbst begleiten sie seit frühester Kindheit. Denn die letzten beiden Verse sind mein Taufspruch. Sie erinnern mich daran, dass Gott mich hält in guten und in schlechten Zeiten, im Leben wie im Sterben und über den Tod hinaus. In diesem Sinne lasst euch heute die Segenswünsche des 121. Psalms für eure Reise durch das neue Jahr zusprechen. Sie mögen euch geleiten, euch Zuversicht schenken, Kraft und Mut für alles, was das neue Jahr bringen mag.

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen.
Woher kommt mir Hilfe?
Meine Hilfe kommt vom HERRN,
der Himmel und Erde gemacht hat.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen,
und der dich behütet, schläft nicht.
Siehe, der Hüter Israels
schläft noch schlummert nicht.
Der HERR behütet dich;
der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand,
dass dich des Tages die Sonne nicht steche
noch der Mond des Nachts.
Der HERR behüte dich vor allem Übel,
er behüte deine Seele.
Der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang
von nun an bis in Ewigkeit!
Amen.

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  Christvesper 2023

Christvesper 2023

Cornelia Götz, Dompredigerin - 24.12.2023

Stille Nacht, heilige Nacht –
Da singt jemand ein Wiegenlied.
Guten Abend, gute Nacht - mit Rosen bedacht und Näglein besteckt – mit Nägeln?
Nein, nein - es ist nicht immer nur schlimm. Das kann ja niemand aushalten.
Gewürznelken sind da gemeint; man steckte sie ins Kissen, um Insekten zu vertreiben…
Weihnachtsduft und Weihnachtsbaum, Weihnachtsluft in jedem Raum -
Ja, darum sind wir hier, genau hier.
Angekommen nach all dem, was zu tun und zu richten war.
Vollgestopft mit Nachrichten und Anstrengung und Aufregung und Erwartung
Und hoffentlich!!!!
Hoffentlich wird das schön.
Dieses Fest zuhause mit meiner Familie.
Dieses Fest allein - nur mit mir.
Dieses Fest für die Welt und alle die, die jetzt irgendwo draußen sind -
Draußen gibt es viele.
Von Englein bewacht,
die zeigen dir im Traum des Christkindleins Baum –
Weihnachtskind und Weihnachtsbaum, ich dachte, das hat gar nicht miteinander zu tun - oder braucht es das für ein besonderes Fest, den Baum im Zimmer, mitten im Dom?
Was heißt hier „brauchen“…
Menschen brauchen Brot und Wärme, sauberes Wasser und Geborgenheit.
Was geht es uns gut!
Aber wenn du keinen Weihnachtsbaum hast oder willst oder kennst -
Das Kindchen in der Krippe hatte auch keinen.
Nur Paradiesäpfel und Sternenglanz und:
leise, leise –
Alles schläft -
Ruhig. Arglos im Wortsinne.
Da fängt Frieden an.
Alles schläft,
wer ein Bettchen hat, ein Dach über dem Kopf, ein Zuhause –
wer nicht grübeln muss, kein Fieber hat und kleinen Liebeskummer –
wer nicht schlecht träumt, nicht friert, nicht hungert,
Wer nicht arbeiten muss.
Einsam wacht nur das traute hochheilige Paar.
Niemand sonst.
Keiner, der Böses vorbereitet, der sich in Neid verzehrt oder in Gewalt verliebt, der sich nicht beherrschen kann, nicht verzeihen will.
Das ist beruhigend.
Wie schön sie aussehen – ganz verklärt vor Glück über dies kleine Menschenkind.
Dass das immer wieder passiert! Dass die Liebe aufgeht unter uns und Herzen sich erweichen. Dass Menschen so vollkommen sind.
Schlaf nun selig und süß, schau in Traums Paradies –
Mutter und Vater beieinander, friedlich, die haben sich lieb – und dich auch.
Heile Welt.
da schimmern goldgrüne Wiesen und wer hat so viele Schäfchen?
Die hat der liebe Mond, der hinter unserm Hause im hohen Himmel wohnt.
Hinter meinem Hause auch und hinter deinem und hinter den Häusern, in denen wir nicht wohnen und in denen wir keinen kennen.
Der Mond, der Himmel - über uns allen, dort wo Gottes Wille geschieht.
Wie auf Erden. Jetzt.
Hier.
Heilige Nacht.
Schlaf nun selig und süß: holder Knabe im lockigen Haar.
Wem sieht der eigentlich ähnlich?
Sieht er überhaupt wie ein Junge aus oder ist es doch ein Mädchen?
Kommt es nach Dir?
Schau doch die gekrauste Nase und die zarten Lippen –
Das hat es nicht vom Vater -
aber die hohe Stirn??
Und der Augenschnitt, die Augenfarbe – die ist doch bei allen Neugeborenen gleich.
Es hat die Augen doch zu!
Leise. Leise. Es schläft in himmlischer Ruh.
Ach, das ist mir unheimlich.
Lass das lieber! So mag ich mir kein Kind denken.
Morgen früh, wenn Gott will …
Du muss keine Angst haben vor dem Einschlafen, am Abend des Lebens, am Abend der Welt.
Es liegt nicht in deiner Hand.
Morgen früh, wenn Gott will, wirst Du wieder geweckt.
Psst. Leise, leise!
Heilige Nacht, Gottes Sohn, o wie lacht …
Schau. Es lächelt!
Du auch!
Ich auch?
Ja, du auch.
Erleichterung! Du hast es ja doch nicht verlernt!!!
Ich dachte schon, du willst gar nicht mehr lächeln…
Gibt ja auch keinen Grund, willst du sagen?
Doch, doch.
Da lacht Liebe aus seinem göttlichen Mund.
Ja, der ist perfekt gelungen. Es komm doch nach mir…
Schau – dies Kind ist ganz und gar unschuldig,
dies Kind soll unverletzet sein –
breit aus o Flügel beide, o Jesu meine Freude.
O Gott, wir bitten dich, behüte dieses Kind.
Behüte mein Kind.
Unser Kinder.
Alle. Die können doch nichts dafür. Die verstehen gar nicht, wo sie da hinein geraten. Die werden nicht wieder heil!
Und auch euch ihr meine Lieben
soll heute nicht betrüben
kein Unfall noch Gefahr –
da uns schlägt die rettende Stund.
Gott sein Dank.
Gleich läuten die Glocken in die Stadt.
Gleich hören wir den Zimbelstern.
Gott sei Dank.
Jetzt wird Frieden auf Erden.
Das glaubst du nicht?
Du denkst, alle Jahre wieder .. Fragezeichen?
Alle Jahre wieder ändert sich nichts - geht der Krieg weiter und der Hunger und Corona und die Einsamkeit und…
Das hast du falsch verstanden!
Alle Jahre wieder kehrt er mit seinem Segen ein in jedes Haus.
Hast du das nicht gemerkt.
Du wärst jetzt ja gar nicht hier, wenn Gott dich nicht behütet hätte-
Wenn er nicht dir zur Seite gewesen wäre, still und unerkannt,
Wenn er dich nicht geleitet hätte, an der lieben Hand.
Dann wird ja alles gut –
stille Nacht, heilige Nacht
die der Welt Heil gebracht –
heile heile Segen
die wunden Herzen
das zerschlagene Gemüt
all die kaputten Knochen und …
aus des Himmels goldnen Höhen –
schlaf nun selig und süß
Hirten erst kundegemacht –
Ja, denen sagt er zuerst Bescheid. Die heute Nacht arbeiten müssen, die müssen es zuerst hören. Bei denen müssen die Engel zuerst singen.
Wir haben Zeit und jetzt sind wir ja hier und sehen die Geschichte.
Leise, leise…
Kindlein mein schlaf nun ein –
Tönt es laut von fern und nah
Christ der Retter, ist da!
Hört ihr das?
Christ, der Retter - er ist da.
Leise.
Horch.
Stille Nacht.
Heilige Nacht. Allüberall.

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  4. Advent 2023

4. Advent 2023

Cornelia Götz, Dompredigerin - 24.12.2023

Wenn man an einem frühen Morgen um diese Jahreszeit. - also ganz dicht an der Wintersonnenwende in den Dom geht und es ein lichter Tag wird, dann sieht man die Türme von St. Magni und dem Dom rotgolden angeleuchtet.
Man kann sich den Kopf verrenken wie man will, man kriegt die Lichtquelle nicht zu sehen.
Es leuchtet schon. Aber woher?
Und es dauert, bis die Sonne sichtbar ist, manchmal tagelang.
So ungefähr ist dieser Morgen.
Das Licht ist schon besonders - gleich wird es aufbrechen über uns und wir werden staunend feststellen, dass es ein uraltes neues Licht ist, ganz nah von weit her - gespeist aus Hoffnung und Sternenglanz, himmelhell.
Aber noch dämmert der Tag.
Noch liegt er vor uns und muss durchschritten werden.
Noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Trotzdem sind wir ins Laufen gekommen!
Vielleicht hat uns irgendwer erinnert hat an das:
„Erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“
Bitte! Tut das! Schon damals musste das dringend den Vielen, uns allen gesagt zu werden.
Denn ich bin nicht allein - mit meiner Lebensangst und meiner Weltangst, mit den Sorgen, die mich drücken …
So gehen wir.
Auf Hühneraugen, am Stock oder wie Maria: mit geschwollenen Knöcheln und dem Bauch voran.
Die ist unterwegs durch den Dornwald - nicht durch ein Lavendelfeld, in dem man die Hand hängen und greifen lässt, weil der Duft so herrlich ist, nicht durch eine hohe Wiese, wo weiche Gräser schmeicheln - Maria geht durch die wirkliche Welt, die dornige.
Wenn man in die Kathedrale in Coventry kommt und sie Richtung Altar durchschreitet, dann muss man durch so einen Dornenwald, der ganze Chor ist ein einziges wuchtiges Dornengestrüpp - ein großes Kyrie und ohne Ahnung dessen, was kommen wird - am Ende, am Anfang.
In Coventry wird es ein großes Staunen sein. Hinter den Dornen. Stehenbleiben, sich umsehen - solches Licht! Kommen wir da etwa her?
Ausgang und Eingang, Himmel und Erde - alles ganz nah.
Das ist der Weg Richtung Weihnachten, Richtung Ostern: durch das Dunkel hindurch.
Durch das Dunkel hindurch scheint der Himmel hell. So hell soll auch die Erde sein, steh auf, steh auf!!! Das Lied sollten wir mal lernen!
In Maria klingt es schon und sie läuft durch das Dunkel hindurch - zu Elisabeth oder ist sie womöglich schon auf dem Rückweg?
„Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen, das trägt Maria unter ihrem Herzen“ - ja, noch ist das so. Noch ist das Kindchen behütet und sicher, die Ohren sind schon fertig - es hört den Herzschlag seiner Mutter und kennt die Stimme. Manchmal schlägt das Herz schneller. Das Kindchen weiß noch nicht, dass das Freude oder Angst sein kann, glückliche Erwartung oder unruhige Sorge, Eile …
Worte versteht es auch noch nicht.
Hört nur den vertrauten Klang und sicher weiß es, wann die Mutter mit ihm spricht.
Vielleicht klingt das, was die junge Frau da unterwegs in aller Einsamkeit mit sich und ihrem Kind bespricht, nach Albrecht Goes: „Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt, / Klein wird dein letzter sein. / … Sei's um ein Jahr, dann gehst du, Kind, / Viel Schritte unbewacht, / Wer weiß, was das für Schritte sind / Im Licht und in der Nacht? …“
Ja, wer weiß das und wie groß mögen die Fragezeichen im Herzen dieser jungen Frau sein, die immer wieder überschüttet wird mit Vorzeichen, die ihr Denken und Vorstellen übersteigen?
Von der Nacht der Welt, der Gegenwart, dem was ist, hat sie eine Ahnung - im besetzten Land, mit dem Hunger und der Ungewissheit, den fremden Soldaten. Ob auch sie sich wie viele junge Frauen nach ihr gefragt hat, ob sie es wagen kann, in diese Welt ein Kind zu setzen???
Sie wird es nicht beschützen können…
Aber jetzt ist diese Schwangerschaft über sie gekommen, sie hat sie angenommen und gelernt sich zu freuen.
Ja, wahrscheinlich ist sie schon auf dem Heimweg - denn das mit der Freude hat sie eben zum ersten Mal richtig gespürt - bei Elisabeth. Da hat das Kind im Buch getrommelt, geboxt, gehopst - wie die Pauken beim Weihnachtsoratorium. Jauchzet, frohlocket - weil das Leben siegt.
Dies Kind muss geboren werden, natürlich. Was sonst???
Das leuchtet jedem ein - auch dem größten Zweifler.
„Komm, sagt die Mutter, zur Welt, Kind.“ dichtet Marie Luise Kaschnitz.
„Wozu wir auf der Welt sind, kann ich dir nicht erklären. / Das sagt dir der Vater morgen / Oder irgendwann…“
Der lässt durch Jesaja ausrichten (den Rest sagt er heute Abend):
„Ich will nicht schweigen und will ich nicht innehalten, bis deine Gerechtigkeit aufgehe wie ein Glanz und dein Heil brenne wie eine Fackel und die Völker sehen deine Gerechtigkeit…“
Sind wir dafür auf der Welt?
Um nicht zu schweigen und nicht innezuhalten, um zu leuchten und uns zu brennen bis endlich alle Völker - das ist zu groß für einen Menschen… - das möge sich keiner anmaßen zu wollen. Das geht nicht gut aus.
Sie mag Maria denken.
Sie kann nur das menschliche Maß. Gott sei Dank.
Maria legt die Hand auf ihren Bauch. Hält inne. Drückt einen bisschen gegen das Füßchen. Zwiesprache. „Du wirst Sohn des Höchsten genannt werden“ hat der Engel zu ihr gesagt und „König seinen einem Reich ohne Ende“
Maria hat das gehört. Die Worte kennt sie. Den Sinn nicht.
Deshalb ist sie genau die richtige Mutter für dieses Kind.
Denn „ich will, dass du immer satt / … und du eine bleibende Statt hast. … und das Schmutzige meidest und nicht krank wirst und leidest…“ so denkt Maria, dichtet Marie-Luise Kaschnitz.
Wenn Menschen das füreinander wollen, dann wird es gut unter uns.
Dann werden wir uns nicht verletzen und verjagen, nicht beschmutzen.
Sondern treu füreinander sorgen.
Diese junge Menschenmutter erwartet keinen Prinzen:
„Ich will dich gar nicht so mutig und auch nicht besonders schön / weil die allzu Kühnen und Schönen so oft zugrunde gehn. …
Draußen ist sehr viel Böses, weiß nicht, wo das Gute blieb / komm zur Welt Kind / sieh selbst Kind / vergiss nicht: wir haben dich lieb!“

Wenn man an einem frühen Morgen um diese Jahreszeit Richtung Krippe geht - dann sieht man die Türme von St. Magni und dem Dom rotgolden angeleuchtet.
Man kann sich den Kopf verrenken wie man will, man kriegt die Lichtquelle nicht zu sehen.
Es ist nicht zu orten, wo uns Hoffnung herkommt.
Aber sie leuchtet.
Ist es die Klarheit des Herrn über der Krippe?
Ist es Gottes: „Vergiss nicht, ich habe dich lieb!“
Heute sagt Gott das ganz nah an unserem Herzen durch die Menschen neben dir und neben mir: Vergiss nicht, ich hab dich lieb.
Und nun: Komm endlich zur Welt, Kind!

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  3. Advent

3. Advent

Cornelia Götz, Dompredigerin - 17.12.2023

„Da aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte…“ – so beginnt der Predigttext aus dem Matthäusevangelium.
Da sitzt einer im Gefängnis –
wie Alexej Nawalny, zu dem es seit dem 6. Dezember keinen Kontakt mehr gibt,
wie Maria Kolesnikowa, die seit Februar, nach schwerer Krankheit und einer Not-OP, in der Frauenstrafkolonie Nummer 4 in Home verschwunden ist,
wie Maxim Znak, ihr Anwalt, der seit Februar in Isolationshaft sitzt und von dem seither niemand etwas gehört hat,
keiner weiß,
ob etwas zu ihnen dringt
ob sie noch leben.
Wir kennen immerhin ihre Namen.
Da sitzt einer im Gefängnis,
wie die vielen, die wir nicht kennen,
die irgendwo in Zellen, Lagern und Folterkellern verschwunden sind -
weil sie an etwas geglaubt haben,
weil sie nicht mitmachen wollten,
weil sie es nicht schafften, gleichgültig zu bleiben,
weil sie von einer besseren Welt zu träumen wagten.
Sie werden verurteilt und weggesperrt,
„wie alle wie immer“ so hat es Maxim Znak gesagt.
Dieser hier, Johannes, war ein Radikaler, ein Asket, einer der konsequent verzichtete, einer der nicht verflochten sein wollte mit der Welt und ihren Umständen, ihren Bequemlichkeiten, der nicht teilhaben wollte an den Kreisläufen der Ungerechtigkeit.
Er lebte in der Wüste von Heuschrecken und wildem Honig und redete von Umkehr, 180-Grad-Wechsel, Gegenrichtung.
Er glaubte, dass sich die Welt ändern würde, wenn die vielen sich bewegen, sich wehren, umkehren - denn dann reichen die Gefängnisse nicht aus.
Dieser Mann gab den Systemen seiner Zeit keine Chance, keine Zukunft.
Den aber Menschen schon.
Denn er hoffte. Er glaubte.
Und er erwartete, ja er hielt für möglich, dass es ein anderes Reich und eine neue Zeit geben könnte, nicht irgendwann - sondern jetzt, bald.
Er deutete das, was er erlebte, nicht nur als Krise sondern als Aus„ vorüber“, „vorbei“ und er rechnete damit, dass er zur Rechenschaft gezogen würde, sich verantworten müsste.
Er verlor sich nicht in der Lust am Untergang sondern predigte von dem, was sein wird. Bald.
Und steckte damit an.
Das stört.
Er störte.
Er beunruhigte.
Er musste schleunigst aus dem Weg.
So kommt er ins Gefängnis…
Wie es einem Menschen da gehen mag – in solcher Ausnahmesituation - wer wollte sich ein Urteil erlauben, der es nicht durchgestanden hat?
Maxim Znak hat nach seiner Verurteilung 2021 begonnen zu schreiben und irgendwie ist es ihm gelungen, seine Texte nach draußen zu bringen. In „Zekamerone“, so heißt sein Buch, schreibt er:
„Mit dem zugeteilten Essen versuchte man es zu halten wie mit den Toten – man redete entweder gut darüber, oder man schwieg. Aber es funktionierte natürlich nicht. Manchmal waren die Gefühle stärker als der Verstand….“
Und dann ???
Das ist eine grausame Leerstelle - ???
Johannes beginnt zu zweifeln.
Er, der Jesus selbst getauft hatte, der die Taube gesehen hatte, die vom Himmel kommt, der die Stimme selbst gehört hatte, die sagte: Das ist ein lieber Sohn… – der zweifelt jetzt und lässt fragen:
„Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“
Das ist erschütternd.
Was ist ihm widerfahren???
Welche Lebensader ist ihm zerschnitten worden?
Oder wird uns das erzählt, um nicht zu vergessen: Zweifel ist keine Schande.
Es ist menschlich.
Wir mögen dem Zweifel zutiefst misstrauen, weil wir ihn für Verrat oder Illoyalität halten - aber ich vermute, dass wir uns eher vor denen fürchten sollten, die nie zweifeln.
Johannes zweifelt.
Wie Thomas. Dem konnte leicht geholfen: Leg deine Hand in die Wunde! Spür die Verletzung, sie ist echt und sieh: „Ich lebe und Du sollst auch leben!“
Dem Johannes war das verwehrt.
Immerhin: er war nicht in Isolationshaft. Die Seinen wussten, wo er war. Sie konnten Kontakt halten. Aber was sollte ihm helfen - zu hoffen? - zu überleben?
Dass er Nachricht bekommt in mageren Worten: Ja, er ist es. ?
Beruhigt das den Zweifel?
Wenn man erst einmal gründlich am Zerdenken und Zergrübeln ist, dann wird es schwer.
Wenn man einmal alles infrage gestellt hat, dann traut man dem Frieden nicht mehr, dann hat man sich den Rückweg selbst verbaut und verirrt sich im Irrgarten fragwürdiger Logik.
Dann ist man in der Lage, alles kaputt zu zweifeln, was eben noch wahr war und gut und heilig…
Wenn dann keiner da ist, der widerspricht, erinnert, zurechtrückt, wird es gefährlich.
Ist es das wert – oder mache ich mich nur lächerlich?
Ist es das wert, dafür mein Leben aufs Spiel zu setzen?
Worauf setzen wir da überhaupt Hoffnung?
Was hat das Gebet genützt - für Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung?
Was soll das mit dem Stern und dem Kind – alle Jahr wieder???
„Ach, wenn wird die Zeit erscheinen? Ach, wenn kömmt der Trost der Seinen?“ klingt es im Weihnachtsoratorium in der fünften Kantate.
„Schweigt!“ heißt die Antwort.
„Schweig!“ Heute Abend kann man das hier hören.
„Schweig!!! Er ist schon wirklich hier!“ Man kann es sehen. Das ist es. Das lässt auch Gott in Jesus auch dem Zweifler Johannes ausrichten: „Er ist schon wirklich hier!“
„Sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt“
Könnt Ihr das sehen? Ich nicht wirklich… Und die im Gefängnis?
Der Zweifel quält hartnäckig. „Schweig!“
Da kommt noch ein kleiner Satz hinterher:
„Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“
Selig, wer das hören kann ohne bitter zu werden.
Selig, wer das Menschenkind wiegen und so sein klammes Herz beruhigen kann.
Selig.
Und dann sehe ich Maria Kalesnikowa, die ihre Hände zum Herz formt und denen in Freiheit, denen draußen, uns allen, Mut macht.
Dann lese ich Asli Erdogan, die in der Türkei im Gefängnis saß und erzählt:
„Die Frauen halfen mir zu überleben … sie haben heimlich Pflanzensamen gezogen. Da es im Gefängnis auch keine Erde gibt, stellten sie diese aus Teeblättern und Eierschalen her. So brachten sie einen Samen zum Keimen und es wurde ein zartes Pflänzchen daraus. .. Die Pflanze wurde jeden Tag in den Hof getragen, damit sie frische Luft bekommt und Regenwasser kosten kann.“
So, sagt sie, habe sie wieder gelernt, was Leben bedeutet.
So können wir hören.
So hören es hoffentlich die, von denen wir nichts hören:
„Jesu, ach so komm zu mir!“ Er ist schon da. Zweifellos.

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  Polizeigottesdienst

Polizeigottesdienst

Cornelia Götz, Dompredigerin - 12.12.2023

Polizeigottesdienst

Liebe Gemeinde,
liebe Polizistinnen und Polizisten –
die Weihnachtsgeschichte ist kein Märchen. Sie ereignet sich unter konkreten Bedingungen, in einem besetzten Land unter Menschen in schwieriger sozialer Situation – an den Bruchstellen der Gesellschaft, dort wo es gefährlich werden kann, wo Würde verletzt wird, dort wo Schutz und Hilfe nötig sind, wo Einsamkeit und Verlassenheit, Kälte erfahren wird,
dort wo staatliche Maßnahmen durchgesetzt und begleitet werden müssen,
dort wo Sie arbeiten, wo Sie Lebenszeit und Kraft investieren.
Das erste Weihnachten erleben Menschen, die wie wir hoffen, dass ihr Leben nicht von Konflikten und Herausforderungen ihrer Zeit aus den Angeln gehoben wird,
die für ihre Kinder eine geborgene Kindheit und ein gutes Leben ersehnen,
die betroffen sind von politischen Entscheidungen und sozialer Ungleichheit.
Es sind Menschen, wie die junge Maria, die vertrauen muss – dass eine Zukunft gibt, dass ihre Kräfte reichen werden, dass sie nicht weggespült wird von den vielen, die alle auch irgendetwas irgendwo tun müssen.
Es sind Menschen wie Josef, die Verantwortung übernehmen und dann spüren, wie schwer sie an ihr zu tragen haben, die Konsequenzen für etwas schultern, das sie nicht ausgelöst haben und die dafür sehr viel geben.
Es sind Menschen, wie die Wirte, die eigentlich nur ihren Job machen wollen und überrannt werden, deren Ressourcen bei weitem nicht ausreichen für das, was jetzt ansteht und von ihnen erwartet wird.
Es sind Menschen, wie die Hirten auf den steinigen unwegsamen Flächen rund um Bethlehem, die sich wie ihre Väter und Großväter am Feuer wärmen, die hoffen, dass ihre Tiere die Nacht unbeschadet überstehen, dass sich weder Mensch noch Tier an dem vergreift, wovon sie leben.
Die harte Arbeit zehrt an ihnen, so oft müssen sie wachsam sein.
Jede Unaufmerksamkeit kann einen hohen Preis haben.
Jetzt sitzen sie und sagen sich alte Texte auf – wie den, den wir vorhin gehört haben.
Sie habe sie unzählige Male gehört. Sie können sie auswendig.
Wie einen Song, den man mit Freunden singt und mit sich trägt, dem man glaubt, mit dem man sich verbindet:

Müde Hände werden wieder Kraft bekommen.
Erschöpfte Beine werden wieder Stabilität finden.
Sie werden stark sein und ohne Angst.
Sorgen und Seufzen werden verschwinden.
Und die, die bisher einfach nicht hinschauen wollten, die nicht gesehen haben, was los ist, denen werden die Augen aufgehen.
Die, die weggehört haben, die sich taub gestellt haben, die wird endlich erreichen, was Not tut.
Und die, die wie gelähmt waren, die sich festgefressen hatten, die nicht mehr konnten, werden spüren, dass die Kraft zurückkommt, die Beweglichkeit auch.
Es ist ein altes Lied und klingt bis hierher:
Neu kann man es hören in den Worten von Carola Moosbach:
„Das wäre schön auf etwas hoffen zu können
was das Leben lichter macht und leichter das Herz
das gebrochene ängstliche
und dann den Mut haben die Türen weit aufzumachen
und die Ohren und die Augen und auch den Mund
nicht länger verschließen
das wäre schön
wenn am Horizont Schiffe auftauchten
eins nach dem anderen
beladen mit Hoffnungsbrot bis an den Rand
das mehr wird immer mehr
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das wäre schön
wenn Gott nicht aufhörte zu träumen in uns
vom vollen Leben einer Zukunft für alle
und wenn dann der Himmel aufreißen würde ganz plötzlich
neue Wege sich auftun hinter dem Horizont
das wäre schön“
Ja, das wäre es.
Das wird es sein. Denn:
Die Weihnachtsgeschichte ist kein Märchen. Ein Kind wird geboren und Gott fängt neu mit uns an. Er vertraut sich uns an: unserer Fürsorge und unser Liebe, unserem Mut. Der Stern leuchtet über uns – wir sehen ihn nur, wenn wir den Kopf heben.
Das ändert nicht, worin wir stehen.
Aber es ändert unsere Haltung.
Denn wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen, sich verbinden, den Hass überwinden, und neu beginnen, ganz neu - da berühren sich Himmel und Erde, da wird Friede möglich unter uns, da wird Weihnachten.
Für die, von denen ich erzählt habe.
Für Sie, liebe Frau Haase, liebes Team, liebe Gemeinde.
Für uns alle.
Amen.

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  Totensonntag

Totensonntag

Cornelia Götz, Dompredigerin - 26.11.2023

Toten- und Ewigkeitssonntag…
Blick zurück und Blick nach vorn.
Gedanken an die, die vor und mit uns waren.
Gedanken daran, dass auch wir sterben und wie wir sein werden.
Draußen eilt die Welt auf Weihnachten zu, wir halten noch einen Moment inne – Langsamkeit gegen den Trend erst recht wenn es das erste Weihnachten sein wird ohne …
Blick zurück und Blick nach vorn. Wie wird es sein?
Eine befreundete Pfarrerin erzählte mir vor ein paar Tagen, dass sie mit ihrer Gemeinde eine neue Form des Taufgottesdienstes ausprobiert. Dazu legt sie vor und hinter dem Taufstein lange Stoffbahnen aus - wie einen Strom, einen großen Fluss. Dann bittet sie Paten und Großeltern, Geschwister und Freunde, Gemeindeglieder in diesen Strom hineinzusteigen - eben dorthin, wo sie mit ihrem Tauftag im Fluss der Zeit ungefähr hingehören. Zuletzt tritt sie selbst mit dem Täufling und seinen Eltern in den Fluss – gewärtig all derer, die vor ihnen sind und nach ihnen kommen werden. Und immer, so erzählt sie, gibt es einen Moment, an dem sie danach fragt, wer noch dabeisteht. Dann kommen erst die großen Namen: Johann Sebastian Bach und Martin Luther King, Hildegard von Bingen… und dann weitet sich der Raum für die, die zu unserer je eigenen Lebensgeschichte gehören.
Manche stehen ganz in der Nähe; andere schon weit weg,
Aber sie sind alle noch da. Alle mit mir verbunden.
Und die, die ich erinnere kannten und liebten andere, die mit und vor ihnen waren.
Ein schönes Bild - es passt nicht nur zur Taufe.
Es passt auch zu diesem Sonntag am Ende des Kirchenjahres.
Wir sind nicht allein. Auch nicht an den Gräbern.
Wir stehen im Strom der Gnade, im Fluss unseres Glaubens und beim Blick zurück sehen wir in die Gesichter der noch Lebenden und der schon Toten. Sie sind alle da.
Sie haben alle in ihrer Zeit gelebt - mit deren Schrecken und Ängsten, mit ihren Hoffnungen und Wundern, im Krieg und im Frieden.
Sie und wir alle sind Teil der Geschichte Gottes mit uns Menschen, in der Nachfolge und im Zweifel.
Wir stehen miteinander verbunden in denselben Verheißungen und alten Worten:
„Der Herr segne deinen Ausgang und Eingang“

"Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“
„Ich glaube aber doch, dass ich sehen werde die Güte des Herrn im Lande der Lebendigen.“
Seit urlanger Zeit wiederholen wir dieselben Worte, bewegen sie in die Sprache unserer Mütter und Väter hinein, horchen auf ihren Klang im Sound unserer Zeit, lassen uns anfechten und trösten.
So stehen wir auch im Gewölbe des Predigttextes über diesem Tag,
Im Danielbuch heißt es:
„Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich."
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass nicht nur wir, sondern auch die vor uns gehört haben könnten: diese, unsere Zeit ist eine so schwere und schwierige, so kompliziert und verworren, so festgefahren und ausweglos, wie es bisher noch nicht zusammengekommen ist. Es wird so viel zerstört und gestorben, gehungert, missbraucht und verachtet wird. Jetzt ist die Zeit.
Aber Blick nach vorn und Blick zurück:
Gott will und braucht keine Toten.
Er wollte und brauchte sie nie.
Er ist ein Gott der Lebenden, ein Gott der lebendig macht und Leben schenkt. Seine Geschichte ist eine Geburtsgeschichte. Seine Propheten sind keine Wahrsager, die uns den Weltuntergang erklären wollen. Sie erzählen von dem einen Gott und immer wieder davon, dass seine - nicht unsere -Gerechtigkeit, sein - nicht unser- Frieden, sein - nicht unser - Reich groß werden wird.
Seine Zeit wird leuchten.
Sein Segen trägt. Schon lange.
Blick zurück. Ja. Trotz allem.
Blick nach vorn: Ist das die die Zeit, in der sein Volk gerettet wird, alle die im Buch des Lebens stehen?
Blick zurück: Ratlosigkeit und Knoten im Kopf.
Wir haben es nie verstanden, wie das ist mit seinem Volk, mit Israel, mit Gottes Erwählung und dem Buch des Lebens, in dem wir doch auch stehen, oder? Oder hängt doch alles, hängen wir daran, dass sein Volk Frieden hat?
Nochmal: Propheten sind keine Wahrsager! Sie sind nur Gottes Stimme.
Bis er selbst in den Fluss steigt.
Seither hat sich dessen Farbe ein wenig geändert.
Der Strom fließt ein bisschen sanftmütiger dahin, so dass auch wir hineintreten können in die Erwählung, uns beim Namen gerufen wissen dürfen und aufgehoben bei Gott, in Zeit und Ewigkeit.
Es kommt eine Zeit.
Die Toten werden auferstehen – die einen so, die anderen so.
Es ist nicht egal, was wir tun und wie wir leben.
Schmach und Schande bleiben haften
So klingt es. So klang es.
Denn jetzt leuchtet das ein für alle Mal des Ostermorgens.
Gott braucht ja keine Toten, keine Verachteten, keine ewige Schande.
Es kommt eine Zeit. Da werden die Verständigen, die Gerechten, die Mutigen leuchten wie Sterne, wie Morgenlicht und Hirtenfeuer, wie Weihnachtsstern und Ostermorgen.
Vielleicht ist es noch nicht unsere Zeit.
Vielleicht werden noch viele nach uns kommen. Hoffentlich.
Und vielleicht schauen sie dann nach vorn und zurück und sehen uns entgegen und verstehen.
Es kann uns nichts trennen von der Liebe Gottes: „weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur.“



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  22. Sonntag nach Trinitatis

22. Sonntag nach Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 06.11.2023

Zu diesem Tag gehört ein Text, ein Brief, den Johannes (?) an Menschen geschrieben hat,
die offenbar nicht mehr wussten, was sie denken oder glauben sollen,
denen Gewissheiten abhandengekommen waren,
deren Sicht auf die Welt sich verdüstert hatte.
Die Not muss groß gewesen sein - das Durcheinander in den Köpfen auch.
Der Verfasser hält sich nicht mit irgendwelchen freundlichen Versuchen auf, Menschen dort abzuholen wo sie sind. Er versucht auch nicht, besänftigenden Grund zu legen. Er erinnert:
„Was von Anfang an gegeben war, das Wort, das Leben bringt.
Wir haben es gehört. Wir haben es mit eigenen Augen gesehen.
Wir haben es angeschaut und mit eigenen Händen berührt.“
Mehr geht nicht. Wir können es wissen.
Wir sollten unseren eigene Augen und Ohren trauen, dem was unserer Hände spüren.
Dass Lebensatem in uns fließt, dass uns ein Geist verbindet, der leben und unterscheiden hilft, das ist doch gewiss!
Auch wenn vieles geschehen mag, was einen irre machen kann.
Auch wenn vieles gesagt wird, was einleuchtet und trotzdem falsch ist.
Auch wenn vieles unüberschaubar ist.
Denn eigentlich ist alles so klar und gewiss, dass - so schreibt er: „Ich nicht begreifen kann, warum Ihr nicht ganz und gar voller Freude seid.“
„Freut euch!“
Als ob man das so auf Kommando könnte.
Als ob man das wollte, wenn Menschen nicht mehr sicher leben können, wenn Hass gesät und überreich geerntet wird, wenn Menschen schweigen weil sie sich nicht wagen zu sagen was sie denken, wenn andere aussprechen, was man nicht denken darf.
Wo kommt uns da Freude her?
Der uns da schreibt, scheint unerschüttert.
Der uns da schreibt, will nicht differenzieren und auch keinen Kontext erklären, der Grautöne begründet, die Schwärze der Finsternis relativiert.
Und er will andersherum Gottes Verheißungen, seine Zusagen, sein Wort und Tun an uns, nicht einordnen, verteidigen – schon gar nicht bezweifeln.
Im Gegenteil. Er schreibt:
„Gott ist Licht, in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.
Wir lügen, wenn wir behaupten:
Wir haben Gemeinschaft mit Gott und leben doch in der Finsternis.“
Was für knochenharte Worte.
Wir lügen, wenn wir nicht sehen können, wie die Erfahrungen in unserer Welt und die Verheißungen des Glaubens zusammenpassen?
Wir lügen, wenn wir denken, dass sich die Helligkeit eines geborgenen Momentes hier von den Lichtverhältnissen draußen unterscheidet?
Wir lügen, wenn wir Gott finstere Anteile zurechnen?
Dreimal krähte der Hahn…
Und Petrus weinte. Über seine Angst und seinen Kleinmut.
Darin sind ihm viele – vielleicht sogar alle – nachgefolgt.
Mit ihm und unter Tränen möchte man den unbarmherzigen Schreiber fragen:
Wenn es dunkel in mir wird, dann meinst Du, glaube ich nicht?
Wird es nicht gerade deshalb dunkel in uns, weil es so schwer ist, trotzdem zu glauben und zu hoffen.
Darf ich nicht klagen und rufen, weil es nicht aufhört in mir zu denken:
Wenn es in Gott nur licht und hell ist, wie weit weg muss er sein?
Doch der Fremde, von wo immer er uns schreibt, lässt das nicht zu.
Er gönnt sich schwarz oder weiß, ja oder nein und antwortet:
„Wir betrügen uns selbst, wenn wir glauben, dass wir keine Schuld auf uns geladen haben… Ob wir Gott wirklich kennen, erkennen wir daran, ob wir seine Gebote halten.“
Der da schreibt, tat das, weil sein Leben neu wurde als Jesus Christus die herzensharte Befolgung der alten Gesetze selbst infrage stellte. Er gab allem einen neuen Rahmen: Was ist, muss sich am Gebot der Liebe messen lassen.
Alles entscheidet sich daran, dass wir nicht hassen.
„Denn wer hasst“ das erklärt er dann doch „irrt in der Finsternis umher und weiß nicht, wohin er geht. Die Finsternis hat seine Augen blind gemacht.“
Wobei: Das hätte er nicht ausführen müssen. Das sehen wir.
Wieder einmal haben wir ein schreckliches Beispiel dessen vor Augen, was Carolin Emcke, Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, so analysierte:
„Hass ist nicht nur einfach ein vages Gefühl, das sich mal eben aus Versehen oder aus vorgeblicher Not entlädt. Dieser Hass ist kollektiv und ideologisch geformt … Dieser Hass bricht nicht plötzlich aus, sondern er wird gezüchtet.“
Ja. Stottern wir ohnmächtig.
Ja. Aber!
Wo ist Licht?
Wo der Weg, die Wahrheit, das Leben – in all der Finsternis?
Wo kommt uns gute Nachricht her?
Jetzt ist es an dem Schreiber zu verzweifeln.
„Das schreibe ich euch doch! Ihr Kinder! Eure Schuld ist euch vergeben!“
Atmet auf!
„Das schreibe ich euch doch! Ihr Alten! Ihr kennt Gott doch, Schon immer!“
Ohne ihn wäret Ihr doch gar nicht mehr da…
„Das schreibe ich euch doch! Ihr Jungen! Ihr habt den Bösen besiegt! Ihr seid stark!“
Staunen.
Habt Ihr das, das Böse besiegt???
Will ich widersprechen?
Nein. Das will ich nicht. Ich will es glauben.
Aber wie geht das? Woran glaube ich wirklich?
Mit genau dieser Frage beschäftigt sich das Leitungsgremium unserer Evangelischen Kirche auf der Synode in der kommenden Woche. Anna-Nicole Heinrich, die Präses, hat zur Vorbereitung gebeten, sich genau dieser Frage zu stellen und
mit einer Sprachnachricht, nicht länger als eine Minute, auf die Frage zu antworten:
Woran glaubst du?
Eine Minute. Das ist vielleicht ein bisschen kurz. Aber lasst es uns versuchen. Nehmen wir uns eine Minute der Bedenkzeit. Woran glaube ich?
- Bedenkzeit -
Ich glaube, dass mein Leben nicht sinnlos ist. Dass nicht egal ist, was ich tue, wo und wie ich lebe. Ich glaube, dass ich mich vor Gott verantworten muss.
Ich glaube, dass Gott etwas Gutes mit mir vorhat. Ich glaube das für meine Kinder.
Und ich glaube, dass er größer ist als alles, was ich denken kann.

Eine Minute. Noch bin ich ganz bei mir. Noch habe ich die Welt nicht bedacht. Aber diese Minute ist eine bestärkende gewesen.
Ich habe keine Leere in mir vorgefunden. Gott sei Dank.
Wie mag es Ihnen ergangen sein? Wurde es heller? Hoffentlich.
Es ist November. In meinem Herzen regt sich Widerspruch.
Doch: es gibt viel Finsternis. Ich kann ihr nicht beikommen. Ich kann nur versuchen, mich tapfer zu halten. Ohne zu lügen.
Oder mit einem Gebet von Dorothee Sölle:
„Schaffe in mir gott ein neues herz / das alte folgt der gewohnheit
schaff mir neue augen / die alten sind behext vom erfolg
schaff mir neue ohren / die alten registrieren nur unglück …
eine neue zunge gib mir / statt der von angst geknebelten …
mein herz erstickt an der ohnmacht …
schaffe in mir gott ein neues herz
Und gib mir einen neuen geist
dass ich dich loben kann / ohne zu lügen
mit tränen in den augen / wenns denn sein muss
aber ohne zu lügen.“
Amen

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  Abraham und Lot

Abraham und Lot

Cornelia Götz, Dompredigerin - 29.10.2023

So zog Abraham herauf …
So.
So. Was vorher war, kompliziert oder einfach, freundlich oder schmerzhaft, gerecht oder ungerecht, wir wissen es nicht, es ist nicht mehr auseinander zu dröseln.
Wollten wir dabei anfangen, müssten wir weit zurückgehen, alle Energie in Vergangenes stecken.
Wollen oder können wir das nicht, geht es über die Kraft, dann ist es jetzt: so.
So ist es oft.
So ganz genau wissen wir nicht, was alles zusammenspielt, damit es jetzt so kommt.
Das gilt für Familiengeschichten und Liebesbeziehungen, das gilt für den Nahostkonflikt.
Wir kennen Wendepunkte, herausragende Ereignisse, haben eigene Erinnerungen und vor allem und immer: unsere je eigene Perspektive.
So ist es auch ist dieser Geschichte von Abraham und Lot.
Sie haben sie vorhin gehört.
„So zog Abraham herauf aus Ägypten mit seiner Frau und mit allem, was er hatte, und Lot mit ihm … Abraham war sehr reich an Vieh, Silber und Gold. Und er zog immer weiter … bis nach Bethel, wo zuerst sein Zelt war …, eben an den Ort, wo er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief er den Namen des Herrn an.“
So zieht er los, der Patriarch - mit allem was sein war, mit der Großfamilie und ordentlich Besitz, dorthin wo er Fundament und Grund hatte, wo seine Wurzel schon im Boden lag, wo er wusste, dass er Gottes Nähe erfahren würde.
Und Lot, sein Neffe, muss mit. Er wird fortgesogen von der Geschichte Abrahams mit Gott. Auch Lot hatte Schafe, Rinder und Zelte. Aber dass er sehr reich wäre, davon ist keine Rede. Er hat eben wie alle anderen auch versucht, auf die Füße zu kommen, sich materiell abzusichern.
Auch für ihn ist es aufwärts gegangen.
Nicht ganz so steil - aber immerhin.
Wachstum heißt das Zauberwort. Die Zukunft beginnt jetzt. Sie soll, wie Heribert Prantl gerade geschrieben hat, kein Drohwort sein. Also vorwärts. Den alten Männern hinterher.
Aber dann „konnte das Land es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten; denn ihre Habe war groß.“
Das Land konnte nicht immer mehr aus sich herauspumpen. Irgendwann war es erschöpft vom nimmersatten Bedarf der Reichen und Superreichen. Ausgelaugt und ausgepresst. Die Hirten kriegen sich an die Köpfe. Vermutlich bleibt bei ihnen nicht so viel hängen außer der Angst, wo das alles hinführen wird, wenn die Ressourcen knapper werden. Vielleicht hat Lot auch ein bisschen gestichelt, Neid geschürt.
Und dann gab es da ja auch noch andere, die leben wollen, Nahrung und Platz brauchten… - Kanaaniter und Perisiter oder wer immer sie sind.
„Da sprach Abraham zu Lot: Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten… Trenne dich doch von mir!“
So geht es nicht weiter. Ich finde, Du ziehst aus.
Wir können es hier nicht alle gut haben. Das musst du doch einsehen. Also geh!
So kann das klingen. Oder auch so: Lass uns expandieren, Außenstellen gründen, gucken, was woanders noch zu holen ist:
"Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.“
Und Lot taxiert die Gegend, rechnet sich seine Chancen aus und entscheidet sich für die Seite mit dem vielen Wasser, dem wertvollen Lebenselixier.
So trennen sie sich.
Der eine bleibt in Kanaan, der andere zieht Richtung Sodom. Kein gutes Omen.
Und Gott schweigt.
Schweigt er, wenn Zank und Streit eskalieren, Trennung angesagt ist?
Ich kann nicht hören, was dieser Text eröffnen will.

Aber:
Über diesem Sonntag heißt es: „Überwinde das Böse mit Gutem.“
Mithin: lies nichts Böses, wo nichts Böses steht. Vermute nicht zuerst das Häßliche, das Intrigante, das Destruktive. Geh nicht stets und ständig davon aus, dass du zu kurz kommen könntest. Wechsel die Perspektive.
Darum noch einmal:
„So zog Abraham herauf …“
Wieder einmal lässt er sich ein auf Veränderung, obwohl er alt war, müde vielleicht.
Wieder einmal gönnt er sich und den Seinen nicht, ihren Reichtum zu genießen.
Wieder einmal geht er zurück an den Ort, an dem er Gott vermutet - er will nicht seine Abwesenheit beklagen, sondern sich seiner Nähe vergewissern.
Die Fülle seines Lebens, Wachsen und Gedeihen sind aus Gottes Hand gekommen.
Er hat es nicht vergessen.
So geht er und alle gehen mit.
Auch Lot. Er vertraut dem Abraham, vielleicht sogar seinem Glauben.
Aber die Bibel erzählt keine Märchen. Es ist eine Geschichte in der wirklichen Welt, in der man nicht allein ist, in der andere neben und mit uns sind, in der es Konflikte gibt, schmerzhaften Streit, Verteilungskämpfe, die Notwendigkeit zu reagieren.
Es ist eine Geschichte, in der alle begreifen, dass es so nicht weitergeht.
„Denn das Land konnte es nicht ertragen.“
Es gibt keinen Frieden. Ohne Trennung wird es nicht gehen.
Abraham sieht das. Irgendwann weiß man es.
Er redet das Problem nicht klein. Er will es nicht mit Gewalt lösen. Er hofft, dass aus Bösem Gutes werden kann. Und so sagt er:
„Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten… Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.“
Vielleicht ist das der Kern dieser Geschichte:
Die Trennung ist ein Friedensangebot. Eine Möglichkeit, wie es weitergehen kann ohne Haß und ohne Verletzungen.
Die Trennung ist schwer. Sie ist nicht gerecht. Es gibt nicht für alle und alles gute Optionen.
Abraham sieht das. Er weiß, dass Frieden und Gerechtigkeit nicht möglich sind, wenn er zuerst seinen Vorteil sucht.
Und er hat nicht vergessen, Gott zu vertrauen, sich darauf zu verlassen, dass es auch dann weitergehen wird und gut werden kann, wenn er darauf verzichtet, sich das zu nehmen, was das üppigste sicherste Leben verspricht, seinen Wohlstand sichert.
Oder noch kühner:
Er wagt sich, Lot nicht zu vertreiben, sondern wählen zu lassen.
Er wagt sich, Gottes Verheißung mit ihm zu teilen!
Unglaublich!
Ob Lot das begreift?
Ob die Hirten das spüren?
Es wird nicht erzählt. Es muss erhofft werden.
Lot zieht weiter. Abraham bleibt zurück. Seine Lage ist nicht kritisch. Noch nicht - aber die Aussichten sind mager.
Da spricht Gott. Endlich.
„Hebe deine Augen auf uns sieh von dort wo du bist nach Norden, nach Süden, nach Osten, nach Westen.“
Schau hin. Und Abraham sieht sich um. Der neue Blick macht die Landschaft nicht grüner. Die Realität ist mühsam - in alle Richtungen. Das Glauben gegen den Augenschein ist schwer, auch für Abraham. Er weiß längst - mit Siegfried Lenz:
„Es trifft gewiss zu, dass die Hoffnung eine Gnade darstellt. Aber fraglos ist sie eine schwierige Gnade. … Wer sich ihr anheimgibt, ist keineswegs gegen alles gefeit. Die Hoffnung schützt vor keinem Pantherbiss. Aber sie lässt erkennen, wessen wir bedürfen, um bestehen zu können.“
Wessen.
Und während Abraham das noch denkt erneuert Gott seine Verheißung.
Das Land ist hell und weit.
So ist es.

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  18. S.n.Trinitatis

18. S.n.Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 09.10.2023

Eine der Gefahren des guten Leben scheint es zu sein, seine Kinder zu verwöhnen. Jedenfalls werden Eltern, die gut genug gestellt sind, über ihren Kindern das Füllhorn auszuschütten, gewarnt, denn das täte den Kindern ja bei aller Liebe nicht gut.
Später erwischt man sich dann manchmal doch bei dem Gedanken, ob die Lage jetzt vielleicht einfacher wäre, wenn man den Kindern nicht so oft - wie ein Freund mal sagte - den „Hintern hinterhergetragen hätte“. Und ist man halbwegs ehrlich, dann weiß man: es sind keineswegs nur die Kinder, die da gefährdet sind…
Mithin, wieviel Fürsorge braucht der Mensch? Wieviel Wohlstand kann er ertragen ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen?
Das scheint eine uralte Frage zu sein.
Am letzten Sonntag - mitten in der Pracht des Erntedankaltars - hatte Gott den Mose ausrichten lassen: „Wenn es Dir gut geht, wenn du reichlich zu essen und zu trinken hast, eine schöne Wohnung und Vorräte, dann hüte Dich, dass Du deinen Gott nicht vergisst“.
Hüte Dich!
Gottvergessenheit ist gefährlich!
Ich glaube nicht, dass das mehrheitsfähig ist.
Vielleicht können wir uns mit vielen Menschen darauf einigen, dass da hinter allem nicht nichts ist.
Vielleicht würde auch noch eine ganze Menge mitgehen, wenn wir sagen, dass Schöpfungsharmonie und Fügung unserer Lebenswege sich doch einem größeren Subjekt verdanken müssen.
Vielleicht würde sogar eine Mehrheit sagen, dass es unserer Welt und unserem Leben gut tut, eine Instanz zu denken, vor der wir uns rechtfertigen müssen, die uns ins Herz gesenkt hat, was gut und böse ist.
Aber einen Gott, der Regeln aufstellt, einen Gott, der ernstgenommen werden will, ohne den das gute Leben nicht funktioniert, den muss man bekennen, der ist nicht leicht verdaulich… - der passt nicht zwischen Achtsamkeit und Selbstbestimmung, den schiebt man lieber aus dem Bild, bis man ihn vergessen hat..
Aber: Hüte Dich!
Die Bibel arbeitet unentwegt gegen dieses gefährliche Vergessen an.
Sie erzählt, wiederholt und erinnert, dass Gott sich in unserem Leben erweist, dass er einen Bund mit uns geschlossen hat, dass er sich verpflichtet hat, uns nicht zu vergessen und sich selbst auch nicht - dass er für uns durch den Tod gegangen ist
Und die Bibel erzählt davon, dass wir Menschen immer wieder dabei sind, die Orientierung zu verlieren, das Maß sowieso, dass wir bestenfalls wie der reiche Jüngling traurig davon gehen, weil Reichtum und Nachfolge nicht zusammenpassen…
Dabei hat Gott - nachdem die Menschen durch ihre Habgier (sie mussten eben auch noch den einen Apfel, der nicht für sie bestimmt war) das Paradies verspielt hatten - längst Rahmen gegeben und Fundament gelegt, wie es gut gehen kann. Unter uns. In echt.
Sie haben es vorhin gehört. Der Predigttext berichtet von dem Moment, als Gott die zehn Gebote ansagt. Der Text schert sich nicht darum, ob in anderen Kulturen nebenan Ähnliches galt und dort keineswegs vom Himmel gefallen war - im Gegenteil: unsere Geschichte betont die Gottgegebenheit. Sie ist gut gegen Gottvergessenheit, gut für uns.
Bei den zehn Geboten gilt das erst recht.
Darum kommen sie direkt von oben.
Sie sind nicht verhandelbar.
Sie sind dringend:
Das Volk Israel war auf dem Weg in die Freiheit, ins verheißene Land. Es hatte Knechtschaft und Unterdrückung hinter sich gelassen, Gott ging mit, sichtbar bei Tag und bei Nacht, es gab Manna und Wachteln. Jeden Tag frisch. Fast schien es als verwöhnte Gott seine Menschen: Das Füllhorn wurde verlässlich ausgeschüttet, die Rettung war zur Selbstverständlichkeit geworden.
Man begann zu glauben: das steht uns doch zu.
Ein gefährlicher Moment.
Hüte dich jetzt, Gott nicht zu vergessen.
Darum rief Gott nachdem er sie alle an den Fuß des Berges Sinai geführt hatte, Mose zu sich und fragte ihn: Werdet ihr denn nun, da es euch gut geht, auf mich hören? Ich möchte, dass ihr ein heiliges Volk seid, herzensrein und ohne Zweifel an mir. Darum bereitet euch vor, wascht euch und versammelt euch!
Das klingt fast wie ein Heiligabendritual: alles wird nochmal geputzt und geschmückt, dann baden wir uns, ziehen frische Sachen an und schließlich geht es zur Christvesper und dann stehen wir an der Krippe und singen was?
„Eins aber hoff ich, wirst du mir, / mein Heiland nicht versagen: / dass ich dich möge für und für / in, bei und an mir tragen: / So lass mich doch dein Kripplein sein / komm, komm und lege bei mir ein / Dich und all deine Freuden.“
Dieses eine hoffen wir!
Denn dann könnte es gelingen. Weihnachten ist Gottes radikalster Versuch, uns so nah zu sein, dass wir ihn nicht vergessen:
Er zieht einfach bei uns ein.
In der Mosegeschichte versucht Gott es anders: Dort lässt er überhaupt keine Nähe zu. Er zieht eine Grenze und verbietet, sie zu überschreiten. Er inszeniert ein so gewaltiges Schauspiel, dass es allen in Mark und Bein fahren muss und eigentlich niemand, der dabei war, je vergessen kann. Der Sinai raucht und bebt, es blitzt und donnert, Posaunen dröhnen und dann sagt Gott:
„Ich bin der Herr, dein Gott, Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst dir kein Bildnis machen
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen;
Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der
Tag des Herrn.
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren…
Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden.
Du sollst nicht begehren, was dein Nächster hat.“
Du sollst.
Nicht. Es wäre schön. Es könnte gut für dich sein.
Sondern: Du sollst.
Du sollst zu allererst deinen Gott nicht vergessen, du sollst ihn nicht durch etwas anderes ersetzen, egal wie bedeutsam es dir erscheint, du sollst dich nicht selbst zu Gott machen.
Du sollst Dir kein Bild machen, Gott nicht im Mund führen, wenn du ihn nicht meinst - du sollst ihn nicht handhabbar machen und ihn so auf deinen kleinen Horizont beschränken.
Du sollst deine Eltern ehren - ohne die, die vor uns waren, wäre keiner hier, wäre niemand geboren und groß geworden. Glaub nicht, dass Du bist die Du bist, wäre dein Verdienst.
Töte nicht, gar nicht, auch nicht indirekt.
Sei treu. Nimm dir nicht, was dir nicht zusteht, was dir nicht gehört. Bleib bei der Wahrheit. Sei nicht neidisch, gierig. Vergleiche dich nicht immerzu.
Die Menschen, die das hören, die ersten Adressaten, fürchten sich vor der knappen Wucht dieser zehn Regeln und wie daher kommen. Sie bitten Mose, der möge doch reden und ihnen Gottes direkte Inanspruchnahme ersparen.
Aber Mose sagt nur „fürchtet Euch nicht“.
Fürchtet Euch nicht. Gott will euch nicht zerschmettern. Aber der Weg in die Freiheit ist kein Automatismus - ohne diese Gebote kommen wir dort nicht an. Ohne diese Regeln werden wir den Freiheitsbegriff verbiegen und missbrauchen. Ohne diese Regeln geht es nicht gut unter uns.
Reiner Haseloff, Ministerpräsident in Sachsen Anhalt hielt hier im Dom vor einigen Jahren eine
Festrede mit einer schlichten These: wenn wir uns alle, jede und jeder an die zehn Gebote hielten und das Einmaleins beherrschten, dann müsste es gut gehen.

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  15. S. nach trinitatis

15. S. nach trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 17.09.2023

Kees de Kort, ein niederländischer Künstler, ist berühmt geworden durch seine Bibelillustrationen. Die Neukircher Kinder- und Erzählbibeln sind ohne seine Bilder nicht vorstellbar. Und so finden sich selbstverständlich auch welche zur Geschichte Abrahams.
Eines zeigt ihn als alten Mann mit schlohweißem Bart und einem langen orientalischen Gewand in warmen bunten Farben. Er sieht aus wie ein Großvater, der wie die Großmutter auf dem Titelbild des Hamburger- Zigarettenbilder-Märchenbuches von einer großen Schar Kinder umringt die Geschichte seines Lebens erzählen könnte, seine Geschichte mit Gott.
Aber dieser Abraham ist mutterseelenallein.
Er steht unter dem weiten Sternenhimmel, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen weit aufgerissen, die Hände auf dem Rücken.
Er steht da auf brauner Erde ohne Baum und Strauch.
Fast 100 Jahre alt.
Ein langes Leben liegt hinter ihm. Auf Gottes Aufforderung hin hatte er seine Heimat verlassen und war in die Fremde gezogen. Er hatte gekämpft und Bündnisse geschlossen; Ratschläge gegeben. Er hatte eine Hungersnot überstanden und war wieder losgezogen. Sara, seine Frau, war an seiner Seite geblieben. Manchmal hatte ihre Schönheit ihm Probleme bereitet. Ob sie bei glücklich mit ihm war?
Gott hatte ihm Land und Kinder verheißen, immer wieder und er, Abraham, hatte darauf vertraut. So war er ein reicher Mann geworden.
Jetzt, am Ende des Weges, hatte Gott noch einmal mit ihm geredet.
Sein Wort kam zu Abraham in einer Erscheinung, einer Vision, einer Offenbarung. Nicht einfach so als Stimme. Nur Abrahams weiß, wie das war. Er zweifelte nicht, dass es Gott ist, der spricht.
Den Seinen gegenüber hatte er sich nie gerechtfertigt, dass tat, was immer Gott ihm zumutete - er glaubte eben.
Ist die Bibel doch ein Märchenbuch?
Oder gibt es auch in unserer Welt Nächte, in denen Gott spricht?
Was wäre, wenn die, die Verantwortung tragen, die schwere Entscheidungen abwägen müssen, die die Sorge aus dem Bett und in die Nacht treibt selbstverständlich darauf vertrauten, dass Gott ihnen an den Wegkreuzungen des Lebens die Richtung zeigt und dann dort hingingen?
Warum ist es so schwer vorstellbar, dass Minister oder Generäle, Lehrer oder Eltern ihre Entscheidungen auf nächtliche Ansagen Gottes zu gründen?
Tun wir das?
Oder andersherum: hat es seinen Grund, dass solche Begebenheiten Nachtgeschichten sind? Geht es am Ende nicht um Außenwahrnehmung, Reichweite und Rechtfertigung, sondern um Gottes Geschichte mit mir, meine Beziehung zu ihm, meinen Glauben und mein Vertrauen in ihn.
Gehört das vielleicht gar nicht an die große Glocke?
Von Abrahams Zwiesprache wissen wir jedenfalls. Er muss davon erzählt haben. Und jemand hat es ernstgenommen und weitererzählt, so dass wir jetzt lesen und hören können, dass Gott zu Abraham sprach: "Fürchte dich nicht, Abraham!“
Ein merkwürdiger Gesprächseinstieg.
Wovor hätte Abraham sich fürchten sollen? Er war alt und hatte so viel erlebt. Er wusste, dass der Abend seines Lebens längst angebrochen war.
Ich habe das in den letzten Jahren auch manchmal erlebt: die Furchtlosigkeit der Alten. Während der Coronapandemie haben wir Hilfe angeboten und immer wieder gehört: sorgt Euch um die Jungen; wir kommen schon durch, wir haben schon Schwereres erlebt und unser Leben ist hinter uns. Wir fürchten uns nicht.
Das wird Gott wissen.
Und vielleicht freut es ihn, wenn seine Menschen am Ende des Lebens verstehen, dass für sie offensichtlich gesorgt war. Tag für Tag. Abraham wusste jedenfalls, wem er das Gute in seinem Leben zu verdanken hatte.
Eine andere Bilanz braucht es nicht.
Und doch sagt Gott jetzt - nach allem was war.
„Ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn.“
Vielleicht hört Abraham: Ich bin dein Schild. Ich sorge dafür, dass Du nicht verletzt wirst - dass niemand deine Haut aufreißen, deine Seele treten, deine Knochen brechen kann. Unter dem Schatten meiner Flügel bist Du sicher. Du kannst getrost auf die letzte Reise gehen.
Die letzte Sorge hat Gott auch gesehen - die vor dem Sterben, dem Loslassen, dem Nichts…
Aber warum spricht er von einem Lohn?
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen.
Gott hat Abraham beschützt. Und er hat ihn belohnt. Was sollte da noch ausstehen?
Abraham könnte sich wundern oder bedanken. Aber das tut er nicht. Er sagt:
„Herr, was willst du mir geben? Ich gehe dahin ohne Kinder und mein Knecht Eliëser von Damaskus wird mein Haus besitzen.“
Ich brauche nichts. Nach mir geht es nicht weiter. Meine Spuren werden sich verlieren. Ich werde wieder zu Staub. Es wäre schön gewesen, wenn ich etwas hätte weitergeben können von der Fülle meines Lebens. Aber so wird es nicht sein.
Es ist schon recht.
Wir Menschen vergehen.
Es hat wehgetan, sich damit abzufinden müssen, das Ende einer langen Kette zu sein.
Es hat geschmerzt kinderlos bleiben zu müssen.
Es war nicht einfach, ein Familienunternehmen an Fremde abzugeben, weil es keinen Nachfolger gibt aber besser als es den Bach runtergehen zu sehen.
Abraham war mit menschlichen Grenzen, der eigenen Endlichkeit konfrontiert worden. Aber er beklagte sich nicht, obwohl Gott sein Versprechen nicht vollständig gehalten hatte.
Das war sein Leben. Und es war gut. Es ist genug.
Doch Gottes Geschichte mit Abraham ist noch nicht zuende. Seine Verheißungen sind keine leere Rede. Zukunft und Hoffnung liegen bei ihm.
Und so sagt er:
„Der von deinem Leibe kommen wird, der soll dein Erbe sein.“
Sara wird lachen als sie das hört. Sie ist zu alt für solche Geschichten.
Abraham lacht nicht. Gottes Möglichkeiten und unsere Wahrscheinlichkeiten folgen nicht derselben Logik. Das weiß er längst. Darum hört er zu und glaubt und vertraut. Gott schickt ihn nach draußen und sagt: „Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? So zahlreich sollen deine Nachkommen sein!“
Und Abraham geht hinaus.
Die Grenzen seiner Wirklichkeit haben sich verschoben.
Das Sorgen vergangener Zeit ist nicht ungehört verhallt.
Nun steht er unterm Sternenzelt und schaut und staunt.
Es ist anders gekommen als er dachte. Es ist berückend schön.
Manche Sterne scheinen heller als andere. Ich hab gelesen, es gäbe 70 Trilliarden Sterne, also eine 70 mit 21 Nullen. „Zähl sie! Kannst Du das?“ fragt Gott.
Warum nicht? Es ist nicht unmöglich. Nicht bei Gott…




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  8. Sonntag n. Trinitatis

8. Sonntag n. Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 30.07.2023

Neulich fing mich ein junger Mann nach dem Gottesdienst ab und sagte, er wisse nicht, wie er die Bibel lesen soll, weil in diesem Buch Menschen durcheinander reden und schrieben und dass es das doch nicht sein könne.
Wo könne er denn finden, was Gott sagt?
Immer wieder, überall. Gott in Träumen, durch Engel und Propheten oder …
Die Ratlosigkeit in seinem Gesicht wurde größer.
Dann fang bei den Evangelien an, habe ich also geraten.
Das wolle er tun, sagte er und vielleicht ist er jetzt bei der Stelle im Matthäusevangelium angekommen, bei der wir auch gerade sind - der berühmten Bergpredigt und den uralten Bildern von Salz und Licht. Wir haben davon im Evangelium gehört.
Wer immer diese Texte liest oder hört - und für solches immer wieder sind sie ja gedacht - wird irgendwie dazugehören, denn sie gehen an „das Volk“. Alle waren da und warteten auf Jesu Worte.
Ich stelle mir unseren Gottsucher vor, wie er da zwischen diesen vielen Menschen auf der Erde sitzt und spürt, dass sie wie er existentielle Fragen haben, dass sie sich sorgen, dass sie eine Welt erleben, deren Mechanismen sie unruhig machen.
Es gibt zahllose Gründe, zu verzweifeln. Wo kommt uns da Hoffnung her?
Und er sieht: Die da auf Jesu Worte warten, sind so verschieden wie wir auch - unterschiedlich begütert und begabt, gesund und krank, von Unheil verschont oder hart am Wind des Lebens.
Und Jesus, der den Menschen, die sich da versammelt haben, so ähnlich sieht, dessen Familie zu diesem Volk gehört, der kommt tatsächlich. Aber er begibt sich nicht in die Mitte der Menge sondern geht auf einen Berg.
Das macht er immer wieder, wie auch Mose und die vor ihm auf Bergen waren, wenn es wichtig wurde oder sie Gott, dem Vater so nah kommen wollten wie es mit Menschenbeinen nur irgend geht.
Jetzt allerdings könnte man auch denken, die Menge sei ihm zu viel oder sucht er sich nur eine erhöhte Position, von dem aus er gut gehört wird?
Eher nicht. Denn Matthäus erzählt: Jesus setzt sich.
Dass ist nicht die Position, in der man am besten laut sprechen kann.
Wenn er das trotzdem tut, dann weil er dem Moment eine besondere Würde geben kann.
In der Antike saßen Richter, Herrscher und Lehrer.
Jesus Christus ist das alles.
Darum hat der Theologe Klaus Wengst das, was Jesus Christus jetzt auf diesem erhöhten Platz, zu denen um sich herum und zu den Vielen weiter weg, sagt, ein „Regierungsprogramm“ genannt. Ein Regierungsprogramm seines Reiches.
Er tut das mit der Autorität dessen, dem Matthäus zuletzt in den Mund legt: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden.“
Darum gilt das, was er zu sagen hat im konkreten Moment und für alle Zeit.
Es ist eine Ansage, wie es den Menschen ergehen wird, was sich in seinem Reich für wen ändern wird.
Und er hebt an: Selig, glücklich, ja richtiggehend zu beglückwünschen sind die Bettelarmen und die, die weinen und klagen. Nicht weil weil sie hungrig und traurig sind, sondern weil sie das nicht bleiben werden.
Glücklich sind die Sanften, die Gewaltfreien oder wie ich in einer anderen Übersetzung gelesen habe: die Niedergebeugten, die doch nicht verhärtet sind. Ihnen wird das Land gehören. Sie werden wirklich Boden unter den Füßen haben.
Glücklich, die die Wirklichkeit dieser Welt sehen können und sich deshalb nach Gerechtigkeit sehnen, sie werden in Gottes Reich nicht enttäuscht werden, sondern vielmehr beglückt erleben, dass Barmherzigkeit denen widerfährt, die sich erbarmen.
Glücklich die reinen Herzens sind, die Aufrichtigen und auch die die Frieden fertigen, die ihn zu machen versuchen, sie werden nicht die Dummen sein über die die Schlauen lächeln, sondern ausgerechnet sie werden Gott schauen. Den durfte nicht einmal Mose sehen. Der durfte Gott nur hinterhersehen…
Es muss ein unglaublicher irgendwie auch verblüffender Moment gewesen sein.
Wenn ein Politiker heute so reden, sein Programm so verkaufen würde, dann würde man ihn anzählen, weil er nicht sagt, wie er das denn hinkriegen will und was es kosten wird, weil er vertröstet auf irgendwann.
Hier klingt es anders!
Zu anders?
So wie es klingt, kann es bitter machen und ist missbraucht worden: Halte nur durch, im Himmel wird es gut. Das kannst Du ertragen, im Himmel bekommst Du Deinen Lohn.
Wenn die oben sowas sagen, ist Gefahr in Verzug, wird Ungerechtigkeit zementiert, die Wahrheit gebeugt …
Jesus ist dessen nicht verdächtig. Er hat die Nähe derer unten gesucht. Er spricht nicht von Kosten und Gesetzen, von Steuern oder Subventionen, sondern davon mit wem er sein Programm umsetzen will und sagt:
Ihr, die ihr die Glücklichen seid, weil es gut werden wird, „ihr seid das Salz der Erde.“
Ihr seid nicht die, die warten müssen auf das Jenseits.
Vielmehr wird diese Welt durch euch genießbar, denn ohne Salz ist alles fade.
Durch euch kann diese Erde bewahrt werden, denn Salz macht haltbar.
Aber auch: Ihr seid nicht das Mehl - die vielen, ihr seid nicht die Butter, die die Mechanismen dieser Welt schmiert, ihr seid nicht der Zucker, der das was ist, versüßt.
Ihr seid das Salz.
Und wenn es Not tut, dann seid Ihr auch das Salz, das dann und wann in die Wunden gerieben werden muss, damit der Durst nach Gerechtigkeit, der Mut zur Gewaltlosigkeit , die Sehnsucht derer die den Frieden fertigen, nicht verlorengeht.
Ihr seid, wir sind, mithin unentbehrlich, es sei denn dass „das Salz nicht mehr salzt…“
Das ist eine merkwürdige Zeile. Salz kann nicht fade werden. Es ist eine absolut stabile chemische Verbindung - angeblich nennen Chemiker sowas einen „toten Hund“. Dass Salz immer salzt, wusste man auch zu Jesu Zeiten.
Vielleicht will Jesus Christus also sagen: es ist absolut ausgeschlossen, dass die Erde euch nicht mehr braucht, es sei denn ihr verliert euch, vergesst, was ich sage.
Und dann geht er noch einen Schritt weiter:
„Ihr seid das Licht der Welt.“
Damit es hell wird, damit man sich orientieren kann, damit die Wahrheit nicht im Dunkeln bleibt . Ihr, die ihr glücklich seid, weil Ihr wisst, dass es anders werden wird und festen Boden unter den Füßen habt, ihr könnt euch das trauen: Licht in die Dunkelheit zu bringen, hinzusehen, beim Namen zu nennen, ein Licht ins Fenster zu stellen und gastfreundlich zu sein.
Ihr seid es!
Alles klar lieber Gottsucher?
Er wird merken:
Noch immer wissen wir nicht wie es geht.
Noch immer klingt das Programm Jesu nach etwas Unmöglichen.
Darum sind die letzten Worte dieser Rede keine bloße Schlussformel.
Sie sind das, was wir tun können.
Unbeeindruckt und unerschütterlich, nämlich: Gott loben.
Denn mit einer anderen Gottsucherin: „Vergesst das Beste nicht. … Ich wünsche mir, dass Ihr ein bisschen fromm werdet. Ich meine damit, dass Ihr Gott manchmal lobt, nicht immer – das tun nur Schwätzer und Höflinge Gottes – aber doch manchmal, wenn Ihr glücklich seid, so dass das Glück ganz von selbst in die Dankbarkeit fließt… „


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  7. Sonntag nach Trinitatis

7. Sonntag nach Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 23.07.2023

Wir sind ein paar Wochen nach Pfingsten, in der Trinitatiszeit - also dem kirchenjahreszeitlichen Sommerloch.
Es ist manchmal schon beängstigend still in Kirchen und Gemeindehäusern …
Das kann einen anfechten. Erleben wir einen Verfallsprozess?
Ich erinnere mich an einen Text, den ich im Frühjahr auf meinen Matrialhaufen gelegt habe: Tobias Haberl schrieb Ende März in der Süddeutschen Zeitung:
„Diesen Text traue ich mich nur zu schreiben, weil ihn sowieso niemand liest. Ist doch heute so, dass man weghört, wenn es um Glauben oder noch schlimmer, um Kirche geht…“
Es folgt ein leidenschaftlichen Antwortversuch auf die Gretchenfrage:
„Wie hältst Du es mit der Religion, dem Glauben?“
Was bedeutet Christsein oder gar Kirche für Dich?
Wenn ich das frage - in einem Tauf- oder Traugespräch zum Beispiel - höre ich oft etwas in der Art: „Christliche Werte teile ich, aber Kirche als Institution brauche ich nicht, da gehöre ich nur noch um dem Papier dazu“ oder „Ich brauche keine Gemeinschaft, um zu beten oder an Gott zu glauben.“
Wir heute Morgen gehören zu den 3% aller Kirchenmitglieder, die unterm Jahr in einen Gottesdienst gehen. Das sind noch immer eine ganze Menge (angeblich mehr als aufs Stadion gehen) - aber irgendwie vergleicht man dabei wahrscheinlich doch Äpfel mit Birnen, denn unter den Fußballfans gehen wiederum sehr viel mehr als 3% aufs Stadion.
Der Gottesdienst ist offenbar nicht das Zentrum kirchlichen Lebens.
Gern folgt dann der Schluss: früher war alles besser oder gehörten Kirche wenigstens selbstverständlich zum Leben dazu.
Das meint Tobias Haberl auch:
Dass es Menschen geben könnte, die nicht an Gott glauben, konnte er sich in seiner Kindheit gar nicht vorstellen. Vielmehr: „Ich traf meine Kumpels nicht nur, aber auch in der Kirche, mein bester Freund kam jeden Sonntag um zwei vor zehn mit seinem Mountainbike auf den Kirchplatz geradelt, nicht um Gott, sondern um meiner Cousine zu huldigen, aber davon rede ich ja: Das schönste Mädchen der Stadt saß eben auch in der Kirche.“
Wunderbar!
Aber auch: wer weiß, ob man mit dieser Art Volkskirche näher dran war am Reich Gottes?
War man das je?
Von den allerersten Christen haben wir aus der Apostelgeschichte gehört und dort scheint es doch anders gewesen zu sein:
„Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage waren es etwa dreitausend Menschen. Sie blieben aber beständig in der Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. … Und alle waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel …“
Und die Gemeinde wuchs.
Denn „der Herr fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.“
Was passierte da? Oder genauer: was gelang da?
Lukas erzählt von Menschen, die eben das Pfingstwunder erlebt hatten - einen Begeisterungssturm, den Außenstehende sich nur mit Alkohol erklären konnten. Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, predigte Petrus und erklärte, was gerade passiert war. Danach hatte es ein riesiges Tauffest mit 3000 Menschen gegeben.
Kirchentagsstimmung also, nicht Alltag in der Welt.
In Letzterem müssen die eben Getauften erstmal ankommen. Es bedarf der Einübung und des sich Einfindens in etwas, das Gemeinde werden wird. Was wir hören, ist also eine Art „Gemeindeaufbauprogramm“ der ersten Stunden. Sie lernen, feiern Abendmahl, beten.
So machen wir es auch. Immer noch.
Aber damals scheint man einmütiger - also vermutlich zufriedener gewesen zu sein.
Aber damals ging es radikal zu: denn sie verkauften alles und lebten zusammen, sie schauten, was einer nötig hatte - und trauten sich, nicht gerecht zu sein oder mit der Gießkanne alle gleich und darum falsch zu behandeln. Vielleicht gab es noch kein oben und unten. Vielleicht gab es auch nicht so viel eigenen Besitz. Es ist ja eine merkwürdige Logik - aber wenn Arme teilen haben sie mehr, wenn Reiche teilen, haben sie weniger…
In jedem Falle wurde der Weg in diese Gemeinschaft als Rettung erlebt.
Davon sind wir wirklich weit weg.
Das wagen wir uns auch nicht .
Oder ehrlicher: das wollen wir nicht.
Wir schätzen unser eigenes selbstbestimmtes Leben. Wir bleiben lieber nicht immer beieinander, wir teilen auch nicht unser sämtliches Hab und Gut.
Andere mögen das probieren, lebenslang in klösterlicher Gemeinschaft oder projektweise auf Freizeiten.
Wir haben viel zu verlieren.
Wir fürchten die Idee der radikalen Vergemeinschaftung.
Sie hat zwar immer wieder Anhänger gefunden - weil sie die destruktive Gier kritisiert. Aber sie ist auch genauso oft bitter gescheitert.
Trotzdem sollen wir zur Kenntnis nehmen:
Christlicher Glaube ist nicht nur eine spirituelle Übung sondern braucht Sozialformen. Und umgekehrt gilt: Kirche ist kein Dienstleistungs- oder Kulturbetrieb, sondern die „Gemeinschaft der Heiligen“.
Noch einmal Tobias Haberl:
„Viele verwechseln die Kirche mit einem Sozialverein und sind ganz verdutzt, wenn man ihnen erklärt, dass es auch schon darum geht, bedürftigen Menschen zu helfen, aber in erster Linie darum, Christus zu vergegenwärtigen. Es ist, als wäre man sich zum Tennisspielen verabredet, und das Gegenüber erscheint mit Schwimmflossen…“
Und darum, so könnte man lakonisch schließen, geht es der Kirche auch nicht gut.
Darum - und da haben wir den großen Glaubwürdigkeitsverlust nach den Missbrauchsskandalen noch nicht mal angerührt - wackeln die riesigen Apparate und dünnen die Strukturen aus.
Darum gehen wir falsch ausgerüstet daran, am Reich Gottes mitbauend zu wollen - mit Schwimmflossen… (schönes Bild, wenn man an die Menschenfischer denkt :-).

Aber!
Ich hoffe, in Ihnen ist das „aber“ inzwischen auch laut und stark geworden:
Aber!
Aber geht es denn überhaupt darum?
Lukas erzählt ja keineswegs von einer unangefochtenen satten Mehrheitskirche, sondern von „Furcht von allen Seiten und vielen Wundern.“
Daran hat sich nichts geändert.
Wir sind hier und keiner muss das. Wir sind hier, weil wir merken, dass uns diese geteilte Zeit unter Gottes Augen leben hilft. Wir können unser Angst und Sorgen loswerden. Wir wissen, dass es andere gibt, die froh sind, das wir hier sind und für sie beten, dass die Glocken läuten und Orgel spielt - und sie wissen, dass sie kommen könnten.
Es ist ein Wunder, da sein zu dürfen und unter Gottes Segen weiter ziehen zu können. Trotz allem. Und es tut Not und gut in dieser Zeit, denn - ein letztes Mal Tobias Haberl:
„Wie mutig muss man sein, ohne Hoffnung auf Erlösung durch eine Welt zu gehen, die auf permanente Steigerung angelegt ist? Wie tapfer, wenn man die Angst, über die niemand spricht, die aber doch jeder kennt, nicht lindern kann, in dem an einen Psalm vor sich hinmurmelt … Ich könnte das nicht, so stark bin ich nicht. Und dann spüre ich, … dass es eigentlich niemand ist, dass unsere Fixierung auf Rationalität und Technologie eine schmerzhafte Lücke aufweist, weil Google jede Frage beantworten kann - nur nicht wozu wir leben und was uns Halt gibt.“


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  5. Sonntag nach Trinitatis

5. Sonntag nach Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 09.07.2023

Das Johannesevangelium ist anders.
Es beginnt nicht mit der Geburt Jesu oder seinem Stammbaum, sondern wagt einen ganz neuen Aufschlag.
„Am Anfang war das Wort.“
Darum erzählt es sofort von Menschen, die dem erwachsenen Jesus begegnen.
Johannes war der erste Theologe. Er wollte nicht nur erzählen, sondern verstehen.
Antworten wagen.
Und so lässt er seinen Jesus mit einer Frage beginnen. Das sind Jesu erste Worte.
„Was sucht Ihr?“
Wir werden gleich auf diese Frage zurückkommen. Aber vorher springt mich an:
Das gab es schon einmal: Im ersten Buch Mose stellt Gott vor allem anderen eine Frage - vor allen anderen Worten, die ordnen, mahnen, segnen, Lebensweisen werden sollen, fragt er den Adam: „Wo bist Du“?
Was ist dein Ort, dein Standpunkt, dein Koordinatensystem? Wofür stehst Du ein?
Als Adam diese Frage erreichte, hielt er sich versteckt - weil er ein schlechtes Gewissen hatte und sich schämte. Gerade eben hatte er ja den verbotenen Apfel gegessen und seine Nacktheit entdeckt.
Gott weiß das. Er könnte es gleich sein lassen mit diesen Menschen. Aber er ruft ihn aus seinem Versteck, seinem schlechten Gewissen heraus, nimmt ihn ernst und macht ihn so zum Gegenüber: zeig Dich und erkläre Dich, Mensch! Ich will etwas von Dir.
Jetzt, das ganze Alte Testament später - nach allem was war - nach dem Brudermord und der Sintflut, nach den Geschichten der Väter Abrahm, Isaak, Jakob und Josef, nach den harten Jahren in Ägypten unter dem Pharao und der generationenlangen Wanderung durch die Wüste in das verheißene Land, nach Aufschwung und Deportation, Blütezeit und Zerstörung, nach zahllosen Ansagen durch die Münder der Propheten - macht Gott noch einen letzten Versuch mit uns. Noch einmal will er uns herausrufen, in Bewegung bringen:
Er schickt seinen Sohn.
Er schickt sich selbst in das direkte Gegenüber zu seinen Menschen.
Und wieder stellt er - vor allem anderen - eine Frage:
„Was suchst Du? Was sucht Ihr?“
Was suchen wir?
Ist das womöglich die Frage aller Fragen?
Stellt sich diese Frage nicht jedem auch wenn sich nicht jede dem lebenslangen Fragen stellt? Im Grunde sind wir immer auf der Suche. Wir suchen nach Sinn und Wahrheit, nach Glück und Frieden, nach Gerechtigkeit. Wir suchen nach dem Ich und einem Du. Wir fragen nach dem Warum und Wozu, dem Woher und Wohin…
Das treibt uns vorwärts, macht uns wahnsinnig.
Und auch: In all diesen Fragen steckt Sehnsucht.
In all dem steckt zuletzt auch die Suche nach Gott.
Vielleicht trauen wir uns das nicht zu sagen, womöglich nicht einmal zu denken - aber Jesus Christus stößt uns darauf. Denn seine ersten Worte an Menschen, die ihm nachgehen, die sich interessieren, heißen nicht etwa: „was willst Du oder was brauchst Du?“ Er fragt auch nicht: „wer bist Du?“ - sondern: „was suchst Du?“
Es geht nicht um Status, sondern um Bewegung.
Diese Frage öffnet unser Leben und Sehen, Hören und Tun für einen größeren Horizont.
Sie wirft uns nicht auf uns selbst zurück, auf Nabelschau und eigene Kreise.
Sie zwingt, den Blick zu heben.
Sie will, dass wir herausfinden aus dem, wie es ist.
„Was suchst Du?“
Die beiden Männer, denen diese Frage gilt, waren bisher mit Johannes, dem Täufer unterwegs und hatten durch ihn verstanden, dass noch ein anderer kommen wird, dass Anderes, Größeres möglich ist, weichen aus.
Erstaunlich eigentlich.
Es sind doch Menschen, die sich schon auf den Weg gemacht haben. Können sie ihre Frage noch immer nicht präzisieren?
Haben sie noch immer keine Ahnung, worauf Jesus Christus die Antwort sein könnte?
Sie fragen zurück:
„Wo ist deine Herberge? Wo wirst Du bleiben?“
Und in dieser Frage liegt vielleicht doch ein Hinweis: Wir suchen den Ort oder die Gelegenheit, dir nah sein zu können oder doch wenigstens zu wissen, wo wir dich antreffen können.
Jetzt dreht sich die uralte Geschichte rum.
Jetzt fragen die Menschen Gott: „Wo ist dein Ort?“
Es ist fast ein Flehen: Versteck Dich nicht vor uns! Entzieh dich nicht! Schick uns nicht weg! Gönn uns deine Gegenwart!
Adam hatte auf diese Frage geschwiegen.
Es ist eine der schmerzhaften Leerstellen menschlicher Geschichte.
Aber Gott antwortet, wenn wir fragen.
Er antwortet mit einer Einladung:
„Kommt und seht!“
Und sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm.“
Es scheint ganz leicht zu sein.
Gefundenwerden.
Merken, hier ist es gut. Hier kann ich sein. Hier kann ich Ich in meiner besten Version sein. In diesem unglaublich knappen Gespräch liegt schon das ganze Muster.
Es ist ein Geschenk.
Gott schenkt Begegnung.
Und die Menschen beginnen zu finden.
Das wird das Hauptverb der nächsten Verse:
„Andreas findet Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden … am nächsten Tag … finden sie Philippus und Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben.“
Sie finden sich und einander. Sie beginnen zu teilen.
Die Freude an ihrer Gottesbegegnung!
Die Hoffnung darauf, dass aus dieser Begegnung etwas wachsen kann, was das Leben in eine gute Richtung bringt.
Die Zuversicht, dass es ein Fundament in aller Ungewissheit und Angst des Lebens geben kann, dass Trost und Wahrheit, Frieden und Gerechtigkeit möglich sind.
Das Suchen bekommt eine Antwort.
Der Horizont wird auf schier unglaubliche Weise geweitet.
Denn Jesus Christus schließt:
„Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren.“
Jakob hat dieses Bild im Traum gesehen - als er in der Wüste lag und von der Himmelsleiter träumte. Er war auf Flucht, mit einem Stein unter dem Kopf, in einer Situation, in der man sich nur verkriechen will.
Auf die Frage „Wo bist Du“ hätte er beschämt wie Adam schweigen müssen.
Er hatte seinen Bruder betrogen und seinen Vater belogen.
Er hatte seinen Vorteil gesucht. Er wollte der Erste sein…
Er hat nicht mehr nach Gott gefragt.
Der findet ihn trotzdem.
Und wendet seine Geschichte in Segen.

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  Übergabe Nagelkreuz

Übergabe Nagelkreuz

Dean John Witcombe - 30.05.2023

Ich freue mich, hier bei Ihnen in Braunschweig zu sein. Ich hatte das Ver-gnügen, einige von Ihnen im Oktober letzten Jahres in Coventry zu treffen, und es ist mir eine Ehre, jetzt mit Ihnen in Ihrer eigenen Kathedrale zusam-men zu sein, während wir diese neue Etappe auf unserer gemeinsamen Reise auf dem Weg des Friedensstiftens und der Versöhnung feiern. Wenn wir uns in Kathedralen wie der unseren versammeln, mit all dem Raum und der Symbolik, der schönen Musik und unserem Platz im Herzen der Stadt-gesellschaft, haben wir die Möglichkeit, nicht nur unsere Kirchengemeinden aufzubauen, sondern auch dazu beizutragen, unsere Städte zu verwandeln in Orte des Friedens und der Hoffnung für alle. Wie Sie wissen, sind unsere drei Prioritäten auf dem Weg der Friedensstiftung in der Nagelkreuzge-meinschaft die Heilung der Wunden der Geschichte, das Lernen, mit Un-terschieden zu leben und die Vielfalt zu feiern und der Aufbau einer Kultur der Gerechtigkeit und des Friedens. Wenn wir alle Menschen in unseren majestätischen Gebäuden gleichermaßen und uneingeschränkt willkom-men heißen, setzen wir diese drei Prioritäten in die Praxis um und helfen allen, sich nicht nur in der Kirche, sondern auch in unserer Gesellschaft zu Hause zu fühlen. Eine indische Hindu-Frau sagte vor einigen Jahren zu ei-ner Kollegin in der Kathedrale von Leicester: „Weil ich mich in dieser Ka-thedrale zu Hause und willkommen fühle, fühle ich mich in dieser Stadt zu Hause und willkommen.“ Und vor zwei Jahren sagte eine asiatische Musli-min in Coventry „Für mich ist die Kathedrale von Coventry wie meine eige-ne Moschee.“ Wenn wir Menschen aller Hintergründe, Glaubensrichtun-gen, politischen Ansichten und persönlichen oder geschlechtlichen Identitä-ten willkommen heißen, lassen wir das Evangelium Wirklichkeit werden.

Wenn ich also heute zu Ihnen komme, dann weiß ich, dass ich mit Freun-den und Mitpilgern auf dieser Reise der Versöhnung unterwegs bin, mit dem Ziel, die Annahme und Akzeptanz aller Menschen zu fördern. Sie ken-nen Ihre eigene Geschichte, und es ist nicht nötig, dass ich sie hier erneut erzähle. Es könnte sich jedoch lohnen, die Geschichte von Coventry an dieser Stelle zu erzählen, da wir unsere beiden Geschichten miteinander verweben wollen. Ich weiß, dass viele von Ihnen unsere Geschichte ken-nen, aber es lohnt sich vielleicht, sie dennoch noch einmal kurz zu erzäh-len. Im November 1940 legte ein verheerender Luftangriff - der erste von vielen - das Herz von Coventry in Schutt und Asche. Über 20.000 Häuser wurden zerstört, etwa 100 Fabriken, Krankenhäuser, Schulen und die St. Michael's Cathedral gingen in Flammen auf. Mehr als 500 Menschen verlo-ren ihr Leben - aber noch viel mehr ihr Zuhause und ihren Lebensunterhalt. Die Bilder der zerstörten Kathedrale gingen um die ganze Welt, und der Verlust war damals unvorstellbar.

Doch was einfach eine Geschichte von Verlust und Verzweiflung hätte sein können, wurde durch den Dienst von Propst Howard zu einem Instrument, eine Botschaft der Hoffnung zu überbringen. Als er am Morgen nach dem Angriff, am Freitag, dem 15. November 1940, in den rauchenden Ruinen der Kathedrale stand, schrieb Propst Howard in sein Tagebuch, dass es sich anfühlte, als hätten wir an der Kreuzigung Christi teilgenommen – aber wenn wir an seiner Kreuzigung teilgenommen hätten, dann könnten wir auch durch Gottes Gnade und Kraft und durch das Vertrauen auf ihn an der Auferstehung Christi teilhaben: Die Kathedrale würde wieder auferste-hen. 22 Jahre später, 1962, wurde die neue Kathedrale von Coventry ge-weiht. Neben dem Alten stehend, mit ihm vereint als eine Kathedrale, die von Kreuzigung und Auferstehung, Ehrlichkeit und Hoffnung spricht, bringt sie vielen Inspiration und Trost.

Doch es war nicht nur das Engagement für den Wiederaufbau einer Ka-thedrale, für Steine und Mörtel, Glas und Holz, das in Coventry den Unter-schied ausmachte. Es war auch ein Engagement für den Wiederaufbau von Beziehungen. Nur wenige Wochen später sprach Propst Howard in ei-ner Weihnachtssendung des BBC World Radio Service davon, "alle Ge-danken an Hass und Rache aus unseren Herzen und Köpfen zu verban-nen und uns zu verpflichten, in den Tagen nach diesem schrecklichen Kon-flikt eine gütigere, sanftere und Christkind-ähnlichere Welt wieder aufzu-bauen".

Diese Arbeit begann konkret in Kiel in Norddeutschland, das ich im De-zember besuchte, nicht zum ersten Mal. Kiel und Coventry wurden beide vom Krieg verwüstet, wobei die Zerstörungen in Kiel denen in Coventry gleichkamen oder diese übertrafen und mehr als 2.000 Menschen starben. Kiel und Coventry begannen mit der Arbeit am Wiederaufbau einer friedli-chen Welt. Ein britischer Offizier aus Coventry war in den Nachkriegsmo-naten in Kiel stationiert. Oliver Schuegraf greift die Geschichte in seinem Buch „Das Kreuz der Nägel“ auf:

Nach einem Treffen mit einem in der Stadt stationierten britischen Offizier reifte im Kieler Oberbürgermeister Andreas Gayk der Wunsch, Kontakt mit Coventry aufzunehmen. In einer Lokalzeitung schrieb er im Januar 1947: „Die Zeit ist gekommen, in der die zwischen den Völkern Europas aufgeris-sene Kluft überbrückt und Wege der gegenseitigen Verständigung zwi-schen Mensch und Mensch gesucht werden müssen, die uns aus dem Ab-grund des Missverständnisses führen, in das wir in der jüngsten Vergan-genheit geraten sind! … Was halten Sie von der Idee, dass wir uns zu einer Gesellschaft der Freunde von Coventry zusammenschließen – und dass die Namen der zerstörten Städte Kiel und Coventry zum Symbol unseres spirituellen und moralischen Aufbruchs werden?“ Coventry antwortete auf die Aufforderung. Am 14. September 1947 kam eine Delegation aus Coventry – der Bürgermeister, ein Gewerkschaftsvertreter und Propst Ho-ward mit einem Nagelkreuz – nach Kiel. Es war die erste offizielle englisch-deutsche Städtepartnerschaft.

Die Kreuze bestanden aus Nägeln, die in der Nacht des 14. November 1940 vom brennenden Dach der St.-Michaels-Kathedrale gefallen und auf dem Boden verstreut waren. Ein örtlicher Priester begann mit der Herstel-lung dieser Kreuze – bestehend aus zwei horizontalen und einem aufrech-ten Nagel – als Symbol für die Gegenwart Christi inmitten der Zerstörung. Ein Symbol der Gegenwart Gottes – und damit auch der Hoffnung Gottes inmitten des Verlustes. Heute sind diese Kreuze und moderne Versionen davon auf der ganzen Welt in der Gemeinschaft des Nagelkreuzes zu fin-den, die sich der Arbeit für Frieden und Versöhnung verschrieben hat. Je-der Ort hat seine eigene Geschichte, jeder Ort verwirklicht den Versöh-nungsdienst Christi in seinem eigenen Kontext. Jedes Mal, wenn ein neues Mitglied hinzukommt – und hier in Deutschland sind es mittlerweile rund 80, weltweit sind es 250 – wird die Geschichte aufgefrischt und erneuert.

Propst Howard macht in seiner damaligen Ansprache sehr deutlich, dass diese Aufgabe des Wiederaufbaus von Beziehungen vom gegenseitigen Zuhören, von der Hinwendung zueinander und von der gemeinsamen Hin-wendung zu Gott abhängt. Oliver Schuegraf gibt die Worte von Dick Ho-ward wieder: "So möchte ich Ihnen heute sagen, dass eine der großen Aufgaben, die vor dieser Gesellschaft der Freunde von Coventry und Kiel liegt, darin besteht, dass wir durch unsere Freundschaft füreinander ... ei-nander helfen, den Weg zu einer neuen Erfahrung des Glaubens an und des Gehorsams gegenüber Jesus Christus, dem Inspirator und der Energie unseres Wiederaufbaus, zu finden ... Mit einem solchen neuen Licht und einer neuen Kraft Christi in unserer Mitte gibt es jede Hoffnung auf endgül-tigen Frieden und Glück für Ihr geliebtes Kiel und unser geliebtes Covent-ry."

Wie können wir diese Arbeit heute fortsetzen? Wenn wir die Geschichte lesen, scheinen wir eingeladen zu sein, "auf den Schultern von Riesen zu stehen". Wie können wir auf den Schultern derer in Kiel und Coventry ste-hen, die bereit waren, einander und Gott die Hand zu reichen und sich an die Arbeit zu machen, um die Welt als einen Ort des Friedens und der Ge-rechtigkeit für alle wieder aufzubauen? Ein Ort, an dem sich die nächsten Generationen entfalten können. Heute ist die Aufgabe weiterhin dringend. Angesichts des Krieges vor unserer Haustür in der Ukraine, des Wiederer-starkens aggressiver nationalistischer Bewegungen in der ganzen Welt, der neu entdeckten Herausforderungen des Klimawandels, die zu Nah-rungsmittelarmut und existenzieller Bedrohung auf dem gesamten Planeten führen, gibt es viel zu tun.
Ich bin der Überzeugung, dass unsere Geschichte, die Geschichte von Coventry und Kiel - und natürlich ähnliche Geschichten von Coventry und Hamburg, Berlin und Dresden - immer noch die Kraft haben, uns zu ge-meinsamen Aktionen für die Zukunft zu inspirieren. Wir sind es nicht nur uns selbst, sondern auch denen, die nach uns kommen, schuldig, diese Arbeit fortzusetzen, um die Welt, die wir so oft zu zerstören scheinen, im-mer wieder neu aufzubauen. Die Versöhnungslitanei von Coventry, die wir in diesem Gottesdienst beten werden, ruft uns jeden Tag in Coventry dazu auf, uns die Art und Weise vor Augen zu führen, wie wir alle unsere Welt auseinanderreißen, Gott um Vergebung zu bitten und uns für eine andere Zukunft einzusetzen. Es ist ein Gebet der Reue, aber auch der Hoffnung.

All dies mag als all zu viel des Guten erscheinen - und vielleicht scheint die Aufgabe aussichtslos. Aber es ist nicht in erster Linie unsere Aufgabe. Es ist das Werk Gottes, durch Gottes Sohn Jesus Christus - Gott hat die Arbeit getan, Jesus hat die Versöhnung gewonnen. Jesus hat, wie wir im Verei-nigten Königreich sagen, "das schwere Heben" getan. Er hat die Macht der Sünde gebrochen, die uns voneinander und von Gott trennt. Was uns auf-getragen ist, wie Paulus im zweiten Korintherbrief sagt, ist der Dienst und die Botschaft - das Vergegenwärtigen und Bekanntmachen - der Versöh-nung, die Gott in Jesus Christus für uns getan hat. "Das alles kommt von Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus und uns das Amt der Versöhnung gegeben hat, das heißt, dass Gott in Christus die Welt mit sich selbst versöhnt hat, indem er ihnen ihre Schuld nicht anrechnete und uns die Botschaft von der Versöhnung anvertraut hat." Gott hat das Tor zu einer neuen Welt aufgestoßen - es liegt an uns, es zu durchschreiten und anderen zu helfen, dasselbe zu tun. Das ist der Zweck der Nagelkreuzge-meinschaft - die Menschen in eine neue Welt einzuladen, und ich freue mich, dass Sie sich entschieden haben, sich mit so vielen anderen in der ganzen Welt zusammenzuschließen, um dies Wirklichkeit werden zu las-sen.

Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Ge-meinde und in Christus Jesus durch alle Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. Eph 3. 20, 21

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  Pfingsten

Pfingsten

Cornelia Götz, Dompredigerin - 28.05.2023

In der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 öffneten die Ungarn ihre Grenzen zu Österreich für DDR- Bürger und Bürgerinnen, die den Osten verlassen wollten. Meine Schwester und ich kamen an diesem Morgen mit dem Nachtzug aus Bulgarien. Wir waren ohne Nachrichten in den Bergen gewesen und hatten keine Ahnung von dieser Entwicklung. Wir wollten nur eine Runde durch Budapest drehen. Und dann heim - Richtung Dresden. Aber in der Stadt spielten sich unbeschreibliche Szenen ab: Familien stritten sich, gehen oder bleiben, Pärchen trennten sich, andere verschenkten ihre Wartburgs oder ließen den Trabbi, auf den sie jahrelang gewartet haben mitsamt den Zündschlüssel einfach stehen. Aus Lautsprechern kamen Informationen, wo die Busse nach Wien abfahren und mittendrin in diesem chaotischen emotionalen Gewühle hatte eine Gruppe von Menschen einen Kreis gebildet und pries den HERRN mit lautem Halleluja.
Ein unvergessliches Bild.
Die waren nicht von dieser Welt.
So ähnlich muss es auch den Beobachtern des Pfingstwunders gegangen sein:
Da ist eine Gruppe von Menschen aus aller Herren Länder und alle reden wild durcheinander, tun so als wären sie ein Herz und eine Seele oder doch wenigstens auf einem Familientreffen - jede und jeder redet was Anderes, aber das scheint keinem aufzufallen - im Gegenteil; sie verstehen sich. Von außen betrachtet, gibt es nur einen Befund:
Die sind durch den Wind. Sternhagelvoll.
Solchen Eindruck können Christenmenschen machen, wenn sie sich dem Heiligen Geist überlassen und Gott feiern.
Ist es mit uns auch so? Wie wirken wir? Besoffen vor Begeisterung?
Eher nicht… - aber wäre es schön?
Ich vermute, solche Ekstase ist den meisten unter uns eher suspekt. Das Gloria hat seine liturgische Form und der Friedensgruß beim Abendmahl ist für manche die absolute Obergrenze der Annäherung an Christennachbarn…
Und trotzdem werden wir damit rechnen müssen, dass Menschen, die nichts mit Kirche zu tun haben über das was wir glauben und reden den Kopf schütteln:
• wir bekennen einen Gott, der drei sehr verschiedene Seinsweisen hat und der trotzdem nicht drei Verschiedene sondern immer nur ein und derselbe ist
• wir sagen, dass Gott die Welt geschaffen hat und in der Geschichte wirkt - deswegen beansprucht das Volk Israel ein ganz konkretes Stück Land auf der politischen Karte und sagen auch, dass Jesus zur Zeit von Herodes und Pontius Pilatus lebte und gekreuzigt wurde - aber wir erleben die Geschichte Jesu trotzdem jedes Jahr so, als geschähe sie genau jetzt, hier unter uns
• wir teilen Brot und trinken Wein und sagen, dass es Fleisch ist und Blut, weil wir glauben, dass diese Mahlzeit uns mehr stärkt als jede Kalorienzufuhr, dass diese kleine Stärkung Herz, Seele und Verstand neu macht, Vergebung und Frieden ermöglicht
• und nicht zuletzt meinen wir, dass unser Gott in Jesus Christus während seines Menschenlebens unter römischen Bedingungen im vorderen Orient vorgemacht hat, wie es hier in unserer Gesellschaft zugehen soll: wie wir mit Minderheiten, Armen und Kranken umgehen sollen, dass Geld und Besitz uns hindern so zu leben, wie wir es eigentlich wollen sollten, dass Frieden mit Gewalt nicht zu haben ist.
Wenn wir dann versuchen, aus diesem Vorbild Schlüsse zu ziehen, dann werden das - von außen betrachtet - naive politische Haltungen, wirtschaftlich unverantwortliche Statements oder moralische Gestrigkeit garniert mit Tempo 100 und „Frieden schaffen ohne Waffen“.
Und erst recht nicht von dieser Welt ist die Tatsache, dass die Begründung für all das weder wissenschaftliche Erkenntnisse noch Ratingagenturen oder Statistikämter liefern, sondern ein uraltes Buch und ein Typ, der nicht eben auf der Siegerstraße unterwegs war…
Das muss von außen betrachtet wirken, als hätten wir nicht alle Tassen im Schrank.
Kein Wunder, dass wir nicht mehrheitstauglich sind.
Geschieht uns recht, dass wir mit Rückfragen konfrontiert werden, auf die es keine einfache Antwort gibt: und du meinst, dass du keine Waffe brauchst, damit deine Liebste nicht vergewaltigt wird und du denkst, dass wir hier alle Flüchtlingen reinlassen können und was machst du mit den Arbeitsplätzen in der Autoindustrie…. Und guckt euch doch mal euren eigenen Laden an.
Das ist alles so realitätsfern, dass man gut fährt, wenn freundlicherweise über uns nur gesagt wird, die sind durch den Wind, betrunken, verrückt.
Ganz selten nur konstatiert die Welt in und um uns, dass da einer dem Rad in die Speichen gefallen ist, dass da eine Bewegung die Welt verändert hat, dass Gebete politische Wirklichkeit schufen - weil dieses „durch den Wind sein“ vielleicht doch eine Geistbegabung ist, die der Menschlichkeit hier auf Erden den Weg weist.
Allermeist ist es eher wie oben beschrieben und das wird nicht einfacher dadurch, dass jede und jeder von uns Teil dieser Welt und all ihrer Mechanismen und Systeme ist.
Dabei wäre es für unsere gebeutelte, friedlose, ungerechte Welt so gut, wenn Gottes Wille hier auf Erden geschähe, wenn wir lebten wie solche, denen die Erde anvertraut ist und die nahen und fernen Nachbarn uns nicht fremd wären, sondern wichtige Herzensmenschen.
Ich weiß - ich klinge wie die Besoffenen und Verrückten, die Kinder und die Träumenden.
Es geht nicht anders.
Es muss so sein.
Es war schon immer so und ich kann - um die Schraube noch ein klein wenig weiter zu drehen - all das nur mit einem uralten Brief erklären, der vor 2000 Jahren materialiter abgeschickt wurde
heute bei uns ankommt. Paulus schreibt:
„Wir haben nicht den Geist der Welt empfangen“ also keinen Geist, der tickt wie die Welt, wie sie urteilt, rechnet und analysiert, „sondern den Geist aus Gott, damit wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist.“ Wir sind also verbunden durch einen Geist, der einen anderen Rahmen, ein andere Ziel weiß und uns an unsere Grenzen erinnert. „Deshalb reden wir auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann“, deshalb folgen wir einer anderen Logik als der von Selbstoptimierung, Wachstum und Erfolg und „deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen.“ fragen, wenn es uns gelingt, nach Trost, nach Würde, nach Freiheit, nach Gerechtigkeit. „Der weltliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist“, denn sein Koordinatensystem funktioniert anders, was nicht in diesem einen Erdenleben möglich ist, kann nicht entscheidend sein, „es ist ihm eine Torheit, er kann damit nichts anfangen“. Wie auch, es braucht Gottes Geist, um so zu verstehen. Denn wer weiß, was Gott im Sinn hat? Keiner.„Was aber wir im Sinn haben, das kommt von Jesus Christus“.
Mithin: was uns so weltfremd erscheinen lässt, ist Gott, sein Geist.
Es ist seine Gnade, wenn sein Geist uns umtreibt, durch‘s Nadelöhr, das nur Kinder und Verrückte sehen, hindurch.
Es ist sein Segen, nicht ganz von dieser Welt zu sein.
Amen

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  Rogate

Rogate

Cornelia Götz, Dompredigerin - 14.05.2023

Robert Seethaler schreibt in seinem Roman „Das Feld“ von einem Mann, der tagaus tagein auf den alten Friedhof seiner kleinen Stadt geht, sich unter eine Birke auf eine morsche Bank setzt und die Gedanken schweifen lässt.
Seethaler: „Er dachte über die Toten nach … Er versuchte, sich ihre Gesichter zu vergegenwärtigen und setzte seine Erinnerungen zu Bildern zusammen. Er wusste, dass diese Bilder nicht der Wirklichkeit entsprachen, dass sie vielleicht gar keine Ähnlichkeit mit den Menschen hatten, die sie zu Lebzeiten gewesen waren … Das Auf- und Abtauchen der Gesichter in seinem Kopf machte ihm Freude und manchmal lachte er leise in sich hinein, mit vornüber gebeugtem Oberkörper, die Hände überm Bauch gefaltet, das Kinn auf die Brust gesenkt. Hätte ihn in einem solchen Moment jemand aus der Ferne beobachtet, … so hätte er den Eindruck haben können, dass er betete.“
Dass er betete.
Ganz schlicht kommt dieser Satz daher - als wäre es so einfach:
Gefaltete Hände, gesenkter Kopf, Zwiesprache mit einem, den man nicht sieht.
Beten.
Alle Tage.
Heiter sogar.
Es scheint ganz leicht zu sein - eine lebensfüllende friedliche Routine - mit der wundersamen Folge, dass der Blick auf Menschen immer freundlicher wird, dass Möglichkeiten vor dem inneren Auge entstehen, die noch nicht Wirklichkeit sind.
Aber so leicht ist es für die allermeisten mit dem Beten nicht.
Es gelingt und tut gut, wenn wir hier im Gottesdienst oder bei Andachten beten - unsere Wege unterbrechen und innehalten, aus unserem Leben für einen Moment aussteigen und hier Gemeinde werden.
Aber im Alltag, an den Werktagen - also denen, an denen wir in unserer Welt wirksam werden, findet das Beten nur schwer seinen verlässlichen Ort - selbst wenn wir uns danach sehnen.
Wir wissen oft nicht, wie wir so beten können, dass es sich nicht wie eine befremdliche Übung anfühlt, sondern wir das tägliche Brot oder das Atmen beim Schwimmen - eben wie etwas ohne das wir nicht leben können und wollen.
Wir reden wenig oder gar nicht darüber. Beten ist eine intime Angelegenheit. Man muss sich schon ein bisschen zusammennehmen, um jemanden direkt zu fragen: „Betest Du?“
Eher lassen wir Tischgebete weg, wenn Gäste da sind und das „so wahr mir Gott helfe“, wenn die Öffentlichkeit zusieht - als würden wir mit dem Gebet gefährlich viel Selbstbestimmtheit, Souveränität abgeben und uns davor fürchten, dass andere das merken.
Wir müssen erst in Not geraten, um dem Gebet etwas zuzutrauen.
So gesehen kann man mit der kirchenjahreszeitlichen Einordnung des Buß- und Bettages im November ganz zufrieden sein - Selbstrelativierung kurz nach dem Volkstrauertag.
Wir bekennen dann, dass wir es nicht gut machen und dass es uns ohne Gebet nicht gut geht.
Aber jetzt? Im Mai? Im Osterfestkreis? Da heißen Sonntage „Jubilate“ und „Kantate“ - jauchzt und singt. Es gibt ja auch ein denkbar besten Grund: der HERR ist auferstanden!!!
Leid und Schmerz, Angst und Tod haben ein Ende. Jesus Christus ist zum Greifen nah.
So kann es bleiben.
Warum kommt jetzt: „Rogate“, betet?
Weil es für Anna passt. Jauchzt, singt, betet! Heute ist Konfirmation.
Und für unsere Gemeinde passt es auch - weil sich wieder junge Leute auf den Weg machen, um für sich herauszufinden, ob sie dazu gehören wollen - zu uns, die wir auf Gottes Wegen gehen und Kirche sein und bauen wollen … und oft keine Ahnung haben, wie das geht - in unserer Zeit.
Es werden sich Fragen auftun.
Mit Blick auf das Beten erst recht.
Wie können wir beten?
Und hört Gott uns wirklich zu?
Welches Gottesbild steht dahinter - ein personaler Gott, eine unbestimmte Kraft?
Hilft es, dass wir uns Menschen als soziale Wesen begreifen, die sich selbst und Gott durch Sprache verständlich machen und oft erst während des Betens rausfinden, was Not tut, was unsere Welt braucht und wichtig ist?
Solche Fragen reichen für ein ganzes Leben.
So war es offenbar immer schon.
Jesus Christus hat für die Seinen gebetet, damit „ihr Glaube nicht aufhöre“ und ihnen ein fertiges Gebet geschenkt - das Vaterunser. Seither bergen sich Menschen darin - oft ist es das letzte, was sie noch wissen. Und trotzdem hat schon Paulus keine selbstverständliche Gebetspraxis vorgefunden. Hätte er sonst mahnen müssen - wir haben es vorhin gehört:
„Zuerst und vor allem bitte ich euch, im Gebet für alle Menschen einzutreten: Bringt eure Wünsche, Fürbitten und euren Dank für sie vor Gott. Betet auch für die Könige und alle übrigen Machthaber. Denn wir wollen ein ruhiges und stilles Leben führen.“
Schon da scheint Anderes Priorität gehabt zu haben. Obwohl es schon immer Not tut, dass Menschen sich nicht gleichgültig wegdrücken, sondern zu Anwälten werden: für die, die ohnmächtig sind und sich nicht helfen können und für die, die Macht haben.
Denn wir wollen in Frieden leben.
Vielleicht ist das das eigentliche Problem beim Beten. Wir fürchten oder ahnen, dass Gott nicht eingreift, nicht Panzer wegräumt und unsere vielen Lebensmittel in die Hungergebiete der Erde verteilt, dass er nicht von oben wirksam wird, sondern „nur“ auf uns einwirkt, durch uns spricht.
Denn - so schreibt Paulus weiter - „er will ja, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“
Deshalb hat Paulus recht, wenn er mahnt, nicht lockerzulassen:
Deshalb sagte Annette Kurschuss, die Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland: „Wir haben einen Ton in das Leben einzutragen, den sonst niemand einträgt - und diesen Ton dürfen und werden wir der Welt nicht schuldig bleiben.“
Denn auch wenn nicht damit rechnen, dass unser Beten Wünsche erfüllt - so können wir im Gebet doch etwas sagen, dass gesagt werden muss aber anders nicht laut werden kann.
Und da wird es spannend.
Und ist nicht peinlich - im Gegenteil.
Wenn das Gebet Sprache wird, dann dringt Inneres nach draußen - aus unserem Mund und in die Welt, dann wird hörbar, was geschieht, wenn Gott in uns wirkt und sein Geist uns erfüllt, wenn wir uns nicht verhärten und selbst belügen, sondern unser Leben - wie es der ehemalige Mönch Fulbert Steffensky sagte - von außen nach innen bauen.
Dann atmen wir Fragen ein, dann ringen und seufzen wir.
Dann wird unser Innerstes Sprache und verändert die Welt.
Mit anderen Worten, denen des niederländischen Theologen und Liederdichters Huub Osterhuis - wenn wir „ sehen üben, wissen wollen, nicht wegschauen, hoffen, vertrauen. Fragen lernen, flehen, drängeln, auf Fensterbretter hämmern.“ - weil wir merken, dass es sein muss unter uns - dann beten wir.
Und wir beten auch, wenn „es“ uns an einem lichten Morgen dankbar überfällt, wie schön es draußen, wie gut wir es haben.

Zurück zu Robert Seethaler:
Der Mann auf dem Friedhof lernt sehen, weil er wissen will, wer die, die da begraben sind, eigentlich waren. Vielleicht betet er ja wirklich - mit Worten, die er sich geliehen hat, wie wir uns auch immer wieder welche leihen können. Zum Beispiel diese von Dorothee Sölle:
„Schaffe in mir gott ein neues herz / das alte gehorcht der gewohnheit
schaff mir neue augen / die alten sind behext vom erfolg
schaff mir neue ohren / die alten registrieren nur unglück …
schaffe in mir gott ein neues herz / und gib mir einen neuen geist
dass ich dich loben kann / ohne zu lügen.“
Amen

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  Kantate

Kantate

Cornelia Götz, Dompredigerin - 07.05.2023

„Wo man singt, das lass Dich ruhig nieder, böse Menschen kennen keine Lieder, sondern nur ein Radio und ein Fernsehapparat!“
Diesen Kanon habe ich in der Kurrende gelernt. Ich konnte ihn nicht leiden.
Einerseits, weil ich den, der ihn uns beigebracht hat, nicht mochte und andererseits, weil bei uns Zuhause das Radio über allen Maßen geliebt wurde und wir damals zwar keinen Fernseher hatten aber gern einen gehabt hätten…
Und außerdem menschelte es natürlich auch in der Kurrende.
Später merkte ich: wir singen diesen Kanon nur in der Kurrende. In der Schule war er unbekannt oder nicht wohlgelitten. Dort sangen wir „Brüder zur Sinne zur Freiheit“ und „Den kleinen Trompeter“. Manche der Schullieder waren dabei echte Ohrwürmer und auch nicht alle Menschen um mich herum böse - aber ein Ort für ruhiges geborgenes Sein war die Ost-Schule in der Tat nicht.
So ambivalent blieb es: Im Wehrunterricht sangen wir beim Marschieren und beim Wandern in den rumänischen Karpaten auch, meine Mutter sang uns zum Einschlafen die schöne Lilofee vor und beim Putzen sang sie zu den Abbas und als wir schließlich im Zivilverteidigungslager einkaserniert wurden, sangen wir die „Moorsoldaten“, gegen die keiner was haben konnte obwohl sie herrlich widerständig waren.
Es ist also nicht gewiss, dass Gesang ein Zeichen für gute Gesellschaft und gute Menschen ist.
Es ist gewiss, dass auch Musik missbraucht wird.
Wir bergen uns in ihr, lassen uns trösten aber eben auch verführen, wagen große Gefühle und manchmal sogar Bekenntnisse, weinen und wüten, verstecken uns in ihr oder manipulieren.
Es kommt mithin sehr drauf an, was wir singen und wem wir singen oder musizieren.
Um die Gedanken diesbezüglich zu sortieren, haben wir vorhin die Geschichte von David und Saul gehört.
Saul, der alte König, war unberechenbar geworden, böse und gefährlich.
Die Macht hatte ihn verändert. Oder das Alter? Vielleicht war auch seine Wahrnehmung nach den Jahren an der Spitze eines Apparates getrübt. Ehrliche Kritiker gab es in seiner Nähe vermutlich schon lange nicht mehr. Das System tat, was es glaubte, das ihm gefiel.
So verlor der alte König den Resonanzraum, der das Gewissen zum Klingen bringt und der Liebe ein Gegenüber schafft.
Er wurde einsam und misstrauisch.
Darum suchte man nach Mitteln der Besänftigung.
Nach Befriedung der wütenden alten Seele.
Und so schlug man dem König vor, nach einem begabten Musiker zu suchen. Er sollte das Saitenspiel beherrschen. Wer Biermannlieder kennt, weiß, dass auch mit der Klampfe Aufruhr möglich ist. Aber die Harfe, so dachte man, könnte sanft genug sein…
Musiktherapie für den Diktator…
Saul stimmte zu. Vielleicht aus Müdigkeit, vielleicht aus Sehnsucht nach der verschütteten freundlichen Variante seiner selbst? Vielleicht in der Hoffnung, dass das Reine, Schöne wieder zum Vorschein kommt, der Saul, der er mal gewesen ist.
Diese Zustimmung ist seine Chance. Und Saul nutzt sie.
Er öffnet sich noch einmal der Zärtlichkeit. Er riskiert, sich berühren und erweichen zu lassen. Zu lieben. Schutzlos zu sein.
Unglaublich eigentlich. Und zugleich die Erinnerung daran, dass Menschenwürde unantastbar ist. Auch ein Kriegsherr, ein Tyrann hat sie.
Die erleichterten Bediensteten bringen einen, der „des Saitenspiels kundig ist“.
Er musiziert sich in Sauls Herz. Der alte König überwindet die innere Dunkelheit. Es wird noch einmal gut. Die Musik wird zur Lebenshilfe.
Es ist eine große Gnade, sie spüren zu können.
Ein Gottesgeschenk.
Aber wie gesagt: es ist ambivalent.
Denn der junge Musiker, der da vor Saul erscheint - David, ist eben nicht nur ein selbstvergessener Klangkünstler, sondern auch ein ehrgeiziger begabter Mann, gebildet, sportlich, schön.
So wird nicht nur Harfe spielen, um einen verstörten alten Mann zu beruhigen.
Sie werden miteinander ringen. Der Harfenspieler wird Saul beerben und eines Tages selbst König sein. Es ist ein Machtspiel - in den schönsten Tönen.

„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder“???
Können wir hier ruhig sitzen und uns der Musik überlassen?
Dieser Sonntag heißt „Kantate“ nach dem 98. Psalm:
„Singt dem HERRN ein NEUES Lied, denn er tut Wunder.
Der Wochenspruch richtet unser Singen aus.
Denn die alte Geschichte birgt noch ein wichtiges Detail: es ist ein Geist Gottes, der Sauls Seele verdunkelt. Gott zwingt den alten Machthaber in die Knie. Aber es ist auch seine schöpferische gute Gabe, Davids Musik, die Sauls Seele wieder hell macht.
Gut und Böse bleiben nah beieinander, finden sich in demselben Menschen - ringen.
Es ist eine Lebensbewegung, wir entziffern uns nur langsam.
Saul erfährt das. Gott wirkt in seinem Leben.
Er gewann den David lieb. Es wurde besser mit Saul.
Durch Gottes Nähe. Sie zeigte sich in der Musik.
Denn er tut Wunder.

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  Jubilate

Jubilate

Cornelia Götz, Dompredigerin - 30.04.2023

Wer sich stur an den Kalender hält, kann manchmal gewaltig aus dem Tritt kommen. Er ist womöglich mit den falschen Anziehsachen unterwegs, wird sich erkälten oder schrecklich schwitzen, erleben müssen, dass Blumen erfrieren oder zusehen, wie sie mitten im Winter blühen.
Die Natur macht nicht, was der Kalender sagt.
Unser Herz und Seele oft auch nicht.
Wir müssten an Karfreitag eigentlich in Trauer fallen - aber dann war es endlich ein heller warmer Tag und die Menschen standen fröhlich plaudernd auf dem Burgplatz, kamen heiteren beschwingten Schrittes zur Passionsmusik.
Ich auch.
Angst und Traurigkeit, Freude und Glück stellen sich nicht immer so ein, wie es die äußeren Parameter erwarten ließen.
Und jetzt?
Ist österliche Freudenzeit!
So sagt es der liturgische Kalender. Die Paramente sind weiß - Christusfest. Altes Testament und Epistel erzählen von der Schöpfung und davon wie alles gut eingerichtet ist, außen und innen - weil wir Teil all dessen sind, was Gott gut gemacht hat. Überall blüht es.
Lasst uns jubilieren!!!
Ja!
Aber … Haben wir denn Grund in dieser Welt? Es ist noch nicht vollendet, Tränen sind noch nicht abgewischt, das lebendige Wasser ist zur umkämpften Kostbarkeit geworden, Frieden auf Erden scheint weiter weg denn seit langem - und ob wir Menschen seines Wohlgefallens sind?
Wir leben im Glanz des Ostermorgens und kriegen eine Abschiedsrede als Evangelium zu hören. Worte über eine kleine Zwischenzeit, in der wir gleichzeitig glücklich und gottverlassen sein werden.
Jesus Christus spricht: „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.“
Nur noch eine kleine Weile, dann kommt eine Trennung und ein Wiedersehen, dann hat die greifbare Nähe ein Ende und kommt er zurück.
Ich muss kurz weg und dann bin ich wieder da. Wer kennt das nicht. Wir sagen es, damit wir gehen können. Wir quälen uns damit, wenn wir zurückbleiben.
Im h sehnsüchtigen Warten kann man sich nicht einrichten.
Es bleibt immer eine Leerstelle.
Die Unruhe verhindert die Konzentration auf das was ist.
Und gleichzeitig wird Abend und Morgen, wir stehen immer wieder auf, versorgen Kinder und Alte, essen und trinken, erledigen, was vor die Füße fällt und erschrecken uns dann und wann, weil die Zeit vergeht und wo bleibt er eigentlich???
Wollte er nicht längst da sein?
Es drängt! Wir brauchen ihn!
Wenn dann einer vorschlägt, zu jubilieren, könnten die angespannten Nerven reißen.
Wenn dann eine großes Halleluja singen will, könnte das magere Katzenmusik werden.
Komischer Osterfestkreis.
Versteht das wer? Alle Knospen springen auf, fangen an zu blühen, alle Nächte werden hell, fangen an zu glühen, Menschen teilen, Wunden heilen, die Welt steht trotzdem am Abgrund - oder nicht?
„Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.“
Was soll das bedeuten??? Fragen sich die Jünger.
Der Predigttext heute - die Begleitmusik zum Jubilieren - ist ein einziges riesiges Fragezeichen. Vier Verse lang Fragezeichen:
Was soll das heißen? Wie kann der Messias, er lang Ersehnte, wieder gehen wollen? Wohin? Und für wie lange? Was soll denn eine kleine Weile sein???
Vierzig Jahre Wüstenwanderung oder ein Jahr Krieg? Neun Monate bis ein Kind geboren ist oder drei Stunden, die zwei syrische Schwestern gegen das Ertrinken kämpfen?
Was soll das heißen? Eine kleine Weile? Einen Lockdown auf meinem Küchensofa oder doch mein ganzes Leben lang und das meiner Eltern und Kinder dazu?
Gotteszeit und Menschenzeit kann man nicht mit denselben Uhren messen.
Das könnte egal sein, wenn wir wüssten, dass wir gerade in der Weile sind, in der er da ist. Ist er da? Sehen wir ihn? Sehen wir ihn nicht?
Und wenn wir ihn ich sehen, liegt es womöglich daran, dass wir ihn nicht erkennen? Fragen über Fragen.
Es ist bizarr - aber nicht mal die Jünger, die ihn vor sich direkt vor sich haben, können mit Jesu Worten etwas anfangen.
Sie fragen sich auch: „Was bedeutet das … wir wissen nicht, was er redet.“
Wenn sie es nicht wissen, dann scheint Gewissheit nicht möglich. Dann kann man nur wissen: Glauben kann nicht festgeschrieben werden. Gott kann nicht in Dogma oder Bekenntnis gezwängt werden. Auch wenn er uns ganz nah ist, wissen wir nicht: So oder so ist es. Dies oder jenes muss jetzt passieren.
Das spüren Jesu nächste Freunde und es verwirrt sie so sehr, dass sie nicht einmal klar formulieren können, was sie so durcheinander bringt.
Jesus merkt es. Er spürt ihre Fragen. Er bestätigt: ja, es ist schwer zu begreifen - alles ist gut und nichts kann bleiben wie es ist und beschreibt, was auch wir erleben:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden.“
Genau so sah es am Karfreitag auf dem Burgplatz aus: Kreuzigung und Frühlings Erwachen, Schmerzensmusik und Freude pur. Einerseits dröhnt es von schlechten Nachrichten und andererseits Tanz in den Mai. Und dabei hat die Welt den richtigen Riecher! Sie ist uns einen Schritt voraus!
Es gibt Grund zur Freude. Die Welt hat Recht! Die Schöpfung hat Recht.
Nur wir hängen noch dazwischen. Hängen an ihm - an Jesus Christus.
Betrauern, was mit ihm möglich zu werden schien - hier unter uns und was wir ohne ihn nicht hinkriegen: das Teilen von Brot und Wein und Geld und Zeit, das Heilen von Wunden, Schmerz und Leid, das Wissen, dass das Leben nicht vergeht…
Osterfestkreis.
Selig sind, die sich freuen!
Wenn wir das gelernt haben, ist Ostern geworden und die kleine Weile vorbei und so schließt der Predigttext „an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen.“
Und bis dahin halte ich es mit Rainer Maria Rilke an Franz Xaver Kappus in Worpswede schrieb:
„Und so möchte ich Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben sind.
Forschen Sie jetzt nicht nach Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie jetzt nicht leben könnten - und es geht darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines Tages in die Antwort hinein.“

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  Osternacht

Osternacht

Cornelia Götz, Dompredigerin - 08.04.2023

„Gott, unser Gott, Tote werden nicht mehr leben! Verstorbene werden nicht mehr auferstehen … Jede Erinnerung an sie hast du getilgt.“
So klingt der Prophet Jesaja heute Abend und erinnert mich an eine Osternacht, in der ich das Gefühl nicht loswurde, dass immer mehr Steine vor das Grab gerollt werden.
Ja doch! Wir haben es verstanden.
Tote sind tot und es tut bitter weh, wenn auch die Erinnerung verlorengeht.
Ja doch!
Eine meiner Erinnerungen, die unverwüstlich lebendig ist, gehört zu einem fröhlich frechen Architekten. Er und seine Frau waren Freunde meiner Eltern. Sie lebten in einem gemütlichen Haus in Dresden mit den Schätzen einer Familie - der großmütterlichen Puppenstube, Büchern, Schallplatten, Wein und Freunden, ihrem Kind. Aber sie litten unter der DDR und träumten von der Freiheit und vom Reisen, von schönen Autos und einer selbstbestimmten Zukunft ihres Sohnes. Sie wollten das mehr als alles andere. Also stellten sie den Ausreiseantrag und gingen ins Gefängnis, ihr Sohn kam ins Kinderheim. Was hier in wenigen dürren Worten steht, war unglaublich hart… erst recht, weil keiner ahnen konnte, dass die Tage der ostdeutschen Diktatur gezählt waren. Eines Tages kamen sie jedenfalls raus - in den Westen - alle drei. Und begannen das Leben, von dem sie geträumt hatten. Es dauerte nur kurz - bis zu seinem Unfall mit dem schönen schnellen Auto.
Auf der Anzeige stand eine Gedichtzeile von Rainer Maria Rilke:
„Gib mir noch eine kleine Weile Zeit, ich will die Dinge so wie keiner lieben!“
Für ihn, den viel zu früh Gestorbenen, wäre eine kleine Weile mehr, sehr viel gewesen - er hätte es geschafft die Dinge so wie keiner zu lieben, denn hatte er die Nase in dieser Kunst ziemlich weit vorn.
Aber ich glaube, dass ich diese Anzeige nicht vergessen habe, liege eher daran, dass ich es wie einen zärtlichen und stürmischen Protest gelesen habe:
Das kann doch nicht alles sein!
So kann es doch nicht zuende gehen!
Da rüttelt jemand an uns, die wir manchmal so gedankenlos durch‘s Leben dümpeln, will sich nicht abfinden, bleibt dabei, dass es doch auch ganz anders sein kann und werden muss - und das steckt an und plötzlich wird auch Jesaja deutlich und kraftvoll, richtiggehend widerständig:
Und er schreibt oder singt oder trompetet:
„Deine Toten sollen leben und die Leichen auferstehen!“
Ja!! das sollen und das werden sie! Afrikanische Christen singen bei einer Beerdigung so laut und fröhlich, weil sie dem Toten „Anschwung“ in den Himmel geben wollen. Das haben wir hier erlebt. Denn – so heißt es weiter bei Jesaja:
„Auf und jubelt, die ihr im Staub sitzt!“
Und dann kommt eine wunderbar poetische Zeile:
„Dein Tau ist ein Tau von Licht, du lässt ihn auf das Land der Verstorbenen fallen!“
Stellt euch das vor!!!
Morgentau liegt auf dem Land und auf den Friedhöfen, auf unseren Fensterbrettern und Bettdecken und er schimmert.
Eine feine Lichtdecke liegt über unserem Leben - und wir erkennen darin Umrisse einer neuen anderen Welt - voller Gerechtigkeit und Freiheit und Sanftmut und Liebe.
Lichttau liegt auf unserem Leben und wir erinnern uns an die Schönheit der Schöpfung und an die Unverwüstlichkeit der Hoffnung, an den Stern von Bethlehem und das Leuchten um die himmlischen Heerscharen, an die liebevolle Verklärung in den Gesichtern derer die uns lieben.
Der Rilke hat so recht.
Tau von Gottes Licht liegt auf allem und wer wollte da nicht bitten:
Gib mir noch eine kleine Weile Zeit, ich will die Dinge so wie keiner lieben!“
bis sie dir alle würdig sind und weit. Ich will nur sieben Tage, sieben!“
Lass mich nicht mitten im Leben sterben! Nicht ewige Krise denken und aufgeben.
Ich will das Leben ganz neu lieben! Ich will mich wieder verlieben in den Frühling und in das Morgenlicht, in die Menschen um mich herum, in den Geschmack der kleinen Dinge und das große Osterlob.
Gib mir nur sieben Tage, sieben - und einen ganzen Schöpfungsbogen - und alles wird Gott würdig, heilig!
Das Leben und Gott, der es schenkt, ist so viel größer und gewaltiger als das Sterben, der Kreislauf der Dinge, das Erde zu Erde und Staub zum Staube!
„Gib uns noch eine kleine Weile“ - damit wir Ostern nicht zu klein denken!
In sieben Schöpfungstagen ist alles möglich!
Hier unten auf Erden und oben im Himmel! Wieder klingt das Frieden auf Erden, wieder leuchtet Gottes Antlitz unter uns. Der Herr ist auferstanden! Halleluja!

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  Karfreitag

Karfreitag

Cornelia Götz, Dompredigerin - 07.04.2023

Was wäre, wenn …?
Was wäre, wenn wir uns irren, wenn wir glauben, dass Karfreitag ein Tag ohne Blumen und in Moll sein muss?
Was wäre, wenn dort doch Gloria und Lob und Dank hingehören?
Was, wenn die Geschichte am Kreuz nicht Ohnmacht erzählt, sondern Ordnung und Vollendung?
Dann ist der Kolosserhymnus ein „O Du fröhliche“ geworden oder ein „Eingeladen zum Fest des Glaubens“ - ein Lied, das uns verbindet, froh macht und hoffnungsvoll.
Denn es geht heute gar nicht so sehr um unsere Zerknirschung.
Es geht um alles.
Weil Gottes Geschichte die eines Anfängers ist, der immer neuen Zauber schafft.
Und ehe Sie sich jetzt fragen, welche rosa Brille ich aufgesetzt habe, lasst uns noch einmal auf das uralte Lied über diesem Tag, den Kolosserhymnus, hören - wie wunderbar er klingt:
„ER ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung;
denn in IHM wurde alles geschaffen, im Himmel
und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare;
durch IHN und auf IHN hin ist alles geschaffen.
Und ER ist vor allem,
und alles findet in IHM seinen Zusammenhalt,
und ER ist das Haupt des Leibes (nämlich der Kirche).
ER ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten;
denn in IHM gefiel es aller Fülle Wohnung zu nehmen,
und durch IHN und auf IHN hin alles zu versöhnen,
Frieden schaffend sei es dem auf der Erde,
sei es dem im Himmel.“
ER ist es und Ihm gefiel es.
Aber ?! Dröhnt es im Kopf.
Aber?! Gefällt es ihm auch, dass sich die Erde aufbäumt und Tausende unter den Trümmern ihrer Häuser begräbt? Will er mit seiner Wohnung nehmen wo ein Einzelner Krieg befehlen kann und so das Leben zahlloser Menschen zerstört, wo Kinder entführt, Männer und Frauen zum Kriegsdienst gezwungen und Landschaften zerstört werden? Gefällt es ihm, dass Krankheiten Menschen zerfressen, die noch nicht mal richtig angefangen hatten zu leben…
Ich könnte ewig weitermachen.
Wer wollte angesichts all des Leides in unserer Welt noch beten: „Dein Wille geschehe!“
Wer wollte in dem elenden Chaos mit Blick auf das Kreuz und den unschuldig hingerichteten Jesus Christus nicht von Ohnmacht reden, von Opfer, davon, dass wir offenbar selbst schuld sind? Wer wollte da nicht die Hoffnung verlieren?
Oder gleich Kirche und Glauben den Rücken kehren?
Nicht alle.
Im Gegenteil:
Menschen haben sich an all diesen Fragezeichen die Stirn blutig geschlagen und den Rücken mit Peitschenhieben zerfetzt, weil sie an Gott festhalten und ihn gnädig stimmen wollten. Sie haben gerungen, um eine Antwort auf die Frage nach dem Bösen zu finden, die mit Gott auskommt.
Sie haben es immer und immer wieder versucht.
Sie haben das Böse und Schlechte in uns Menschen gekannt und von Adams und Evas Gier und Habsucht erzählt, von Kains Neid und seiner Mordlust, vom Größenwahn der klugen Baumeister in Babel und von Jakobs Betrügerei erzählt, von zahllosen Schlachten.
Sie haben von Gottes Zorn erzählt und von der großen Flut, die all das ertränken sollte. Nur der eine handverlesene Gute, Noah, mit seiner Familie, überlebte. Mit ihm machte Gott einen neuen Anfang. Und doch ging alles wieder von vorn los: Hass und Geschrei, Gewalt und Schmerz.
Die Menschen sind zu Sklaven geworden, zu Wüstenwanderern, zu Vertriebenen.
Propheten haben auf sie eingeredet.
Aber das Böse hat nicht an Kraft verloren. Im Gegenteil. Wir sind zu schlecht, zu verbogen, zu kleinmütig, zu unwürdig - eine einzige Enttäuschung.
Aber Gott ist der EINE, wir sind ihm ähnlich - trotzdem, haben sie erzählt. Er hat einen Bund mit uns geschlossen, haben sie geglaubt. ER ist derselbe. Vor aller Zeit und bis in unser Alter.
Ein tapferes Bekenntnis ist das. Aber keine Antwort, die den Zustand unserer Welt erklärt.
So versuchten sie neu und kühn zu denken.
Mit dem Hiobbuch. Dort wird erzählt, Gott hätte mit dem Satan gewettet und ihm - dem Bösen - freie Hand gelassen. Das Böse darf sich mit Gottes Erlaubnis austoben auf Erden und einen Menschen quälen, der nichts getan hat, der trotz allem an Gott festhält - der sein Unglück nicht verdient hat.
Das ist ein Antwortversuch, der ausschließen will, dass es eine Sündenlogik gibt, dass alles Schlimme Strafe ist. Das Hiobbuch wagt die Ungeheuerlichkeit, bei Gott nach der Ursache des Bösen zu suchen - nicht bei den schwachen, selbstsüchtigen und unvollkommenen Menschen.
Die Verfasser des Hiobbuches muten uns zu:
Wenn Gott in seiner Wette auf Hiob setzt, darauf dass der seinen Glauben und sein Vertrauen in Gott nicht aufgibt - auch wenn ihm alles Unglück dieser Erde zustößt - dann braucht Gott diesen Menschen, um dem Bösen zu widerstehen. Dann schafft er es nicht allein!
Und Hiob steht es durch! Das Sterben seiner Kinder, den Bankrott, die entsetzliche Krankheit, die Einsamkeit, den Streit, den Zweifel.
Er gibt nicht auf. Er kann nicht aufgeben.
Denn Gott lässt ihn nicht sterben.
Im Gegenteil. Er belohnt ihn überreich. Und so scheitert auch diese Erklärung. Es ist nicht zu begreifen. Gut und Böse folgen keiner Logik, die wir in Gesetze packen könnten.
So bleibt es.
Bis heute.
Heute, an Karfreitag gibt Gott selbst die Antwort - ein für alle Mal. Und sie klingt - mit dem Kolosserhymnus - so:
Weil ER der große Schöpfer ist, DERSELBE, der ER immer war und ist und bleibt, ist Karfreitag keine Geschichte von Ohnmacht und Chaos, menschlicher Willkür und menschlicher Schuld. Sie spiegelt das alles: im Geschrei der Menge, in Verrat und Lüge, in der Inkonsequenz des Pilatus, in der Lust am Foltern und Quälen und Töten.
Dieser scheint wieder Hiob zu sein.
Aber diesen Menschen lässt Gott sterben!
Und mit ihm stirbt Gott den Tod, bricht damit seine Macht und zeigt:
Karfreitag ist kein Unfall der Geschichte. Er offenbart Gottes Ordnung.
Karfreitag ist auch kein Ausrutscher, sondern eine Möglichkeit gelingenden Lebens, weil es hinter allem Leid, noch ein Dahinter gibt:
Unseren Gott, der derselbe ist vom Anbeginn der Welt, der Leben schenkt und seine Menschen segnet, der Licht und Finsternis scheidet und alles in allem ist.
Er wirkt auch heute einen Anfang - wie am ersten Tag der Schöpfung.
Das erzählt der Kolosserhymnus.
Dieses Bekenntnis kann kein Traktat sein. Es muss ein Hymnus sein. Große Verskunst.
Designer würden sagen: Form follows function.
Weil Gott Schönheit und Struktur die Fülle selbst IST, kann das das Böse keine chaotische Gegenmacht sein, sondern ist nicht mehr als eine Herausforderung, die erlöst und geordnet werden wird, von dem der vor allem WAR und in allem IST.
Heute ist der Schöpfergott am Werk.
Derselbe.
„ER ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung;
denn in IHM wurde alles geschaffen, im Himmel
und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare;
durch IHN und auf IHN hin ist alles geschaffen.
Und ER ist vor allem,
und alles findet in ihm seinen Zusammenhalt,
und ER ist das Haupt des Leibes (nämlich der Kirche).
ER ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten;
denn in IHM gefiel es aller Fülle Wohnung zu nehmen,
und durch IHN und auf IHN hin alles zu versöhnen,
Frieden schaffend sei es dem auf der Erde,
sei es dem im Himmel.“
Zuletzt: dieser Hymnus ist ein großes Lied. Es kann nicht durcheinander gesungen werden - nur unisono. Uns wird es zugesungen. Heute. Und wir stimmen ein. So werden wir Gemeinde. Heilige. Erlöste. Übermorgen und vor aller Zeit.


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  Palmarum

Palmarum

Cornelia Götz, Dompredigerin - 02.04.2023

Wenn ein König kommt - egal ob gekrönt oder nicht - dann wird ein roter Teppich ausgerollt und das Lieblingsessen recherchiert,
dann gibt es ein Empfangskomitee und jubelnde Menschen am Straßenrand, vielleicht sogar militärische Ehren vorm Brandenburger Tor,
dann gibt es einen Gabentisch und ein Festbankett und alle freuen sich, wenn in der Rede des Gastes jeder ein bisschen zum Zuge kommt und der König allgemeines Wohlgefühl verbreitet. Manches Problem wirkt im sanften Licht seiner Anwesenheit nicht mehr gar so scharfkantig und irgendwann reist er ja auch wieder ab und dann kann man seinen Enkeln davon erzählen und: that’s it.
An Palmarum erzählen wir uns eine ganz ähnliche Geschichte und doch kommt sie sehr anders daher. Auch hier kommt in ein König und reitet durch’s Tor in die Hauptstadt. Aber er hat kein richtiges Reittier und für die Deko müssen Zweige von den Bäumen gerissen werden. Manche erzählen sogar, dass die Menschen ihre Mäntel und Jacken als Polsterung für Sattel und Weg hergegeben hätten, damit er es wenigstens bisschen bequem hat.
Undenkbar in Berlin: der Protokollchef wäre gefeuert worden, wenn König Charles hätte unpassend und unbequem anreisen müssen oder gar Unklarheit geherrscht hätte, wer da eigentlich kommt.
Vor 2000 Jahren waren diesbezüglich erstaunliche Geschichten im Umlauf.
Man hörte, dass zu dem der kommt, Vieles passt, was in alter Zeit über einen neuen Herrscher erzählt wurde. Er scheint also tatsächlich ein König zu sein; zwar ist auch er ohne Krone - aber er kommt aus einer königlichen Familie obwohl er wahrlich nicht mit goldenem Löffel im Munde geboren wurde.
Auch dieser König trägt keinen Hermelin, nicht mal einen ordentlichen Straßenanzug.
Aber er riecht gut! Von König Charles wird diesbezüglich nichts berichtet. Von Jesus hingegen wird erzählt, dass ihm eine Frau Füße und Haar mit unverschämt kostbaren Öl gesalbt hat. Der Duft lag noch immer in der Luft. Der Preis des Öls hatte die Fantasie der Menschen angeregt. Was hätte man alles damit machen können…
Dieser seltsame König hatte das duftende Öl genossen und er hatte die Menschen um sich herum irritiert, weil er sagte, das wäre seine letzte Ölung, weil er demnächst sterben würde.
Dabei war er noch jung. Sehr jung.
Und begabt!
Wenn er redete strömten die Menschen zusammen und schrieben seine Worte auf, lernten sie auswendig. Wenn Not war und den Menschen das Nötigste fehlte, fand er Wege der Umverteilung, mit der alle zufrieden waren. Wenn das Wetter verrücktspielte, brachte er es mit einer einzigen Handbewegung in Ordnung. Und alle Krankheiten konnte er heilen! Letztlich hatte er sogar einen Toten wieder lebendig gemacht.
Wie ein Lauffeuer hatte sich das verbreitet. Und jetzt kommt er also in die Stadt! Das muss er doch sein! Sollte man so einen nicht unbedingt als Staatschef haben wollen? Würde es dem womöglich sogar gelingen, der Besatzungsmacht beizukommen und mit den mächtigen Nachbarn Frieden zu halten?
Oder ist er doch nur ein Verrückter?
Jedenfalls: das alles ist spannend genug, um zahllose Menschen auf die Straße zu bringen, Spalier zu stehen, stundenlang zu warten und dann zu winken oder zu rufen, vielleicht sogar zu singen. Sind es im Wortsinne Begeisterte oder solche, die verzweifelt genug sind, um auf so einen zu bauen?
In Berlin sind es wahrscheinlich Menschen, die Geschichten aus Königshäusern lieben, royale Hochzeiten verfolgen und Serienexperten sind - und auch solche, die England lieben oder da Wurzeln haben. Vielleicht waren auch ein paar Touristen dabei, die eigentlich nur das Herz der einst geteilten Stadt angucken wollten und dann in die Straßensperrung gerieten.
In Jerusalem waren es Menschen, die ohnehin zum Feiern in die Stadt und vor allem in den Tempel gekommen waren. Es waren Menschen, für die es selbstverständlich war, dass sie ihren Glauben mit allen anderen teilten und dass man gemeinsam betet und feiert. Es waren Menschen, für die Religion nicht etwas komisch Gestriges ist, sondern Fundament und Horizont ihres Lebens.
Wir sind heute aus vermutlich hier, weil der Kalender des Kirchenjahres auf Palmsonntag steht und wir in die Karwoche und auf Ostern zugehen, weil es uns gut tut, diesen Weg durch das Dunkel hindurch bewusst und nicht allein zu gehen.
Allerdings: es macht nicht die ganze Stadt mit. Wir müssen schon selber auf dem Burglatz „Hosianna“ singen, damit man es hört oder damit sich unser „Hosianna“ mit den Tönen aus anderen Kirchen verbindet und es gemeinsam zum Himmel schallt. Ein Grund zum Klagen ist das trotzdem nicht, sondern im Gegenteil ein Privileg, das uns heiligt und leben hilft.
Es ist gut, dass wir singen und warten wie die vor 2000 Jahren.
Nur wann, wann wird er kommen?
In Berlin wurde monatelang daran getüftelt, gearbeitet und gefeilt, wann und wie genau der König ankommen soll. Und genau heißt genau. Als ich noch persönliche Referentin des Landesbischofs war, habe ich bei einer Fortbildung mit den Protokollchefs des Bundespräsidialamtes und des Bundeskanzleramtes gelernt, dass man sich notfalls der Limousine des Gastes in den Weg zu werfen hat - falls Gefahr ist, dass der zu früh kommt. Auch wenn es ein König ist. Man mag mit Terroristen verhandeln können - mit Protokollchefs nicht.
Und wenn er zu spät, dann muss man die Wartenden bei Laune halten und die Sicherheit beruhigen. Ewig kann es ja nicht dauern.
Bei Jesus Christus ist das anders.
Bei ihm kennt Tag und Stunde keiner.
Es muss gewartet werden.
Bis die Zeit reif ist.
Bis sich vollendet, was passieren muss.
Als er endlich kommt, geschieht es nicht unbemerkt.
Es liegt was in der Luft, würden die einen sagen.
Gottes Geist bewegt die Menschen - die anderen.
Jedenfalls finden Füße die Richtung. Gott lenkt. Und so gehen sie diesem König entgegen und finden die richtigen Worte. „Hosianna!!! rufen sie. „Gelobt sei, der da kommt!" Eigentlich heißt das direkt übersetzt: „Hilf doch!“ Aber weil das Rufen der Menschen nicht wie ein Angstschrei klingt, sondern wie ein Vertrauensbeweis, hören wir „Hosianna“ eher wie „Hoch soll er leben!“
Daran merkt man, dass die vielen auf der Straße, die ganz normalen Leute, Kleine und Große, genau verstanden haben, was passiert und dass es wunderbar ist, dass dieser König jetzt kommt.
Bei den Profis ist es ein bisschen anders: die einen, die die ganze Zeit mit Jesus unterwegs waren, verstehen überhaupt nichts. Die anderen machen sich Sorgen, weil sie ahnen, wie das enden wird und die Dritten erschrecken sich, denn die vielen sogenannten kleinen Leute haben Recht. Dieser ist der König.
Und wir? Wir haben es gut. Wir gehen in den Fußstapfen derer, die vor uns waren. Wir können es schon wissen. Und noch vielmehr: wir müssen uns nicht erschrecken und fürchten. Wir leben ja schon ein bisschen in seinem Reich.
Und auch:
Unser Leben ist vermutlich ziemlich gut gelaufen, wenn wir die ganze Zeit an der Straße stehen - auf ihn warten und dabei Gottesdienst feiern - denn vielleicht schützt das uns am besten davor, sich wenige Tage später unter denen wiederzufinden, die „kreuzige ihn“ rufen.
Amen

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  Remniscerer / Äthiopien 1. Kön 10,1-13

Remniscerer / Äthiopien 1. Kön 10,1-13

Sabine Dreßler, OKR - 05.03.2023

I. Wie eine Geschichte aus TausendundeinerNacht hört sich das an:
märchenhaft, bunt, geheimnisvoll. Beinahe schon klischeehaft.
Aber wie herrlich und bezaubernd ist doch all das, was die Königin von Saba im Gepäck hat, wie prächtig sind die Schätze, von vollbeladenen Schiffen und Ka-mel-Karawanen herbeigebracht. Alles funkelt von Gold und Edelsteinen, es duf-tet nach Sandelholz, nach kostbaren Balsamölen und allerlei fremden Gewürzen allüberall!
Und wie großzügig und schön der Palast des Königs Salomo, das Ziel ihrer Rei-se. Wie köstlich die Speisen und Getränke, die der Gastgeber auftischen lässt, wie gepflegt und gediegen der Umgang in seinem Hause, die Kleider seiner Be-diensteten: alles glänzt, strahlt, spiegelt Wohlstand und erlesenen Geschmack wider.
In der sparsam erzählten Geschichte – gerade mal 13 Verse im Buch der Könige – begegnen sich zwei, die neugierig sind auf das Wissen, die Umgebung und die Geschichte des Gegenübers und – so war es üblich an den großen Höfen des Orients – sie stellen sich gegenseitig Rätselfragen, tragen sozusagen einen intel-lektuellen Wettstreit aus. Die Gastgeschenke sind quasi Nebensache, aber so ge-hört sich das, wenn Monarchen einander die Aufwartung machen.
Die Königin des Südens, wie Jesus sie sehr viel später nennen wird, und der Kö-nig von Israel, Salomo: Ihr Aufeinandertreffen ist legendär und hat im besten Sinne Geschichte geschrieben.
Und die ist mit einem der ältesten christlichen Länder der Welt eng verbunden, mit Äthiopien. Denn bei der wunderbaren Herrscherin soll es sich um Königin Makeda aus der äthiopischen Stadt Aksum handeln und sie und Salomo soll, so die außerbiblische Überlieferung, noch viel mehr miteinander verbunden haben als die bloße geistige Auseinandersetzung und das gemeinsame Tafeln.
Das Nationalepos Äthiopiens, das Kebra Negest, erzählt denn auch davon, wie aus der Verbindung der beiden ein Sohn hervorgeht, Menelik, der zum Ahnherr des äthiopischen Königshauses wird, durch die traditionsreiche Geschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein. In diesem kultur- und identätsstifenden Epos des Landes wird weitererzählt, wie die Königin, die bis dato Sonne, Mond und Ster-ne anbetet, zum Judentum konvertiert, denn, so sagt sie: „Von nun an werde ich nicht mehr die Sonne verehren, sondern den Schöpfer der Sonne: den Gott von Israel.“
Und Menelik, der gemeinsame Sohn, davon geht man aus, hat später die Bun-deslade nach Aksum, Äthiopien, überführt. Diese Truhe war für die Aufbewah-rung der steinernen Tafeln mit den 10 Geboten gemacht und garantiert die Ge-genwart Gottes. Sie wird bis heute in Aksum von einem Mönch bewacht und ist für niemanden zugänglich.
Die Äthiopische-Orthodoxe Kirche, mit 50 Mio Mitgliedern oder mehr, ist also seit ihrem Ursprung auf’s Engste mit den biblischen Ereignissen und der folgen-den Geschichts- und Identitätsbildung verwoben. Und sie die älteste heute noch existierende christliche Kirche im Subsahara-Afrika.
Seit ihrer Gründung im 4. Jahrhundert zeugen bedeutende Kirchen und Klöster, Bibliotheken, die Ikonenmalerei, frühchristliche Traditionen und Frömmigkeits-praktiken, riesige öffentliche Feste und mit dem Alltag verbundene christliche Symbole wie die besonderen Kreuze von einem fest verwurzelten und allgegen-wärtigen Glauben in Äthiopien.
„Gelobt sei der Herr, dein Gott, der an dir Wohlgefallen hat, sodass er dich auf den Thron Israels gesetzt hat! Weil der Herr Israel lieb hat ewiglich, hat er dich zum König gesetzt, dass du Recht und Gerehtigkeit übst.“ Rühmt die Königin aus Aksum der biblischen Überlieferung zufolge Salomo.

II. Aber wir sind heute hier, um für Äthiopien und seine Bevölkerung zu be-ten. Denn Recht und Gerechtigkeit fehlen in einem Maße, als hätte es sie nie ge-geben. Aus der märchenhaften Geschichte ist ein Abgrund von Krieg und Ge-walt, von Hunger und Tod geworden. Allein über die letzten 10 Jahre haben Dürre und Überschwemmungen, Heuschreckenplagen und die Folgen von Krie-gen und Flüchtlingsbewegungen das Land in kaum mehr vorstellbarer Weise zerstört. Der Krieg in der nördlichen Region Tigray und in angrenzenden Gebie-ten, der von November 2020 bis zum Waffenstillstand zwei Jahre später andau-erte, wurde jedoch kaum von der Weltöffentlichkeit wahrgenommen, schon gar nicht mehr angesichts des Krieges gegen die Ukraine. Wer soll denn das auch alles noch aufnehmen, sich damit auseinandersetzen?
Allein: Von 600.000 Toten und 2,5 Mio. Vertriebenen infolge des Krieges in Äthiopien ist auszugehen. Menschenrechtsorganisationen und die UN berichten von Massakern an der Zivilbevölkerung und zügelloser Gewalt gegen Frauen, die von allen beteiligten Parteien als Kriegswaffe gezielt eingesetzt worden ist, um die Gegenseite zu demütigen. Die Infrastruktur ist zerstört, die Zentralregie-rung blockierte die Lieferung von Hilfsgütern, zurückgeblieben ist ein kaputtes Land und unzählige verletzte Körper und Seelen.
Zur Zerstörung gehört aber auch, dass bedeutende christliche Orte und Kultur-güter, dass Kirchen, Klöster, Bibliotheken, Handschriften, Bilder und Ikonen in Tigray gezielt angegriffen und zerstört wurden. Wertvolle Kreuze und liturgi-sche Gegenstände wurden nach den Raubeszügen im Internet zum Verkauf an-geboten. Und, schlimmer noch: Viele Geistliche, christliche und muslimische, wurden gezielt ermordet, eben weil sie die Hüter des religiösen Erbes sind.
Das ist eine neue Form der Unterdrückung von Religion und von Christenver-folgung: indem die Bewahrer der religiösenTradition, und mit ihnen christliche Stätten und Schutzorte, Orte, die Gemeinschaft stiften und eine Gemeinde spiri-tuell stärken, überfallen und ausgelöscht werden, sollen Tradition und Identität von Menschen auf Dauer zerstört werden. Wenn nichts mehr da, wohin ich flüchten kann, wo ich mich bergen kann, wenn Gebetsstätten und Räume, die der Gemeinschaft heilig sind, weggefegt sind, wenn niemand mehr da ist, der mit mir Trauerrituale abhält und Trost spenden kann, dann soll damit der soziale Zusammenhalt, aber auch das Innere von Menschen gebrochen werden. Dann hat der Gegner gewonnen.
Die Hintergründe für diesen Krieg, der an einen Völkermord grenzt, sind hoch-kompliziert. Es geht um die Interessen der Zentralregierung gegen regionale Macht, um alte politische Feindschaften, um rivalisierende Interessen verschie-dener Bevölkerungsgruppen, um den Machteinfluss des benachbarten Eritreas. Wenn aber auf beiden Seiten solcher Kämpfe Christen beteiligt sind, dann ist das noch einmal eine höhere Stufe der Perversion von Verfolgung.
Wie soll das jemals wieder anders, vielleicht sogar gut werden? Wieviele Gene-rationen wird es dafür brauchen, vorausgesetzt: der ausgehandelte brüchige Frieden hält und wird gestärkt. Und all dies ist umso schwieriger, als dass Men-schen derzeit um ihr tägliches Überleben, um ihr täglich Brot, um ein Dach über dem Kopf, um die einfachste medizinische Versorgung kämpfen müssen.
Aber auf Zukunft hin gesehen: haben Versöhung, hat Heilung überhaupt eine Chance?
Wir wären nicht Christen, wenn wir nicht trotz allem, was dagegenspricht, da-rauf unsere Hoffnung setzen: dass Unrecht, Gewalt, Not und Leid nicht bleiben, nicht das letzte Wort und die letzte Macht haben. Deshalb sind wir heute auch hier zusammen und deshalb erinnern wir an die Situation der Geschwister in Äthiopien: um darum zu bitten und uns – auf welche Weise auch immer – dafür einzusetzen, dass Menschen Hilfe erfahren, Recht und Gerechtigkeit wieder ein-ziehen, dass Friede werden kann. Amen



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  Invokavit

Invokavit

Cornelia Götz, Dompredigerin - 26.02.2023

Da sitzt Gott also mit seinem Hofstaat und ich stelle mir vor, dass vielleicht auch Hans und Sophie Scholl dabei sind, deren Hinrichtung sich gerade jährte, ihre Eltern und womöglich ihre ungeborenen Kinder. Ich sehe junge Ukrainer und Russen, die im letzten Jahr gefallen sind neben denen aus dem Krieg davor. Vielleicht sitzen auch meine Großmütter in der Runde und die zu früh gestorbenen Freunde und unser Altbischof, der morgen Geburtstag hätte
Und Gabriel natürlich, der sich alle Jahre ein Bild von jungen Frauen macht, die in Notsituationen geraten…
Sie sitzen und erzählen sich oder hören zu, was Gott sich angesichts dessen denkt, was hier unter uns geschieht.
Ob sie alle dasselbe sehen durch Gottes Augen oder sieht jede etwas Anderes?
Sehen die einen viel zu junge Menschen, die in Gefängnissen gefoltert werden, weil sie den Mund nicht halten konnten und die anderen ihre Kinder, die nun allein erwachsen geworden sind? Sieht meine Großmutter die Frauen ihrer Familie und ihren Geschichten, dass sie vor Gewalt verschont geblieben sind? Sieht meine Großmutter, dass mein Mann nicht in den Krieg muss?
Oder sehen sie alle auf den Horizont der Erdenzeit, den wir nur erahnen?
Schauen sie hierher? Zu uns?
Da kommt Satan, von dem wir nicht wissen, wer er ist. Das personifizierte Böse oder die Versuchung schlechthin, ein Beamter, ein Spitzel, ein Beobachter oder gar Gottes alter Ego, die Projektion dessen, mit dem ER innere Zwiesprache hält?
Gott jedenfalls kennt ihn…
Wo kommst Du her? Fragt Gott.
Was hast Du gemacht, womöglich angerichtet?
Gott fragt.
Und in unserem Gottesbild entsteht ein Riss, der im Laufe dieser Geschichte tiefer werden wird.
Fragt Gott sich das wirklich? Weiß er es nicht? Oder will er es nur laut hören, damit es alle hören?
Rumgestromert sei er. Hier und da gewesen. Überall eigentlich.
In der Runde nicken sie. Ja, für einen wie ihn gibt es an allen Ecken der Erde was zu sehen und zu tun, was er sät, gedeiht allermeist vorzüglich.
Warum fragt Gott nicht weiter?
Will er nichts hören von den katastrophalen Zuständen in Syrien oder dem Hunger in Afrika. Gott fragt nicht, nach den Gefängnissen in Belarus und dem Iran. Er fragt nicht, nach den Krankenhäusern, den verzweifelten Patienten und übermüdeten Personal, nach den Kindern …
Ihn interessiert nur ein Einziger.
Hiob.
„Hast du acht auf meinen Knecht Hiob gehabt? Denn es ist seinesgleichen auf Erden nicht; du aber hast mich bewogen, ihn ohne Grund zu verderben.“
Hiob - der ein guter Mensch ist, der sich nicht verbiegen lässt.
Hiob - der wider alle Vernunft festhält an ihm, Gott.
Hiob - dem es schlecht geht, weil Gott dem Bösen nachgegeben hat.
Hiob - nach dem Gott offenbar selbst nicht guckt.
Weil es schmerzt? Weil er sich schämt?
Darf man so von Gott zu reden? Oder muss man es - wegen des Risses im Bild?
„Dein Wille geschehe“ beten wir und oft genug kommt es uns schwer über die Lippen.
Was mag Hiob gebetet haben?
„Sei gepriesen - du gibst und nimmst den Segen?“
„Und reichst Du uns den schweren Kelch den bitteren“ - denkt sicher einer in der himmlischen Runde.
„Hattest Du auf Hiob acht?“ fragt Gott.
Was soll das genau heißen?
Hast Du auf ihn Achtgegeben?
Hat er deine Achtung verdient?
Hast Du ihn beobachtet?
Diesen Hiob, der in tiefstem Unglück sitzt, weil Gott ihn - sagen wir mal - testet und sein Glück verwettet hat. Weil Gott sich von Satan oder aus einem eigenen Impuls heraus vergewissern wollte, ob es wenigstens einen Menschen gibt, der an ihm hängt - nicht aus Dankbarkeit für ein gutes Leben, sondern überhaupt - umsonst.
Hattest Du acht?
„Haut für Haut“ antwortet der Satan. Ein Mensch gibt alles her, wenn er nur sein Leben behält. Stimmt das? Stummes Kopfschütteln in der Runde.
Hiob hatte nicht nur sein Hab und Gut verloren, sondern auch seine Kinder.
Vermutlich hätte er sein Leben gern gegeben, um sie zu retten. Aber er hatte gar keine Wahl.
Das Leid, das über ihn kam, kennt nur eine Grenze - er soll daran nicht sterben.
Das weiß Hiob nicht. Aber die, die um Gott herumsitzen, die wissen es und sie sind nicht verschont worden: sie sind ermordet worden oder waren zur falschen Zeit alt genug, um in den Krieg zu müssen; sie sind an beschissenen Krankheiten gestorben oder an gebrochenem Herzen, einsam alt geworden oder verunfallt.
Hiob ist noch da. Der zweite Schlag steht noch aus.
Wenn es erst an den Leib geht, an die Gesundheit - dann, da ist sich der Satan sicher, wir Hiob zusammenbrechen.
Und so schickt er schreckliche Geschwüre…
Hiobs Frau kann es nicht fassen. Stirb doch! Verfluche Gott endlich! ER lässt das zu! ER beschützt dich nicht. Er ist nicht so, wie Du dachtest, gnädig und barmherzig. Stirb, gib dich geschlagen. Lass ihn gewinnen!
Aber Hiob verbietet ihr den Mund? Wer würde dann gewinnen?
Ich sehe die Runde oben:
Sollte Gott auch mit ihnen gespielt, ihr Lebensglück verwettet haben?
Sollte Gott nicht für möglich gehalten, dass sie zu im stehen würden und hat er deshalb ihr Leben nicht verschont?
Nicht mal das der tapferen Sophie Scholl?
Was für Gedanken. Wo kommen die her?
Ist das der Satan, der jetzt mich verführt???
Hiob kennt diese Gefahr. Der Satan hat es versucht bei ihm.
Hiob denkt das nicht. Er hat keinen Anspruch auf das Gute in seinem Leben und es doch überreich erfahren. Er hat keinen Anspruch auf Verschonung.
Hiob will nicht loslassen. Er will Gott nicht loslassen.
Ja, es quält. Es macht ihn wund. Er kratzt sich mit der Scherbe. Aber widersetzt sich der Versuchung, sein Leid mit seinem Leben gleichzusetzen, er ist mehr.
Die oben sehen es auch.
Diese merkwürdige unwahrscheinliche Kraft, diese menschliche Möglichkeit!
Manche erlebten das. Sie wussten nie genau: War es Hoffnung. War es Würde? War es Glaube?
Es trug.
Andere hätten das gern gespürt - so festhalten wollen.
Hiob ist eine Zumutung.
Man kann es nicht mit ansehen. Aber es kommt nichts über seine Lippen.
Dafür kommen seine Freunde.
Sie haben keine Antwort. Sie sagen nichts, was den Riss kitten und da rausführen könnte.
Sie schweigen.
Sie halten den Schmerz mit ihm aus. Sieben Tage und sieben Nächte lang. Trost wird zur Lüge wo Trauer nicht möglich ist. Das wissen sie und warten, bis auch Hiob klagen und wüten, kämpfen und weinen kann. Bis es aus ihm herausbricht und er mit Gott ringen wird. Das ist kein Spiel!
Hiob wird Gott nicht loslassen.
Hiob verzweifelt an Gott. Aber zweifelt nicht an ihm.
Und noch etwas: Hiob erlebt ein Trauma. Er könnte sich die Schuld geben und Fehler bei sich suchen und wenn er die hätte, endlich einen Grund finden, dass es ihm schlecht geht.
Aber das tut er nicht.
Wir sind am Anfang der Passionszeit. Es ist ein Schmerzensweg.
Es gibt keine einfache Antwort.
Schweigen sie oben auch? Mit Hiob, mit uns, mit Gott?
Am Ende bleiben sie doch stets bei Dir. Amen

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  Estomihi

Estomihi

Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt - 19.02.2023

„Schöne Kostüme überall, wir feiern heute Karneval“ - in gut zwei Stunden wird unter diesem Motto der Karnevalszug hier durch die Innenstadt ziehen, bunte Kostüme, fröhliche Menschen, Musik und sicher auch viele Kamellen. Ich erinnere mich noch gut, wie viele Menschen der Braunschweiger Karneval anziehen kann und wie viel ausgelassene Feierlaune er hervorlocken kann. Sicher wird das in diesem Jahr, nach zwei Jahren Corona bedingter Pause, nicht viel anders sein. Denn viele sehnen sich nach unbekümmertem Feiern in großer Gemeinschaft, nach ausgelassenen Momenten, in denen die so drängenden Fragen und Herausforderungen unserer Zeit einmal nicht im Vordergrund stehen. Und genau da kommt die alte Karnevalstra-dition und die Begeisterung dafür ja auch her: bevor es in eine Zeit der Buße, des Fastens und der Besinnung auf das geht, was Leid und Tod im Leben bedeuten, noch einmal eine richtig große Sause, ein paar Tage lang. Vor dem langen Blick der Passionszeit auf Leid und Vergänglichkeit, vor der ihr folgenden grandiosen Auferstehungsbot-schaft von Ostern, das neues Leben selbst den Tod besiegen wird, vor alledem sich in großer Feierlaune noch einmal rüsten für das, was uns täglich vor Augen steht: alles ist in Bewegung, alles verändert sich, nichts bleibt, wie es ist. Wie aber lässt sich jenseits der schönen Kostüme und Karnevalslaune alltäglich leben mit dieser keinesfalls leicht auszuhaltenden Einsicht? Wenn sich alles ändert und in Bewe-gung ist, was gibt dann Halt und Geborgenheit? Was bleibt?
II
„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Lie-be ist die größte unter ihnen.“
Es gibt wohl nur wenige Sätze der Bibel, die so bekannt sind wie die-ser. Kinder werden unter diesen Worten getauft, Paare wählen sie als Trauspruch, und am Ende eines Lebens stehen sie oft als Trost und Halt inmitten von Trauer, Schmerz und Tod. Worte, in die man über-glücklich einstimmen kann, an denen man sich voller Hoffnung fest-halten kann. Auch Worte, denen man in Augenblicken der Verzweif-lung vehement widersprechen mag. Und dennoch: diese Worte stehen da, bleibend, vergewissernd, wie ein Fels in der Brandung. Als Kraft und Hoffnung schenkende Worte.

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Lie-be ist die größte unter ihnen.“
Unzählige Menschen haben sich diesen Worten und ihrem Trost an-vertraut, vielleicht auch manche von uns, die wir heute Morgen hier sind. Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: sie sind immer auch ein Zutrauen in die Zukunft. Denn diesen drei ist eines gemeinsam, so beschreibt es der Apostel Paulus: sie bleiben. Für Paulus sind sie sogar die einzigen Dinge, die bleiben über Jahre und Jahrtausende hinweg. Zuflucht schenkende Worte, an denen sich festhalten kann, wer Halt verliert. Worte auch, an denen man sich reiben kann in Zei-ten des Zweifels und der Verzweiflung.

Denn die Rede von der verlässlichen Anwesenheit von Glaube, Hoff-nung, Liebe wäre unvollständig, wenn zu ihr nicht auch das Erschre-cken über ihre Abwesenheit gehörte. Wie weiter reden von der ver-lässlichen Präsenz von Glaube, Hoffnung und Liebe, wenn ein schreckliches Erdbeben unzählige Leben vernichtet und uns erschüt-tert bis ins Mark? Wie auf den dreistimmigen cantus firmus von Glaube, Hoffnung, Liebe trauen angesichts des unsäglichen Leides, das Menschen einander zufügen? Dem völkerrechtswidrigen An-griffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist von Christinnen und Christen ja auch deshalb immer wieder entgegenzutreten, weil er allen Grundprinzipien des Glaubens, der Hoffnung und insbesondere der Liebe fundamental widerspricht.

III
Der in der christlichen Tradition gern auch als „Hohelied der Liebe“ bezeichnete, so ermutigend schöne Lobgesang der Liebe, hat aber auch Schattenseiten. Schattenseiten, die sich besonders verbunden haben mit den Worten: „Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“

Oft sind diese Worte als Forderung missbraucht worden – als Forde-rung, um der Liebe nicht aufzumucken, nicht zu widersprechen, alles auszuhalten, alles zu erdulden, selbst dann, wenn es Gewalt und Leid waren. Und genau solchen Forderungen gilt es zu widersprechen, auch heute. Denn weil sich die Liebe an der Wahrheit freut, wie es ebenfalls im Hohelied der Liebe heißt, weil sich die Liebe an der Wahrheit freut, nicht aber an der Ungerechtigkeit, deshalb erträgt sie auch nicht „alles“, glaubt sie nicht „alles“ und duldet sie auch nicht „alles“. Sie ist die Liebe, die sich aus der Gegenwart des lebendigen Gottes speist. Mit ihr ergreift Gott Partei für die, die unterdrückt, erniedrigt, ausgebeutet, missbraucht werden.

Diese Liebe ist der Einspruch Gottes gegen alles, was Leid und Tod bringt. Sie ist nicht ein Gefühl oder eine Kraft des Menschen, son-dern eine Kraft Gottes. Wir Menschen können sie nicht machen. Aber wir können sie als Geschenk empfangen, mit dem Gott alles Leben durchdringt, verwandelt und erhält.

IV
„Die Liebe hört niemals auf.“ Diese Liebe, die niemals aufhört, ist keine menschliche Liebe. Denn unsere Liebe, und sei sie auch noch so groß, findet immer ihr Ende – ob wir das wollen oder nicht, ob wir das aushalten können oder daran zu zerbrechen meinen. Unsere menschliche Liebe ist endliche Liebe. Das macht sie menschlich – und deshalb vielleicht auch so kostbar, wenn wir sie – auf begrenzte Zeit – erleben dürfen.

„Die Liebe hört niemals auf.“ Die Liebe, die niemals aufhört, ist göttliche Liebe. Eine Macht, die unendlich ist, die die gesamte Welt umgibt. Diese göttliche Liebe ist es, die uns im Innersten ergreift, unsere Herzen erweicht, unsere Hände zum Handeln bringt – nicht der moralische Anspruch, doch gut zueinander zu sein.

V
„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber wer-de ich erkennen, wie ich erkannt bin.“
Das Leben ändert sich, wenn man von der Macht der göttlichen Liebe ergriffen wird. Der Blick auf das Leben wird anders. Und auch der Blick auf sich selbst: „Ich werde erkennen, wie ich erkannt bin.“

Was auch immer diese Worte objektiv bedeuten mögen - entschei-dend ist, welches Selbstverständnis sie uns eröffnen. Erkennen, wie ich erkannt bin, das bedeutet zu spüren, dass einer, dass Gott um uns weiß, so wie wir sind, wie wir wirklich sind. Und dass wir uns so nicht verstecken, nicht ängstigen, nicht fürchten müssen. Wer von der Liebe ergriffen ist, könnte das bedeuten, wer von der Liebe Got-tes ergriffen ist, lässt die Furcht hinter sich. Die Furcht vor Erfah-rungen, die die Liebe mit sich bringen kann. Die Furcht vor der End-lichkeit menschlicher Liebe. Die Furcht, nicht genügend geben zu können oder nicht genügend bieten zu können. Und wird frei, selbst aus der Liebe Gottes zu leben.

V
„Ich werde erkennen, wie ich erkannt bin.“ - „Die Liebe hört niemals auf.“ Die Liebe Gottes wird weiter fließen. Sie wird auch weiterhin dafür sorgen, dass Menschen einander zum Hoffnungszeichen wer-den. Sie wird auch weiterhin mit all ihrer Macht Menschen ergreifen und Angst, Hass und Gottvergessenheit aus ihnen vertreiben. Die Liebe Gottes ist die Kraft, die bleibt. Sie bleibt, selbst wenn wir Glauben und Hoffnung verlieren, sie bleibt selbst dann, wenn wir unser Leben verlieren oder das derjenigen, die wir lieben. Auch des-halb ist sie größte. Sichtbar geworden ist das im Lehren, im Leben und in Tod und Auferstehung Jesu Christi. In ihm erschließt sich Gottes Wesen: Leben schaffende Liebe, die alles, was ihr entgegen-steht, nicht verleugnet, sondern sich gerade in ihnen als Liebe zeigt, die stärker ist als Hass und Tod.

Diese Liebe und der Frieden, die sie schenkt, sind das Ziel aller Ge-schichte. Damit über uns und unserer Welt am Ende nicht Kriegsge-schrei ertönt. Statt dessen aber Lobgesang, weil nicht mehr Hass und Gewalt uns beherrschen, sondern die Liebe Christi unsere Herzen regiert. Und wo diese Liebe uns ergreift, so hat es der Liedermacher Gerhard Schöne einmal gedichtet – da lässt sie, ob mit oder ohne Karneval, lachen unsern Mund, erhellt uns das Gesicht, küsst unser Herz gesund. Amen


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  Ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine – Wie kann Frieden werden?

Ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine – Wie kann Frieden werden?

Arnd Henze - 07.02.2023

Wenn die Menschen in der Ukraine heute Abend zu Bett gehen, kann ihr Überleben wieder davon abhängen, dass das Smartphone genug Akku hat. Sie brauchen das Handy: für die App „AirAlert“. Fast jede Nacht schlägt diese App Alarm – manchmal nur einmal, manchmal drei oder vier Mal. Dann bleiben ein paar Minuten, um in die Luftschutzkeller zu laufen. Und wenn der Strom ausgefallen ist und der Aufzug nicht fährt, dann wissen die Menschen, welchem älteren Nachbarn sie noch helfen müssen, die acht oder zehn Stockwerke durch das Treppenhaus zu schaffen.
So sieht die Alarmkarte an vielen Tagen aus (Foto zeigen) – das Gebiet der Ukraine fast vollständig in rot gefärbt. Als ich die Grafik festgehalten haben, kamen die Luftangriffe nicht nachts, sondern in den Mittagsstunden. Am Abend konnten wir dann in der Tagesschau die Bilder von dem zerstörten Wohnhaus in Dnipro sehen – allein hier kamen fast 40 Menschen ums Leben. Und glauben Sie mir: zu den schwierigsten Aufgaben im Schneideraum gehört es oft, die Bilder auszuwählen, die abends um 20 Uhr für ein Millionenpublikum noch vertretbar sind.
Wie kann Frieden werden? Wenn Sie einen hoffnungsvollen Ausblick auf ein baldiges Ende der Gewalt und des Leidens erhofft haben, dann werde ich sie enttäuschen müssen. Ich werde Ihnen in der nächsten halben Stunde viel zumuten, weil die Realität uns – und den Menschen in der Ukraine noch unendlich viel mehr zumutet. Es ist gut, dass wir nach dem Vortrag Gelegenheit zum Gespräch haben werden – aber lassen Sie uns bei all dem nie in Frage stellen, dass uns die gleiche Frage bewegt: Wie kann Frieden werden?
Bei der Suche nach Antworten schauen viele auf Dietrich Bonhoeffer. Das hängt sicher damit zusammen, dass viele uns durch die Friedensbewegung der 1980er geprägt sind und Bonhoeffer unsere friedensethischen Debatten ganz entscheidend mitgeprägt hat. Aber was bedeutet das für die Situation heute?
In Veranstaltungen wie dieser heute Abend prallen dann häufig mit großer Entschiedenheit extrem gegensätzliche Antworten aufeinander. Fast immer jemand und zitiert aus der berühmten Morgenandacht von 1934, in der Bonhoeffer einen fundamentalen Gegensatz zwischen Sicherheit und Frieden behauptet: „Frieden als Wagnis“, Frieden, der sich niemals sichern lasse – daraus wird dann abgeleitet, dass man der Ukraine heute niemals Waffen liefern dürfe und auf die Kraft der Verständigung setzen müsse.
Mit der gleichen Erwartbarkeit meldet sich dann oft jemand, der ein anderes berühmtes Wort von Bonhoeffer zitiert: nämlich das von dem Rad, dem man in die Speichen greifen müsse – und deshalb müsse man der Ukraine heute Waffen liefern.
Wenn es gut läuft, einigen sich dann alle gut christlich auf ein drittes verkürztes Bonhoeffer-Zitat: dass wir nämlich alle irgendwie schuldig werden.
In der Regel schaue ich mir das Ganze eine Weile an – und beende diese ermüdenden Versuche, Bonhoeffer zu vereinnahmen, mit einem letzten Zitat: „Was „immer“ wahr ist, ist gerade heute nicht wahr“!

Liebe Schwestern und Brüder, diese ritualisierten Debatten, die jeweils einzelne Zitate absolut setzen, zeigen vor allem eines: Wenn Bonhoeffer für uns heute - und gerade jetzt! - wichtig sein soll, dann werden wir ihn vom Sockel holen müssen und seine Texte nicht in ihrer zeitlosen Gültigkeit, sondern in ihrem Ringen mit ganz konkreten Herausforderungen lesen müssen – und uns in unserer Realität heute mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Unbedingtheit herausfordern lassen, wie das Bonhoeffer in seiner Zeit getan hat.
Die Rede, die Dietrich Bonhoeffer am 28. August 1934 auf der ökumenischen Jugendkonferenz gehalten hat, war von einer sehr konkreten Sorge getragen: der Sorge, dass der Machtanspruch der Nationalsozialisten mit seinem imperialen Wahn zwangsläufig zu einem Angriffskrieg gegen die europäischen Nachbarn führen würde.
Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund, die offene Aufrüstung über die Begrenzungen des Versailler Vertrags hinaus, die entstehenden Allianzen mit Faschisten in anderen Ländern: das waren klare politische Signale. Und man spürt Bonhoeffers Verzweiflung, dass weder in Deutschland, noch in Europa die Bereitschaft da war, diese Zeichen an der Wand zu lesen und ernst zu nehmen.
Im Gegenteil: in manchen westlichen Ländern gab es eher die Versuchung, sich auf schmutzige Deals mit Hitler einzulassen, viele sahen in ihm und einem auch militärisch wieder erstarkten Deutschland gar so etwas wie ein vorgeschobenes Bollwerk gegen die Bedrohung durch die Sowjet-Union.
Dieser brandgefährliche Mix aus imperialer Kriegsvorbereitung in Deutschland und dem blinden Taktieren des Westens gegenüber diesem Deutschland: das ist der Kontext, in dem Bonhoeffer seinen scharfen Gegensatz zwischen Frieden und Sicherheit konstruiert. Bonhoeffers Leidenschaft, mit der er gegen die Illusion von Sicherheit polemisiert – sie gründet in dem scharfen analytischen Blick, dass das als Friedenspolitik verbrämte Taktieren der Welt gegenüber Deutschland am Ende in die Katastrophe des Krieges führen wird: „Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? d. h. durch die Großbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und läßt sich nie und nimmer sichern.“
Bonhoeffers Antwort auf die Kriegsgefahr durch das Hitlerregime war 1934 eine pazifistische – das Wagnis des Friedens, getragen von der Hoffnung, dass die Kirche Jesu Christi „ihren Söhnen im Namen Jesu Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt“.

Liebe Gemeinde, das war und das war kein Schönwetter-Pazifismus, dem es um das eigene ethische Reinheitsgebot ging. Das war die verzweifelte Hoffnung, die Kirchen der Welt auf eine Ächtung des Krieges zu verpflichten. Eine Ächtung, die vor allem eines bedeuten würde: dem am Horizont schon sichtbaren Angriffskrieg Hitlers den entschlossenen Widerstand der weltweiten Christenheit entgegenzusetzen. Nicht irgendwann, sondern hier und jetzt: „Wir können es heute noch tun. Das ökumenische Konzil ist versammelt. Es kann diesen radikalen Ruf zum Frieden an die Christusgläubigen ausgehen lassen.“
Bonhoeffer hätte diesen Ruf gerne mit nach Deutschland genommen, zurück in die Bekennende Kirche, die doch noch so tief im Militarismus des Kaiserreichs gefangen war - und für Hitlers Kriegspläne ebenso blind war, wie für die Verfolgung und sich abzeichnende Vernichtung der Juden. Bonhoeffer hatte beides im Blick. Und sein Ruf zur Ächtung des Kriegs und sein Appell, dem Rad in die Speichen zu greifen, wo Menschheitsverbrechen drohen, sind deshalb kein Gegensatz, sondern gehören untrennbar zusammen.
Wolf Biermann hat einmal gesungen: „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“. Bonhoeffer blieb sich gerade darin treu, dass er die Ächtung des Krieges weiter als eine ökumenische Aufgabe verfolgte – auch wenn die radikalpazifistische Perspektive immer weiter in den Hintergrund trat. An die Appeasement-Politik des Westens hat er jedenfalls ebenso wenig geglaubt wie Karl Barth. Der schrieb am Vorabend des Münchener Abkommens von 1938 an den Prager Theologen Hromadka:
„Das eigentlich Furchtbare ist ja nicht der Strom von Lüge und Brutalität, der von dem hitlerischen Deutschland ausgeht, sondern die Möglichkeit, dass in England, Frankreich Amerika – auch bei uns in der Schweiz – vergessen werden könnte: mit der Freiheit ihres Volkes (also Tschechien) steht heute nach menschlichem Ermessen die von Europa und vielleicht nicht nur von Europa. Ist denn die ganze Welt unter den Bann des bösen Blickes der Riesenschlange geraten? Und muss sich der Pazifismus der Nachkriegszeit nun wirklich in einer so schrecklichen Lähmung aller und jeder Entschlusskraft auswirken?“
Anders als Karl Barth hat sich Bonhoeffer selbst in dieser Zeit mit öffentlichen Äußerungen zurückgehalten, weil er da bereits im Kontakt mit dem politischen Widerstand gegen Hitler stand. Aber noch im Frühjahr 1939 ist er nach London gereist, um seine Gesprächspartner vor jeder Illusion mit Blick auf dessen Kriegspläne zu warnen. Und NEIN: er hat nicht dafür plädiert, eine drohende Annektion Polens um des lieben Friedens willen als vermeintlich geringeres Übel in Kauf zu nehmen!

Liebe Schwestern und Brüder, ich weiß: das ist nicht das, was sich manche von Ihnen von einer Rede „Wie kann Frieden werden?“ erwartet haben. Und ganz ehrlich: ich habe Bonhoeffers so kraftvolle Rede über das Wagnis Frieden auch viele Jahre anders gelesen – und sie schon vor 40 Jahren in der Begründung meiner Kriegsdienstverweigerung ausführlich zitiert.
Aber für mich bedeutete der Völkermord 1994 in Ruanda die „Zeitenwende“, in der manche meiner pazifistischen Überzeugungen der Realität nicht mehr standhielten. Ich erinnere mich an ein langes Interview, das ich damals mit Kofi Annan führen durfte – in der er mir von den vergeblichen Bemühungen erzählte, damals die nötigen Soldaten für eine robuste UN-Friedensmission zu bekommen. Die hätte vielleicht das Schlimmste verhindert - und den Menschen zwar sicher keinen Frieden, aber vielleicht vielen von ihnen die Sicherheit des Überlebens ermöglicht.
Dieser Erschütterung meiner Gewissheiten sind seitdem viele weitere gefolgt: auf dem Balkan und in Tschetschenien, in Afghanistan und Syrien, in Libyen und im Irak, im Südsudan und Mali – und schon lange vor dem 24. Februar auch in der Ukraine.
„Wie wird Frieden?“ Bonhoeffer ist dieser Frage treu geblieben, nicht obwohl, sondern weil er sie 1938 und 1939 ganz anders beantwortet hat, als in seiner großen Rede in Fanö 1934.
„Wie wird Frieden?“ Diese Frage nimmt uns auch heute niemand ab – und wenn wir etwas von Bonhoeffer lernen können, dann diese bedingungslose Bereitschaft, sich nicht mit ewig gültigen friedensethischen Wahrheiten oder mit ein paar aus dem Kontext gerissenen Bonhoeffer-Zitaten aus der eigenen Verantwortung zu stehlen - sondern uns mitten hinein zu begeben in die Dilemmata und Aporien dieses Krieges, der gerade die fundamentalen Prinzipien des Völkerrechts, vom Westfälischen Frieden bis zur Charta von Paris mitzertrümmert.
Zur Wahrheit gehört aber auch: je genauer wir in diesem furchtbaren Krieg hinsehen, desto schmerzhafter werden die Abwägungen. Und Abwägungen - das meine ich ganz wörtlich. Um mir ein Urteil zu bilden, versuche ich mir immer das Bild einer Waage vorzustellen, auf der sich auf beiden Seiten die Schalen bleischwer füllen. Da gibt es nur selten ein einfaches Richtig oder Falsch – und trotzdem kann die Waage nicht in der Schwebe bleiben. Am Ende werden wir Entscheidungen treffen müssen – und diese Entscheidungen haben Folgen, für die wir Verantwortung übernehmen müssen und darin nicht irgendwie, sondern sehr konkret schuldig werden.
Ich möchte versuchen, das an einem Beispiel anschaulich zu machen: in den ersten Wochen des Krieges gab es von Seiten der Ukraine den verzweifelten Hilferuf, die Menschen in den Städten und Orten mit einer Flugverbotszone zu schützen. Nichts war aus ukrainischer Sicht verständlicher und legitimer, als dieser Wunsch, vor den tödlichen Luftschlägen der Cruise Missile und Iskander-Raketen geschützt zu werden. Aber es gab mindestens ebenso gute Gründe, diese Bitte nicht zu erfüllen.
Ich erinnere mich gleich in den ersten Kriegswochen an eine große Veranstaltung im Sauerland, als ich auf dem Podium saß und diese Argumente gegen einen Flugverbotszone so gut ich konnte vertreten habe. Und ich glaube, es ist mir auch einigermaßen gelungen zu erklären, welche unkalkulierbaren Risiken und Eskalationsgefahren eine solche Flugverbotszone bedeuten würde.
Auf der Rückfahrt saß ich dann im Regionalexpress und sah auf Twitter ein Video, in dem Opernchor und Opernorchester von Odessa auf dem Vorplatz der Oper den berühmten Gefangenenchor von Odessa aufgeführt haben - und dann ein Musiker nach dem anderen an die Welt appellierte, ihre Stadt gegen die Angriffe aus der Luft zu schützen: also genau das, wogegen ich gerade mit vielen guten Argumenten gesprochen hatte. Ich hatte dazu noch die Musik im Ohr - und in dem Moment konnte ich einfach nur noch heulen.
Und noch mehr habe ich geweint, als ein Tag später das Stadttheater von Mariupol von einer Rakete getroffen wurde, wo mehr als 1000 Menschen Zuflucht gesucht hatten – in der vergeblichen Hoffnung, zumindest an diesem Ort der Kultur einigermaßen sicher vor dem russischen Bombenterror zu sein.
Die politische Vernunft sagt mir immer noch, dass eine Flugverbotszone auch dieses Kriegsverbrechen nicht verhindert hätte. Aber mein Herz hadert bis heute! So, wie es Matthias Claudius in seinem Kriegslied schreibt:
„Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß
Die Geister der Erschlagenen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?“
Gerade, weil wir der Ukraine im Frühjahr mit guten Gründen nicht geben konnten, worum uns die Menschen dort angefleht haben: sollte ich heute nicht dankbar sein über jeden einzelnen Menschen, jede Rentnerin und jedes Kind, die nach einer bangen Nacht im Luftschutzkeller lebendig in ihre unzerstörte Wohnung zurückkehren kann - weil Luftabwehrsysteme auch aus Deutschland inzwischen zumindest jeden zweiten Marschflugkörper, jede zweite Iskanderrakete oder iranische Drohne unschädlich machen, bevor sie ganz gezielt in Wohn- und Krankenhäuser von Kiew, Odessa oder Charkiw einschlagen – weit ab der Front? Jeder einzelne dieser Angriffe ein Kriegsverbrechen, in ihrer Summe ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit! Für all diese Menschen bedeutet das „Wagnis Frieden“ heute ganz sicher etwas anderes, als für jene, die der Ukraine in Talkshows, offenen Briefen und mitunter auch in kirchlichen Gemeindehäusern empfehlen, sich der russischen Aggression zu ergeben.
Und deshalb ein notwendiges Wort zum Ruf nach Verhandlungen und einer diplomatischen Lösung. Alle Zeichen deuten auf eine große russische Offensive – spätestens im Frühjahr, möglicherweise schon in ein paar Tagen oder Wochen. Ich verstehe jede und jeden, der fragt: gibt es nicht einen Weg, diese neue Phase von noch mehr Leiden und Blutvergießen zu verhindern. Die bittere Wahrheit ist: Nichts deutet darauf hin, dass Russland von seinen aggressiven Zielen ablassen wird. Putin scheint fest entschlossen, zumindest Städte wie Cherson und Charkiw erneut erobern zu wollen – und je weniger Widerstand er dabei vermutet, desto größer die Gefahr, dass er einen weiteren Versuch unternimmt, am Ende doch das ganze Land unter seine Gewalt zu bringen. So schwer es mir selber fällt, es auszusprechen: Nach allem, was ich erkennen kann, wird es für die Ukraine die einzige Möglichkeit sein, sich dieser Aggression mit dem eigenen Militär so erfolgreich entgegenzustellen, dass Putin überhaupt einen Sinn darin erkennen könnte, ernsthaft zu verhandeln. Und ernsthaft heißt: ein Ergebnis, dass dem Völkerrecht wieder Geltung verschafft und seinen Bruch durch Russland nicht belohnt.
Das verlangt aber umso mehr, auch auf diplomatischer Seite schon jetzt alles zu tun, was diesen Moment für Verhandlungen vorbereitet und unterstützt. Und dazu gehören eben auch die engen Kontakte zu den Ländern, die sich in diesem Konflikt neutral verhalten - und die natürlich eigene Interessen verfolgen, sei es China oder Brasilien oder die Türkei. Diplomatie hat es nicht nur mit edlen Motiven zu tun. Und auch hier gilt: in einem schmutzigen Krieg gibt es keine saubere Ethik, sondern immer nur das Abwägen in furchtbaren Dilemmata.
Wie wird Frieden? Bonhoeffers Frage holt uns mitten hinein in die unfriedliche Realität dieser Welt. Und unsere Antworten müssen dieser Realität standhalten. Aber die Frage führt uns zugleich darüber hinaus und verweist uns darauf, was gerade die Kirchen dieser Welt heute Unverwechselbares zu sagen haben: Wir sind es unseren Kindern und Enkeln heute mehr denn je schuldig, dass sie nicht in einer Welt aufwachsen müssen, die in den kommenden 30 oder 50 Jahren allein durch Konfrontation und die Angst vor einem Atomkrieg bestimmt ist. Damit dürfen wir uns nie und nimmer abfinden und wo immer das als alternativlos dargestellt wird, lasst uns laut und entschieden widersprechen. Lassen wir uns nicht einreden, dass die Hoffnung auf einen gerechten Frieden eine Illusion war und auf ewig an der politischen Realität gescheitert ist!
Wie wird Frieden? Wie wagen wir heute Frieden? Bonhoeffer mutet in seiner Friedensrede in Fanö den Kirchen doch gerade deshalb so viel zu, weil Christinnen und Christen nicht in der trostlosen Realität des Unfriedens gefangen bleiben dürfen, sondern den Horizont weiten können im Vertrauen auf den „Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft.“ Wohlgemerkt: HÖHER als alle Vernunft – nicht GEGEN alle Vernunft.
Weil wir dem Frieden Gottes etwas zutrauen, werden wir uns nicht damit abfinden, dass die beste aller möglichen Welten für die kommenden 30 Jahre eine neue waffenstarrende Form des Kalten Krieges sein wird – nur ungleich fragiler und gefährlicher, als im vorigen Jahrhundert.
Weil wir dem Frieden Gottes etwas zutrauen, können und müssen wir schon heute mit unserem Herzen und unserer Vernunft nach Bausteinen einer Friedensordnung suchen, die der Ukraine und allen anderen Staaten ihren Frieden und ihre Souveränität garantiert und Europa wieder zu einem sicheren Raum des Rechts werden lässt – und auch einem veränderten Russland die Tür zu diesem Raum des Rechts offenhält.
Weil wir dem Frieden Gottes etwas zutrauen, schauen wir in Russland schon heute nicht nur auf den Menschheitsverbrecher Putin und seinen Mittäter und Kriegspropagandisten Patriarch Kirill. Wir stellen uns an die Seite der verzweifelten und immer wütender werdenden Mütter und Großmütter, der Ehefrauen und Schwestern, die um ihre zwangsrekrutierten Söhne, Brüder und Ehemänner bangen.
Schon vor dreißig Jahren waren es die Soldatenmütter, die dem Rad des ersten Tschetschenienkrieg erfolgreich in die Speichen gegriffen haben. Und wenn es heute schon – Gott sei´s geklagt - nicht die Kirche Jesu Christi ist, die „ihren Söhnen die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden ausruft über die rasende Welt“ dann vielleicht erneut die Liebe der Mütter, die ihre Söhne nicht in einem verbrecherischen Krieg elendig töten und sterben lassen wollen.
Und wo immer das geschieht, werden hoffentlich auch die Popen überall in Russland diesem Ruf folgen und der Kriegspropaganda ihres Patriarchen die Gefolgschaft verweigern.
Liebe Schwestern und Brüder, Wie wird Frieden?
Vielleicht haben wir auch als Christinnen und Christen die Zeichen der Zeit zu lange übersehen, weil wir den Krieg in Europa für so undenkbar hielten, dass wir ihm nichts mehr entgegenzusetzen hatten.
Aber bitte lasst uns heute nicht den umgekehrten Fehler machen: lassen wir nicht zu, dass der Frieden so undenkbar wird, dass wir uns nur noch in der Logik tödlicher Konfrontation einrichten können. Wir werden die Gottes Verheißung nicht aufgeben, dass auch in dieser Welt und auf diesem Kontinent wieder Schwerter in Pflugscharen und Panzer zu Mähdreschern verwandelt werden können.
In dieser Hoffnung bewahre uns der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft – der aber unsere Vernunft, unsere Herzen und unsere Stimmen braucht, um diesen Frieden auszurichten über der rasenden Welt. Amen!

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  Septuagesimae

Septuagesimae

Cornelia Götz, Dompredigerin - 05.02.2023

Die Könige, die Reichen und Mächtigen, sind nicht an unserer Krippe angekommen - ich habe es schon erzählt. Zu Weihnachten hatte der Domvogt natürlich nur die Hirten und Schafe ausgepackt. Die Könige hätten am 6. Januar dazukommen müssen - aber irgendwie ist das nicht passiert. Vielleicht ist es vergessen worden, vielleicht hat unser neuer Domvogt nicht gewusst, dass wir noch mehr Figuren haben.
Wer weiß.
Ich fand es passend als es mir endlich auffiel: Die Könige, die Reichen und Mächtigen sind nicht gekommen, haben den Weg nicht gefunden, ihre Knie nicht gebeugt.
Sie hatten keine Zeit.
Sie konnten nicht weg.
Sie sitzen fest in ihren Zollhäuschen und an den wichtigen Schaltstellen, auf den Chefsesseln und mutterseelenallein im Büro. Sie brüten und rechnen, grübeln, zaudern, wägen ab - haben längst verstanden, dass alle Welt auf ihre nächste Regung wartet und der kleinste Mucks Folgen haben wird.
Unabsehbare Folgen womöglich.
Merkwürdig eigentlich.
Man sollte doch denken, dass gerade die, die die Wahl haben, denen denkbar große Ressourcen zur Verfügung stehen, die größte Freiheit haben und die Beweglichsten sind. Man sollte doch denken, sie könnten sich erlauben, Dinge zu verändern, Neues zu versuchen. Wer wenn nicht sie, sollte den Spielraum für Verzicht und Einschränkung haben?
Aber so scheint es nicht zu sein.
Wer die Wahl hat, muss seine Entscheidung auch verantworten.
Wer Freiheit genießt, kann ihren Missbrauch nicht anderen in die Schuhe schieben.
Wer verzichtet, sagt damit, was entbehrlich ist.
Angst fressen Seele auf. Lieber nicht bewegen!
So sitzt man (wahrscheinlich ist es wirklich öfter Mann als Frau) sich fest in Szenarien und Strukturdebatten, besiegelt Ziele in ferner unbekannter Zukunft währenddessen die Erde auf den Abgrund zujagt - wie es in einem Passionslied heißt - und hat keine Zeit, zur Krippe zu gehen.
Schon gar nicht, wenn das die erste Bewegung ist, auf die alle so lange warten.
Wer wollte sich denn als erste dokumentierbare Regung um ein Kind kümmern?
Wer wagte sich, Kinder ernster zu nehmen als Weltenlenker und Konzernchefs, Influencer mit zahllosen Followern?
Wer rechnet damit, dass dieses Kind größer wird, uns infrage stellt, seine Freiheit nutzt und kommt?
Das geht schneller als man denkt. Gestern wurden hier Adventsstern und Krippe eingepackt. Heute kommt Jesus vorüber. Genauer. Er kommt rüber zu uns.
Der unbeteiligte Blick von außen funktioniert in der Bibel selten.
Darum ist das auch eine Geschichte über uns, die wir keine Könige sind, aber durchaus Entscheidungsspielraum haben, nicht von existentieller Not gejagt werden.
Auch wir gucken aus dem Zollhäuschen oder wo immer wir grade festsitzen, starren auf Zahlen und Prognosen und sorgen uns, dass sich irgendwas bewegen könnte, weil dann alles zusammenbricht.
So hören wir eine Geschichte, die wir uns vielleicht ganz gern vom Leib halten würden. Sie haben den Abschnitt aus dem Matthäusevangelium vorhin gehört. Die Lutherbibel schreibt über den Text „Berufungsgeschichte“. Eine andere Übersetzung spricht von Jesu Erbarmen.
Unmittelbar davor - im selben Kapitel - berichtet Matthäus, dass Jesus zu einem Menschen, der körperlich gelähmt war, gesagt hatte: „Fass Mut mein Kind, deine Sünden sind dir vergeben … steh auf, nimm dein Bett und geh heim“ . Dann geht er weiter, kommt zum Zöllner rüber und sagt, um ihn in Bewegung zu bringen, genau zwei (!) Worte: „folge mir.“
Was für ein Unterschied!
Der Kranke erlebt, dass Jesus ihn, wie es nicht mehr ganz neumodisch heißt, ganzheitlich anschaut. Er benennt, dass es nicht nur der Leib ist, der den Menschen ans Bett fesselt, sondern dass auch die Seele ernsthaft krank machen kann, so sehr, dass Menschen nicht mehr aufstehen können. Hier reagiert Jesus wie liebevolle Eltern, wie ein enger Freund oder ein geistlicher Begleiter: Er ermutigt. Komm. Mach weiter! Steh auf, geh heim. Es wird schon.
So kommt der Gelähmte auf die Füße und in Bewegung, kann wieder mitmachen. Es ist ein Heilungsprozess, der anknüpft an das, was war. Geh heim!
Bei dem Zöllner funktioniert genau das als Heilungsansatz nicht. Genausowenig wie bei denen, die was zu verlieren haben und deshalb fest in ihren Zollhäuschen sitzen oder an den wichtigen Schaltstellen, auf den Chefsesseln, mutterseelenallein im Büro. Ihr Leben kann nicht heil und die Geschichte nicht gut werden, wenn sie aufstehen und heimgehen und morgen wiederkommen und weitermachen. Es kann nicht so bleiben wie es ist.
Sie könnten laufen und sich bewegen. Aber ihre Fixierung geht viel tiefer; ist viel hartnäckiger. Diese - wir - brauchen das größere Wunder. Ermutigung allein tut es nicht. Damit es mit ihnen und uns gut wird, müssen wir loslassen.
Und so gibt es nur zwei Worte: „Folge mir!“ Ohne Erklärung. Die braucht es auch gar nicht, denn wir wissen das schon. Zwei Worte Und das größere Wunder geschieht. Denn es heißt:
„Und er stand auf und folgte ihm.“
Kommentarlos. Kein Protest, keine Bedenken, keine Verzögerungstaktik. Keine Angst.
Er lässt das, was ihn gefesselt hat, liegen und kommt mit.
Als er hätte er darauf gewartet. Und erstaunlich: Es scheint ganz leicht zu sein!
Er geht mit und ohne das es explizit gesagt wird, geschieht hier wohl, dass er Jesu Gastfreundschaft erfährt - so wie wir bei jedem Abendmahl aber vor ihm, dem Zöllner, keiner.
Jesus bewirtet den, den er rausgerissen hat aus seinem Leben und der nun keinen eigenen Tisch mehr hat. Sein neues Leben ist nicht unbehaust. Im Gegenteil: Es scheint gut zu sein, so. Es kommen immer mehr; es wird Bewegung.
Das verstehen nicht alle.
Warum jetzt? Warum so? Warum hat er den Kranken heimgeschickt und diesen, der es doch selbst in der Hand hat, etwas zu ändern, den lässt er in sein Haus?
Jesus antwortet: „Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“
Was will er damit sagen?
Ich höre diese Worte mit den Ohren derer, die er auf die Füße gestellt und in Bewegung gesetzt, aus ihrer Fixierung gerettet, geheilt hat. Er lässt nicht infrage stellen, dass das nötig war und er sie - uns - um sich haben will. Was wir hinter uns lassen und aufgeben müssen, um ihm zu folgen, mag für uns ein Opfer sein. Er sieht etwas anderes. Er sieht Menschen, die es nicht geschafft haben, zu kommen, die den Weg zur Krippe nicht gefunden haben.
Aber er hat uns gefunden.
Kein Wunder. Gesunde und Gerechte hat er ja auch nicht gesucht.

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  Letzter Sonntag nach Epiphanias

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Cornelia Götz, Dompredigerin - 29.01.2023

Die Verklärungsgeschichte also. Sie haben es gehört: es geht um Wolken und Licht, Stimmen und Erscheinungen, oben und unten, bergauf und bergab, Gotteswort und Menschenbitten.
Und es klingt alles ein bisschen nach Goethes Faust:
„Werd ich zum Augenblicke sagen: / verweile doch, Du bist so schön! /
Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehen.“
Festhalten will Petrus das, Hütten bauen, Bleiben ermöglichen - in diesem Moment, wo es leicht ist, zu glauben.
Er erlebt das.
Verklärung. Inneres Strahlen, das nach außen dringt, äußerer Schein, der sich auf ein Antlitz legt – Verwandlung, Metarmorphose. Orthodoxen Christen ist diese Szene wichtig, denn sie lässt Menschen teilhaben an Jesu Herrlichkeit.
Wir sind ein bisschen nüchterner drauf. Verklärung hat – so erklärt es das Grimmsche Wörterbuch – mit Verklarung und Erklärung zu tun:
Heute gibt es also Schwarzbrot – obwohl es so schimmert und leuchtet.
Schauen wir zunächst auf die Struktur: Es ist eine Kontrastgeschichte:
Aufstieg und Abstieg
Jesus mit Elia und Mose - Jesus allein.
Teilhabe und Sprechverbot.
Begeisterung und Furcht.
Herrlichkeit und Gehorsam.
Ewigkeit und Flüchtigkeit.
Und dazwischen als Gipfelkreuz und Zentrum die Stimme Gottes aus den Wolken:
„Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“
Hören! Nicht sehen - obwohl dieses Glänzen doch die Auge übergehen lässt.
Aber es geht um Worte. Sie dringen durch die Wolken und erreichen die Jünger, die voller Angst auf dem Boden liegen, sie schaffen es bis zu uns.
Und bewirken Anknüpfungen und Erinnerungen - für alle. Für die, die mit ihm gegangen sind, für die, die seine Geschichte aufgeschrieben haben, für uns.
Alle hören: diese Gottesworte im Herzen der Erzählung sind buchstäblich dieselben, die aus den Himmeln zu hören waren, als Jesus getauft wurde. Und sie sind eingebettet in einen wundersamen Zusammenhang, in dem jeder etwas findet, um sich einzuklinken und zu begreifen: das hier hat ganz zentral mit Gottes Geschichte mit uns Menschen zu tun:
Da ist die Wolke, die dem Gottesvolk den Weg durch die Wüste in die Freiheit zeigte. Da ist Mose, den dessen Gesicht nach der Begegnung mit Gott auf so sehr leuchtete, dass er ein Tuch darüber legen musste. Da scheinen die weißen Kleider der Ostergeschichte auf. Da erinnert man sich an den Berg der Versuchung und die Einsamkeit des Garten Gethsemane.
Und es gibt das „Fürchtet euch nicht!“ der weihnachtlichen Heerscharen und schließlich so viel zu erzählen wie bei den Hirten, die es jedem berichteten, den sie trafen – aber hier gilt ein Schweigegebot. Jedenfalls bis Ostern.

Was für ein Konzentrat von Geschichte und Erfahrung!
Die Theologen der frühen Kirche versuchten biblische Texte durch einen vierfachen Sinn zu erklären.
Man las sie
• buchstäblich und suchte so nach dem historischen Sinn
• allegorisch, um etwas über die Wirklichkeit des Glaubens zu hören
• moralisch als Handlungsanweisung für das eigene Leben
• anagogisch mit Blick auf die Hoffnung, die der Text erzählt.
Matthäus hat in der Verklärungsgeschichte Spuren für diese Methode gelegt und so hilft es uns vielleicht, in seinen Schuhen mit auf den Berg zu gehen:

Da geht er. Nicht leichtfüßig aber doch gleichmäßig. Schritt, Schritt, Atemzug. Berge verschenken sich nicht. Sie zähmen uns. Sechs Tage war es her, dass Jesus seinen Freunden erklärt hatte, was auf ihn zukommen würde. Sechs Tage war es her, dass Petrus sich erschrocken dagegen verwahrt und gesagt hatte: „Gott bewahre dich dich! das widerfahre dir ja nicht!“ Aber Jesu Antwort war hart gewesen, desillusionierend für jeden, der gehofft hatte, mit ihm ein neues Leben zu beginnen. Wer das wolle, müsse sich selbst verleugnen, sein Leben verlieren. So sei das.
Matthäus hatte das aufgeschrieben und sich die Worte abgerungen.
Jetzt also auf den Berg. Schritt. Schritt. Atemzug. Gehört man zu den Auserwählten oder zu den blind Gehorsamen? Sind das noch eigene Wege…?
Es ist kaum zu begreifen.
Wird er sich oben doch noch erklären? Wird etwas geschehen, das die Dunkelheit erhellt?
Schritt, Schritt … endlich geschafft. Atmen.
Da leuchtet Jesu Angesicht hell wie die Sonne, werden seine Kleider weiß wie das Licht. Da sind Mose und Elia und reden mit ihm.
Atemzug. Staunen. Verwirrt sein.
Zuschauerrolle. Außen vor bleiben. Nähe, die gar nicht wahrgenommen wird.
Ist das Ohnmacht oder Gnade.
Wird es so gut - weit weg von der Welt da unten?
Petrus, der ungeduldige Macher, schöpft Hoffnung und versucht diesen kostbaren Moment festzuhalten. Kann es so nicht bleiben? Würde, dürfte, könnte er nicht zum Augenblick sagen: verweile doch!
Aber auch er bleibt draußen. Eine Wolke, licht und schattig zugleich, nicht greifbar aber undurchdringlich, erfasst nur die Himmlischen. Aber alle hören. Das Wort verbindet. Das Wort bleibt. Es wohnt in jedem. Es erschüttert.
Die Menschen gehen in die Knie.
Als sie sich wieder wagen den Kopf zu heben, ist nichts mehr zu sehen.
Ist es wahr gewesen? Oder nur Einbildung?
Es wird kalt auf dem Berg. Das ist real. Die Anziehsachen sind nassgeschwitzt vom Aufstieg. Jetzt friert man und weiß: Runter ist anstrengend. Sehr.
Petrus wäre so gern oben geblieben. Aber auch er muss runter zu denen, die nicht hochkommen, die nicht dazu gebeten worden sind.
Runter, Jesus hinterher, um zu gehorchen und zu lügen und zu weinen und mit anzusehen, wie die Hoffnung gekreuzigt wird.
Augustinus predigte vor Jahrhunderten:
„Das Brot steigt ab, um auszugehen. Der Weg steigt ab, um müde zu werden. Die Quelle steigt ab, um dürr zu werden … - Und Du? Hab Liebe! Verkündige die Wahrheit!“
Matthäus schleppt sich hinterher. Schritt, Schritt, stolpern … Hab Liebe, sag die Wahrheit. Er versucht es. Schluckt den Hader runter.
Dieser ist wirklich Gottes Sohn. Das ist die Wahrheit.
Jesus geht vor ihm her.
Absteigen ist anstrengend, die Knie schmerzen, die Füße werden wund, die Zehennägel blutig.

Vierfacher Sinn?! Einen Versuch ist es wert.
Historisch: es gibt den Berg, die Jünger, den Menschen Jesus, die tiefe Glaubenserfahrung
Allegorisch: Glaubenserfahrung ist flüchtig, wir können sie nicht festhalten oder materialisieren in Gebäuden, Institutionen.
Moralisch - nochmal mit Augustinus: „Steig ab, um auf der Erde zu arbeiten und zu dienen.“
Anagogisch: auch Jesus steigt mit ab. Gott baut sich seine Bleibe nicht auf dem Berg, wo nur einige wenige das erleben dürfen, sondern sucht Wohnung hier unter uns.

Und was ist mit Goethe? Der hat die Geschichte auch gekannt, denn:
„Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. …“
Hier unten. Amen

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  Jahreslosung 2023

Jahreslosung 2023

Cornelia Götz, Dompredigerin - 01.01.2023

Als unser erstes Kind allmählich soweit war, dass es nicht nur einschlief und durchschlief, sondern auch verstand, dass wir immer wiederkommen, wenn wir im Kindergarten oder bei den Großeltern „tschüss“ gesagt hatten, verabredeten wir uns mit unseren Nachbarn zum Doppelkopfspielen. Es Aber eines Tages sagte das noch immer ziemlich kleine Kind, dass nicht stimmen würde, was wir ihm erzählen: Gott sieht uns alle und hilft uns. Ihn hätte er jedenfalls nicht gesehen, als er unter der Decke geweint und sich gefürchtet habe…
Kinderglaube. Gott sieht dich und er behütet dich. Hoffentlich.
Später, größer werdend, ist es gar keine so erquickliche Vorstellung mehr, immer und überall gesehen zu werden. Darf ich nichts für mich selber haben? Gibt es kein Geheimnis, das Gott nicht kennt? Bin ich durchsichtig? Wohlgemerkt: das ist eine Frage jenseits dessen, sich selbst in digitalen Welten so zu bebildern, dass man kaum noch selber weiß, wen man da sieht und ob noch irgendwas privat ist.
Hat man dies einmal wahrgenommen, ist der Schritt zur ganz großen Einsamkeit nicht weit:
Gibt es überhaupt jemanden, der mich wirklich kennt und sieht?
Gibt es überhaupt jemanden, der hinter die Fassade und in mein Herz sieht?
Und wird er mit dem Wissen gut umgehen?
Wird sein Wissen mir leben helfen?
Und dann sind da noch die Dinge, die in uns Menschen tief vergraben sind und vielleicht bleiben sollten, die endlich zur Ruhe gekommen sind, wenigstens nach außen hin, die wir mitnehmen ins Grab oder vor Gottes Richtertstuhl.
Und dann wird ER es eh alles schon wissen.
Denn so steht es über diesem Jahr: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Es ist keine Möglichkeit, vielleicht auch keine Hoffnung. Es ist eine Feststellung.
Hagar sagt es.
Sie ist keine Jüngerin, die mitgegangen ist, Heilung erlebt oder gesehen hat, wie Stürme sich beruhigen. Sie ist keine, die auf dem Weg sich selbst oder doch eine Bestimmung gefunden hätte und im Frieden mit sich und ihrem Leben wäre. Im Gegenteil: soweit es die alte Geschichte erzählt, ist Hagar eine Magd, schwanger und in Ungnade gefallen, auf der Flucht, in der Wüste.
Endstation könnte man sagen.
Oder Kipppunkt?
Lebenswende vielleicht.
Da sitzt Hagar - an einer Wasserquelle und am Weg nach Schur in Ägypten. Immerhin. Es ist nicht ganz aus mit ihr. Es gibt einen Weg und es gibt Wasser. Sie kann es irgendwohin schaffen und dann das Kind auf die Welt bringen und es wird irgendwie weitergehen.
Mithin: die Situation ist nicht ideal - aber sie steht auch nicht kurz vor der Katastrophe.
Es wird nichts von tödlicher Erschöpfung erzählt.
Es geht noch was.
Vielleicht brütet Hagar vor sich hin und versucht zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Sie war noch jung, aber schon lange bei Abraham und seiner schönen Frau. Sie hat sie bewundert und bestaunt, manchmal beneidet. Was für ein Leben, das hätte sie auch gern. Nur, dass Sarah keine Kinder hatte, war daran bitter und schwer. Sehr schwer. Hagar hatte dieses Leid aus der Nähe erlebt und manchmal mitgelitten. Aber es hatte auch andere Momente gegeben: heimliche Genugtuung und stolz auf den eigenen jungen Körper. Sie könnte wahrscheinlich….
Hat Abraham das zuerst bemerkt? Oder Sarah? Irgendwann war eine Idee entstanden. Unheimlich und naheliegend zugleich. Sie wird das Kind bekommen. Sie wird Abrahams und Sarahs größten Wunsch…
Ihr Leben wird sich ändern. Richtig und falsch verschwimmen, gut und böse auch.
Nun ist sie hier.
Auch wir sind heute Abend hier. Mit unseren eigenen Geschichten und Wegscheiden. Auch wir leben in komplexen Beziehungen. Auch wir sind anderen etwas schuldig geblieben. Auch wir haben gehofft und geträumt…
Nun sitzen wir am Weg, neben der Quelle und das Jahr liegt vor uns.
Unbeschrieben.
Die Situation ist nicht ideal. Aber es geht noch was.
Da schickt Gott seinen Engel und fragt:
„Wo kommst du her, wo willst Du hin?“
Wenn sich das so leicht sagen ließe.
Hagar bleibt bei schmalen Fakten: sie ist weggegangen von Sarah und Abraham.
Sie sagt nichts von einem Ziel. Sie weiß keins.
Wie fällt unsere Antwort aus?
Wo kommen wir her?
Wo wollen wir hin?

• Pause -

Antwortversuche werden davon abhängen, wie ehrlich wir mit uns selbst sind, welche Sorgen wir haben, wen wir lieben.
Für Hagar heißt das:
Sie steckt in einem Konflikt und bekommt ein Kind.
Sie braucht Befriedung und Perspektive, Geborgenheit.
Wegrennen hilft nicht.
Sich verkriechen hilft nicht.
Sitzenbleiben und warten auch nicht.
Sie wird sich der Situation stellen müssen, den Konsequenzen, die angelegt sind in allem, was war.
Ob sie realisiert hat, dass da gerade ein Engel vor ihr steht, der vielleicht…
Aber das Leben ist kein Wunschkonzert und auch Neujahr trotz Witolld Dulskis Orgelfeuerwerk eine irdische Angelegenheit mit eher nüchternen Möglichkeiten:
„Geh zurück“, sagt der Engel „und füge Dich. Du wirst ein Kind bekommen und Enkelkinder.“ und dann malt er noch ein bisschen aus, wie es sein wird.
Ihr Kind und ihre Zukunft werden Teil der Welt sein, aus der sie kommen.
Der Weg führt nicht weg, bricht nicht ab oder endet hier.
Es geht dort weiter, wo wir gestern - im alten Jahr ausgestiegen sind: mit denselben Menschen, in denselben Situationen…
Hagar könnte einknicken, jammern. bitten, ob sie sich nicht rausziehen darf. Es ist zu übel und es geht ihr nicht gut.
Aber das tut sie nicht.
Sie sagt:
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Und dann ergänzt sie: „Gewiss habe ich hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“
Ob sie weiß, dass sie mit diesen Worten eine lange Reihe aufmacht? Mose wird Gott hinterhersehen, die blutflüssige Frau wird Jesus hinterherrufen, Maria wird sagen: „Mir geschehe, wie Du gesagt hast.“
Sie alle kämpfen sich durch ein sehr konkretes Leben.
Sie alle kennen Wüstenerfahrungen.
Sie alle erleben Gottes Zuwendung, seine Nähe, sein Geleit, seine Bestärkung, seinen Schutz.
Weil er uns sieht und ansieht.
Weil Gnade etwas damit zu tun hat, dass einer genau hinguckt.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Keiner, der uns ausspionieren und unsere Schwächen ausnutzen will, keiner der unsere Sorgen und Nöte missbraucht, um Macht über uns zu gewinnen - sondern einer, der sieht, wer ich bin, was ich schaffen und wie ich leben kann. Einer, der mich gebrauchen kann für eine erfüllte Zukunft.
Hagar wird ihm vertrauen.
Die Quelle, an der sie saß, heißt „Brunnen des Lebendigen“.
Wir sitzen da auch. Gott sieht uns und schickt uns in unser Leben - in all die komplizierten Umstände unserer Zeit. Wir werden nicht untergehen. Wir sind nicht hilflos. Wir können tun, was ansteht.
Es geht etwas.
Mit uns. Mit unserem Leben. Mit unserer Welt. Unter Gottes Schutz und seinen Segen.

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  Christnacht

Christnacht

Cornelia Götz, Dompredigerin - 24.12.2022

In seinem Kriegstagebuch schreibt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow am 12. April:
„Heute haben sie begonnen, Kirchen zu zerstören… die erste, von der ich weiß, war eine Holzkirche in Isjum … die nächste war die Kirche des Heiligen Nikolaus in Wolnowacha. … Es war das erste Mail, dass ich eine durch eine Bombe zerstörte Kirchenkuppel gesehen habe. Sie ist tatsächlich sehr dünn und zerbrechlich wie eine Eierschale, und selbst wenn sie zerbrochen ist, leuchtet ihre vergoldete Oberfläche noch in der Sonne wie eine kleine Lampe.“
Jetzt ist die Sonne weg. Die Tage sind kurz und bitterkalt. Aber der Stern von Bethlehem leuchtet. Ich weiß - orthodoxe Christen feiern Weihnachten erst am 6. Januar - aber lassen wir diese Kleinigkeit einen Moment beiseite und stellen uns vor:
Der Priester würde mit seinem Handy in die Ruine seiner kleinen Kirche hinübergehen. Es würde keine Christnacht mit Kerzenlicht und schimmernden Ikonen werden; er würde keinen Weyrauch schwenken und auch nicht das Evangelium singen. Es war alles kaputt.
Der Schnee knirscht unter seinen Schuhen. Dann hält er inne. Es ist nicht der Schnee. Es sind Glassplitter von den kaputten Fenstern.
Was für ein trauriger Anblick.
Er hebt den Kopf. Es ist eine sternenklare Nacht und wird noch kälter werden. Und da sieht er das Schimmern der zerstörten Kuppelreste im Schein des Sternes. Fast werden ihm die Knie weich. Das ist sein Weihnachtsbild! Er fotografiert es und dann stellt das Bild ins Netz und dann schreibt er darunter:
„Wir wollen der Welt sagen, dass wir heute, da Christus in unseren Herzen geboren ist, versuchen, so schwer es auch sein mag, alle Gedanken an Rache zu verbannen .. Wir werden versuchen, in den Tagen nach diesem Streit eine gütigere, einfachere - eine christuskindlichere - Welt zu schaffen.“
Er hält inne. Seine Finger sind klamm und kalt.
Ja, das werden sie. Sie werden sich nicht mehr wehtun. Sie werden …
Seine kleine Stadt: 22 000 Menschen lebten dort im Osten der Ukraine. Jetzt ist sie ein Trümmerfeld. Es gibt keinen Strom und kein Wasser. Die Feuerpause wurde, wie auch in Mariupol, nicht eingehalten. Die Menschen sind verzweifelt.
Er schaut nochmal auf die Worte, die er da hingeschrieben hat.
Sie werden ihn nicht verstehen.
Sie wollen sich verteidigen. Das geht nicht christuskindlich.
Stille Nacht, heilige Nacht - es ist leise, leiser, still.
Da steht er und hängt seinen Gedanken nach, während die Kälte ihm in die Knochen kriecht. Es hört nicht auf. Die Weltgeschichte wird durch Kriege beschrieben. Wir sind immer davor oder danach.
Er hat das alles schon mal erlebt.
„Vater vergib“ denkt es, betet es in ihm.

Stille Nacht. Heilige Nacht.
An einem anderen Ort sitzt eine junge Frau auf einer Matratze und wiegt ihr Kindchen. Es ist unruhig und wimmert. Es war ein schlimmer Tag für alle. Sie konnten nicht bleiben. Der Körper schmerzt noch von der Geburt. Sie ist wund und kann nicht gut sitzen. Ihre Brust fühlt sich hart und heiß an. Wenn sie jetzt eine Entzündung bekommt, kann sie nicht mehr stillen …
Was soll dann werden?! Sie muss sich entspannen und beruhigen. Das Kindchen muss saugen obwohl sie bei jedem Versuch zusammenzuckt. Ihre Brustwarze blutet und ist schrundig.
Tränen rollen ihr leise über die Wangen. Es ist niemand da, der ihr helfen kann. Keine Mutter, die ihr einen heißen Wickel macht, keine Großmutter, die ihr freundlich zunickt: Schuh, schuh... es wird wieder gut.
Nein, nichts ist gut. Sie sitzt hier ganz allein unter fremden Menschen. Wer weiß, ob sie den Vater ihres Kindes jemals wiedersieht. Der weiß ja kaum, wie man eine Waffe hält geschweige denn wie man sie benutzt …
Ihr fällt eine Gedichtzeile ein:
„Ich will dich gar nicht so mutig / Und auch nicht besonders schön, /
weil die allzu Kühnen und Schönen / So oft zugrunde gehn…“

Das Handy leuchtet und sie sieht ein verschwommenes Bild.
Eine Nachtaufnahme. Was soll das sein?
Ein kleiner goldener Schimmer und dann ein merkwürdiger Text. Wer schreibt da?
Oh, ein Weihnachtsgruß aus der verlorenen Heimat!
Sie schiebt ihr Kindchen ein bisschen zurecht um besser lesen zu können:
Was schreibt er da?
Sie kann es kaum glauben. Sie soll sich um eine einfache gütige Welt mühen? Ausgerechnet sie? Warum soll sie Menschen, die ihr solches Leid antun, so arglos und freundlich ansehen wie ihr Kindchen?
Sie soll alle Gedanken an Rache verbannen?
Nein, das kann sie nicht. Sie wünscht sich, dass die Russen endlich ….
Sie ist kein Übermensch. Es muss doch …
Das Kind hält inne und beginnt zu wimmern.
Gleich wird es schreien und dann spuckt es. Sie darf sich nicht in Rage denken, nicht aufregen. Sonst staut die Milch. Das Kind braucht sie. Es braucht Frieden.
Und dann beginnt sie zu summen.

Ein Wiegenlied.
„Lully, lullay, du kleines winziges Kind, Bye, Bye, lully, lullay…“
Sie ist auch in ein Schlaf gesungen worden. Meistens hat ihre Großmutter sie zu Bett gebracht. Ihre Mutter arbeitete irgendwo in Westeuropa. Abe die Großmutter nahm das kleine Mädchen in den Arm und sang. So wie überall auf der Welt, Kinder in den Schlaf gesungen werden. „Guten Abend, gute Nacht - morgen früh, wenn Gott will.“
Wer weiß, was passiert im Dunkel der Nacht. Wer weiß, was Gott will.

Ein Kind ist geboren. Der Himmel reißt auf. Hirten erzählen vom Wunder dieser Nacht. Bald wird Nachricht um die Welt gehen und auch die Mächtigen erreichen.
Die werden Angst kriegen: Vor einem Neugeborenen, vor seiner Friedfertigkeit, seiner Gewaltlosigkeit. Seiner Freundlichkeit.

Stille Nacht, heilige Nacht.
Der Priester ist wieder zu seinem Haus gegangen. Er wird sich einen heißen Tee kochen, immerhin den hat er und auf den Morgen warten.
Da brummt sein Handy. Eine Fremde schreibt ihm. Seine Worte haben sie über viele Stationen erreicht und an eine andere Kriegsweihnacht erinnert: 1940. die BBC sendet aus Coventry. Sie war damals noch ganz jung. Sie hatten am Radio gesessen und es nicht fassen können. Sie weiß noch, wie sich die Gemüter erhitzen.
Aber dann kamen andere Töne aus dem Radio….


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  Heiligabend

Heiligabend

Cornelia Götz, Dompredigerin - 24.12.2022

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging…“ … das klingt so vertraut, dass man die einzelnen Worte schon fast nicht mehr hört.
Aber Lukas weiß genau, warum er so beginnt. Er erzählt kein Märchen, sondern setzt in Szene, warum er das alles überhaupt aufschreibt: uns soll unmissverständlich klar werden, dass Frieden möglich ist – nicht erst am Ende der Zeit, sondern hier auf Erden, unter uns.
Darum beginnt seine Geschichte im Zentrum irdischer Macht,
dort wo die ganze beherrschte Welt bewegt wird,
dort wo ein Einzelner in seinem Wahn das Leben der Vielen beanspruchen kann.
Kaiser Augustus tut das, indem er zählen lässt. Er will wissen, wen er beherrscht.
„Überschaubarkeit“ ist keine Dimension gemütlichen Landlebens, sondern eine militärische Kategorie. Wer das weiß, zählt.
Aber Lukas und seine Leser wussten auch: nur Gott kann und darf sein Volk zählen. Menschen sollen sich weder auf ihre Überzahl verlassen noch sich von Zahlen beeindrucken und bestimmen lassen - weder mit Blick auf Soldaten noch auf Arbeitsplätze, weder hinsichtlich potentieller Wähler oder Steuerzahler.
Menschen sollen sich nicht auf Zahlen verlassen sondern auf Gott!
Darum lehnte man in Israel die Volkszählung ab.
Darum war es Unterwerfung unter den Kaiser und Verrat an dem einzigen Gott, den die Menschen bekannten, an der Volkszählung teilzunehmen. Sie taten es alle. Sie waren nicht besser, nicht mutiger, nicht begabter als wir.
Weihnachten wurde trotzdem – oder erst recht.
Lukas wusste, im Kontrast von Heilsgeschichte und Weltgeschichte, menschlichem Irrsinn und göttlicher Klarheit wird Weihnachten.
Heute klingt das so:
Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem russischen Präsidenten ausging, die Ukraine zu überfallen. Und dieser Krieg war der erste in unserer Nähe und geschah zur Zeit, da Joe Biden Präsident von Amerika und Olaf Scholz Kanzler in Deutschland war. Und jedermann zählte, ob Gas und Paracetamol und Diesel noch reichen würden, sein gutes Leben fortzusetzen.
Da gerieten viele in Angst und Not, denn das Getreide wurde teuer und die Ernte verdarb und der Krieg verwüstete das Land. Da machten sich die Menschen auf und verließen die Städte, in denen sie Zuhause waren und die Dörfer, in denen ihre Eltern begraben lagen und gingen los. Andere ließen ihre Wohnungen kalt und fürchteten sich vor schweren Zeiten. Aber zwischen ihnen allen war ein Mädchen, das schwanger war und ausgerechnet in diese Welt ein Kind setzen wollte als wäre es nicht drei Sekunden vor zwölf.
„Und es kam die Zeit, dass sie gebären sollte und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum …“
Und das in der in der Stadt seiner Väter.
Darüber kann man sich wundern. Immerhin war Josef der Spross einer alten bethlehemitischen Familie. Ausgerechnet er soll keinen Unterschlupf für die hochschwangere Maria gefunden? Ausgerechnet ihm, dem Spross Davids, soll Gastfreundschaft, die den Menschen doch heilig war, verwehrt worden sein?
Sollte er, der Namhafte, auf einmal das Schicksal der Namenlosen erleiden?
Wir haben keinen Platz für Dich und dein Problem. Geh weiter!
Das Zählwerk des Kaiser rattert: auf die Besitzstandsangst ist Verlass.
Aber die Zeit ist reif.
Das Kind will geboren werden.
Darum stellt Lukas mit der dürftigen Krippe klar: unsere Welt wird nicht durch Gebote aus den Zentren der Macht verändert, sondern dort, wo Menschlichkeit dringend gebraucht wird, dort wo sich nicht nur Zeitansagen erfüllen, sondern auch die Uhr der Natur läuft.
Ich habe eine Auslegung gelesen, wonach Maria und Josef ursprünglich gar nicht in diese Geschichte gehörten, sondern das Gotteskind elternlos war, am Rastplatz abgelegt, der Fürsorge Fremder anvertraut, von Menschen aufgezogen, die Hirten waren und ihren Gott einen Hirten nannten. Wie sonst hätte sich die denkbar größte Nähe zwischen Gott und Menschen ereignen sollen als so?
Das klingt nicht abwegig.
Aber Lukas entscheidet sich anders.
Er braucht Menscheneltern in seiner Geschichte. Er will damit schockieren, dass eine schutzlose schwangere Frau zwischen allen anderen durch die Welt irrt und das keinen schert. Es gibt kein Wunder, um Maria die Geburt zu erleichtern.
Dass Gott Mensch wird, geschieht unter denkbar realistischen Umständen:
Es tut entsetzlich weh.
Und es geschieht in finsterster Zeit, im Dunkel der Nacht. Mehr wird nicht erzählt. Vermutlich, weil uns nicht genug interessiert oder wir uns nicht vorstellen können, was an den Rändern der Gesellschaft passiert, wie Not sich in Menschen einschreibt, wir dringend es ist, dass sich endlich was ändert. Wir fürchten uns nur.
Deshalb haben wir auch keine Deutungshoheit über diese Geschichte.
Genauso wenig wie der Kaiser.
Festgefahrenen in den unbarmherzigen Zuständen unserer Welt stolpern wir durchs Dunkel.
Aber Gott deutet. Er lässt seine Herrlichkeit aufgehen – und es passiert etwas, was es in der langen Geschichte Gottes mit den Menschen noch nie gab: Nicht nur ein einzelner Engel kommt auf die Erde, sondern der ganze himmlische Hofstaat, die kompletten himmlischen Heerscharen finden sich ein für die wichtigste Nachricht schlechthin: „FRIEDEN AUF ERDEN bei den Menschen seines Wohlgefallens!“
Wirklich? Wie ???
Lukas erzählt auch das. Denn er schreibt:
„Und da die Engel gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen!“
Sie reden. Sie hören sich zu. Gott hat ihnen ein Zeichen gegeben und also nehmen sie das ernst. Sie beraten sich. Sie entscheiden sich.
Es mag platt und plakativ klingen: Aber das ist die Chance gelebter Demokratie!
Auf der einen Seite steht das Machtwort eines Herrschers, der Anspruch der Mächtigen, der alles durcheinanderbringt und Menschen zwingt zu glauben, dass es nur in eine Richtung gehen kann, rückwärts, dorthin wo sie herkommen.
Auf der anderen Seite öffnet sich der Himmel voller Licht und Freude, Gott kommt auf die Erde und es ist nicht zum Fürchten, sondern wunderbar. Die Menschen lassen sich in Bewegung setzen.
Sie werden nicht registriert und lassen sich nicht zählen, sie verlassen sich endlich auf Gott und werden verwandelt.
Sie verabreden sich und ziehen los - in Frieden.
Sie werden getrösten vom Mut einer Frau, die an die Zukunft geglaubt und ein Kind bekommen hat. Sie perlen über vor Freude und erzählen es allen weiter.
Und all das begab sich zu der Zeit, als Thorsten Kornblum Oberbürgermeister in Braunschweig war.

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  Heiligabend (16:30 Uhr)

Heiligabend (16:30 Uhr)

Dr. Christoph Meyns, Landesbischof - 24.12.2022

Liebe Gemeinde!
In meiner Zeit als Gemeindepastor kam einmal im Jahr eine Gruppe aus dem Kindergarten in die Kirche, um sie zu besichtigen. Ich habe ihnen dann immer erklärt, was es zu sehen gibt: Taufbecken, Altar, Kanzel, Chorgestühl, Epitaphien, Wandbilder. Sie durften in die Orgel hineinkrabbeln und sich die Orgelpfeifen anschauen. Wir sind auf den Turm gestiegen, haben die mächtigen Glocken aus nächster Nähe angeschaut und von ganz oben weit über das Land geblickt. In einem Jahr fragte mich ein Kind am Anfang der Führung ehrfurchtsvoll: „Wohnt hier Gott?“
Was hätten Sie gesagt? Wohnt Gott hier in dieser Kirche? Kaiser Augustus und Statthalter Quirinius hätten auf diese Frage wohl mit „Ja“ geantwortet. Sie waren fest davon überzeugt, dass die Götter in den Tempeln wohnten, die ihnen zu Ehren geweiht waren. Joseph und Maria hätten vielleicht geantwortet: „Ja und Nein.“ Denn nach jüdischer Vorstellung ist Gott unsichtbar und allgegenwärtig. Aber im Tempel in Jerusalem wurde er zu ihrer Zeit in besonderer Weise verehrt. Die Weihnachtsgeschichte antwortet mit „Nein“. Gott wohnt nicht in einer Kirche oder einem Tempel. Gott wohnt in einem neugeborenen Kind in einem Futtertrog. Er wohnt in einem Stall. Er wohnt auf dem Feld bei den Hürden, wo die Hirten ihre Schafe hüten.
Damit ist so ziemlich alles auf den Kopf gestellt, was wir Menschen von Gott zu wissen meinen. Ein Zimmermann und seine junge Frau, keine vornehme Familie; eine Futterkrippe, kein weiches Himmelbett; ein Stall, kein Palast; Hirten auf dem Feld, kein Kaiser und kein Statthalter, keine besondere Festzeit, sondern mitten im Alltag. Das göttliche Licht verborgen inmitten der Dunkelheit der Nacht in einem kleinen Ort am Rande des Römischen Reiches, nicht in der Mitte Tages, für alle Welt sichtbar in der Hauptstadt Rom.
Gewöhnlich suchen Menschen Gott irgendwo oben. Aber Gott setzt sich nicht auf den Thron, den wir ihm hinstellen. Er überrascht Menschen. Er kommt in die Nacht, in den Stall, in den Futtertrog, auf das Feld. Er kommt mitten in unseren Alltag. Er steht neben uns beim Zähneputzen, sitzt mit am Frühstückstisch, geht mit auf dem Weg zur Schule und zur Arbeit, er ist bei den Verliebten und auf der Intensivstation. Er schaut mit mir zusammen Nachrichten. Und … er ist auch in den Momenten bei mir, in denen ich mich von allen guten Geistern verlassen fühle.
Wie finde ich also Gott? Jedenfalls nicht, wenn ich nach oben schaue auf das Erhabende und Glänzende. Um Gott zu finden, muss ich mich bücken.
Ich stelle mir vor: Wir alle sitzen draußen mit den Hirten auf das Feld bei Schafen. Und plötzlich wird es taghell. Und aus dem Licht tritt ein Engel und der sagt: „Fürchtet euch nicht!“ Das ist genau der Satz, den ich brauche: „Fürchte dich nicht!“ Den habe ich schon letztes Jahr gebraucht. Aber ich brauche ihn auch dieses Jahr. Er nimmt mir die Angst. Er sagt mir: Lass dich nicht unterkriegen. Halte stand. Bewahre dir deine Zuversicht. Und hör nicht auf zu hoffen, dass Frieden und Gerechtigkeit siegen werden.
Und der Engel fährt fort: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geborgen.“ Worüber sollen wir uns freuen? Dass Gott Mensch geworden ist, dass Gott sich klein gemacht gemacht hat, dass ich vor Gott keine Angst zu haben brauche.
Im Stall von Bethlehem hat Gott die Menschen überrascht. Und als Erwachsener macht Jesus da weiter, wo er als neugeborenes Kind angefangen hat. Er folgt seinem Herzen. Er ist unglaublich frei. Und er macht andere frei: Kranke, Sünder, Zöllner, Prostituierte. Er überschreitet Grenzen. Er hält sich nicht an Gebote, wenn sie der Liebe im Weg stehen. Weihnachten feiern wir den Anfang dieser Liebe, eine Liebe, die den Menschen nicht festnagelt. Sie hält sich nicht damit auf, wer Schuld hat, sondern sie fragt danach, was helfen kann, dass Menschen aus der Situation herauskommen und ein neues Leben anfangen.
Diese Liebe verbindet uns Christen miteinander. An ihr halten wir fest und sagen: Wir geben die Welt nicht auf; wir setzen uns ein für das Gemeinwohl; im eigene Land und für Menschen in anderen Ländern; wir stehen den Opfern von Krieg und Gewalt bei; wir setzen uns ein für die Aussöhnung von Feinden; wir bekämpfen Armut und globale Ungerechtigkeiten; wir bewahren die Schöpfung.
Wie feiert man richtig Weihnachten? Vater Hoppenstedt schlägt vor bei Loriot: „Erst wird der Baum fertig geschmückt, dann sagt Dicki ein Gedicht auf, dann holen wir die Geschenke rein, dann sehen wir uns die Weihnachtssendung im Ersten Programm an, dann wird ausgepackt, und dann machen wir es uns gemütlich.“ Seine Frau widerspricht: „Nein Walter, erst holen wir die Geschenke rein, dann sagt Dicki ein Gedicht auf und wir packen die Geschenke aus, dann machen wir erstmal Ordnung und dabei schauen wir Fernsehen und dann machen wir es uns gemütlich.“
Darauf wieder ihr Ehemann: „Oder wir sehen uns erst die Weihnachtssendung im Dritten Programm an, packen dabei die Geschenke aus und machen es uns dann gemütlich.“ So könnte es klappen: Ein Fest braucht Rituale. Aber wäre schon schön, wenn ein Fest von Anfang an gemütlich ist.
Dabei kann man auch zu viel planen. Wie der amerikanische Autor John Steinbeck schreibt: „Was Feste ihrem Wesen nach ausmacht, ist bis jetzt noch nicht komplett erforscht. Aber so viel ist klar: Feste sind unnormal. Und jedes Fest ist auf seine eigene, höchst individuelle Weise abgedreht. Auch verläuft kein Fest so, wie es von denen geplant oder beabsichtigt war, die dazu eingeladen haben. Die Ausnahme bilden Feste, die Gastgeber bis ins Letzte durchorganisieren und sklavisch kontrollieren. Dabei kommt am Ende eine Veranstaltung heraus, die so lebendig ist wie eine Verstopfung.“
Solche Feste habe ich auch schon erlebt. Aber Weihnachten wird gerade schön, wenn nicht alles perfekt ist, wenn Raum ist für Tradition und Rituale, aber auch für Ungeplantes und Unerwartetes. Denn auch Gott ist mit seiner Liebe überraschend in unsere Welt gekommen. Daran lassen wir uns mit der Weihnachtsgeschichte erinnern. Dafür versammeln wir uns in unseren Kirchen zum Gottesdienst. Dafür danken wir Gott in Liedern und Gebeten. Darum dürfen wir um seinen Segen für unser Leben bitten, dass er es umfange mit seiner Liebe auch und gerade dort, wo wir ihn am wenigsten erwarten.
Ihnen allen von Herzen ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Amen.

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  4. Advent

4. Advent

Cornelia Götz, Dompredigerin - 18.12.2022

Magnifikatsonntag.
Immer wieder und immer von neuem die alte Geschichte: eine junge Frau, die ungewollt oder zur Unzeit schwanger wird, überraschend jedenfalls. Eine Beziehung, deren Tragfähigkeit sich noch nicht erwiesen hat. Und eine komplette Überhöhung dessen, was durch dieses Kind alles gut werden soll - nicht nur in den kleinen Kreisen, sondern auf der ganzen Welt.
Und wieder dieses große alte Lied.
Umsturz und Umkehr, das Unterste zuoberst, Gewalt und Vertreibung, entmachtete Herrscher, Revolution.
Davon singt sie. Das hält sie für wirksame Barmherzigkeit von Generation zu Generation.
Die Kindeskinder werden Gott preisen.
Aber sie tun es nicht.
Sie kennen ihn nicht.
Und selbst wenn:
Wer kann sich solchen radikalen Umbruch wünschen???
Wir hören doch, was passiert, wenn Menschen, erst recht Frauen, sich dessen bewusst werden, wieviel Niedrigkeit es in ihrem Leben gibt,
Wenn sie beginnen, ihr Lied zu singen.
Am Donnerstag gab es in der Süddeutschen sechs Porträts stellvertretend für die 18 000 inhaftierten Menschen im Iran - ein kurzes Schlaglicht auf die Niedrigkeit von Vida Rabbani oder Zainab Mousavi. Sie sitzen in Gharchak, einem Frauengefängnis in Teheran.
Und in Berliner Pflegeheimen leben jetzt sehr alte Ukrainerinnen, die nicht geglaubt hätten, in ihrem Leben nochmal nach Deutschland zu kommen geschweige denn dort zu sterben.
Aber ihre Heimat ist einmal mehr überrollt worden vom mächtigen Arm Anderer.
Wer singt ihr Lied?
Wer hört es?
Wir hören davon, was passiert, wenn Throne wackeln, wenn die Reichen beginnen zu ahnen, wie fragil ihre behagliche Welt ist, die Nimmersatten nicht mehr zwischen Wahrheit und Lügen unterscheiden.
Wir sehen, was passiert, wenn Systeme ausgehungert werden, Kinder nur verwahrt aber nicht begleitet, gefördert, beschützt werden.
Wir haben wundersamerweise erlebt, dass eine Revolution keinen Blutzoll fordert; denn allermeist füllen sich dann Gefängnisse und Friedhöfe.
Da hinein soll ein Kind geboren werden?
Noch dazu eins ohne sicheren Status.
Aber von höchstem Interesse.
Wer wollte das erhoffen?
Ich nicht.
Und trotzdem schreibt Paulus, der selbst im Gefängnis saß und üble politische Verhältnisse kannte:
„Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!“
Als ob man sich auf Befehl freuen kann.
Freut euch! Freut euch doch endlich und immer und immer!!! Allewege.
Das Wörterbuch der Gebrüder Grimm hält fest: „allewege: ‘immer und überall’ … verstärktes ‘immer’ bedeutend…“ Merkwürdiges Wort. Noch mehr als immer geht nicht. Immer kann man nicht steigern.
Paulus ist das egal.
Er scheint trotzdem zu wissen, dass es mit der Freude hier und jetzt und erst recht „allewege“ nicht so einfach ist - aber eben auch, dass es Grund gibt!!!
Macht es das einfacher, dass wir uns im Herrn freuen sollen? Oder wie die Basisbibel übersetzt, weil wir zum Herrn dazugehören?
Hm.
Freut euch!
Ja, aber wie?
Haben wir es verlernt, uns zu freuen - so richtig tief und vorbehaltlos?
Nein, das glaube ich nicht.
Im Gegenteil: gerade in den Nöten der letzten Monate und Jahre haben wir die ureigentliche Freude wiederentdeckt - daran, mit anderen zusammen zu sein, sich umarmen zu dürfen, singen zu können, sich lebendig zu fühlen!
„Oder sollt ich mich erfreuen?“
"Ja - a- a, Du Heiland sprichst selbst Ja!“
Ja, ja! - ja, ja! Klingt es im Weihnachtsoratorium.
Ja! Wir freuen uns ja schon!
An diesem Gottesdienst und nachher beim Quempas und draußen auf den Weihnachtsmarkt und dass wir nicht mehr Haushalte und Erwachsene zählen müssen, wenn wir uns besuchen wollen und - und ja, die Freude reicht für mehr.
Sie könnte anstecken und die Welt heller machen.
Oder mit Paulus:
Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe!
Die Zürcher Bibel übersetzt im wahrsten Sinne des Wortes einleuchtender: Lasst alle Menschen eure Freundlichkeit spüren… - schöne deutsche Sprache!
Da leuchtet die Freude aus der Freundlichkeit schon heraus!
Da wird es leicht, frohgemut den Kopf zu heben und andere freundlich anzustrahlen, zu sehen, wie sie überrascht zurücklächeln - als würde ihnen jemand sagen:
„Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden!“
Mit dem sich-nicht-Sorgen-müssen ist es wie mit dem sich-freuen-sollen: eher schwierig.
Aber wenn sich mit jeder Bitte ein bisschenDankbarkeit verbindet, dann werden die Sorgen vermutlich wirklich leichter:
Denn wer wollte heute nicht Angst um die Zukunft seines Kindes haben und sich sorgen - aber ist nicht die Dankbarkeit, dass wir es überhaupt haben dürfen, genauso groß?
Wer wollte sich nicht sorgen, wenn Menschen um geliebte Nächste trauern - aber macht es die Dankbarkeit für ein erfülltes Leben nicht einfacher?
Wer wollte sich nicht sorgen um Heizung und Wohnen und … - aber haben wir nicht allen Grund dankbar zu sein, wie gut es uns trotz allem immer noch geht, dass wir helfen können?
Und erst recht: wer wollte nicht verrückt werden aus Sorge um den Krieg und seine vielen Opfer, in Angst um die Gefangengen in Belarus und Iran, in Russland? Und auch da gibt es Grund dankbar zu sein: für die Hoffnung und den Mut in so vielen Menschen, ihre unbegreifliche Tapferkeit und unzerstörbare Würde.
Maria hat recht, wenn sie singt:
„Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freut sich Gottes meines Heilandes, denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen“
Aber kann die große Not und Ungerechtigkeit, kann der Krieg so beendet werden?
???
Vielleicht klingt das jetzt wie Predigt – ko:
Ich glaube: Nur so.
Indem Gott Mensch wird und uns an unsere Menschlichkeit erinnert.
Indem Gott ein Kind wird, dass mit Gewalt und Waffen nichts ausrichten kann
Maria - so überraschend schwanger geworden - wird dies Kind auf die Welt bringen, weil
„der Friede Gottes höher ist als alle Vernunft und er unsere Herzen und Sinne bewahren wird“ - vor Kleinglauben und Zynismus, vor Selbstgerechtigkeit und Gier.
Dann wird es anders.
Und jetzt freut euch doch endlich und immer und immerzu!
Der Herr ist schon ganz nah.
Und will geboren werden.
Amen

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  2. Advent

2. Advent

Cornelia Götz, Dompredigerin - 04.12.2022

Advent 2022.
Da sitzt eine junge Frau spät nachts am Rechner. Müde nimmt sie den Kopfhörer ab und legt ihn neben die Teetasse, in der die Neige vom letzten Aufguss kalt geworden ist. Ein schmutziger Teller steht daneben; irgendwann im Laufe des Tages hat sie nebenher ein paar Reste von gestern gegessen - ein Glück, dass die noch da waren. Die Augen schmerzen und der Nacken auch. Sie hat sich zu wenig bewegt heute, ist gar nicht vor der Tür gewesen…
Gerade will sie aufstehen, da brummt das Handy. Noch eine Nachricht! Arbeiten die Kollegen denn immer noch? Gönnt sich denn niemand eine Pause? Das schlechte Gewissen drückt und sie ärgert sich über sich selbst, dass es das tut. Dann schleppt sie sich ins Bad, zu müde zum Duschen, aber wenigstens Zähne putzen.
Wofür macht sie das alles eigentlich? Ist das jetzt das Leben? Am nächsten Morgen findet sie eine Mail ihrer Vorgesetzten: nein, keine Notwendigkeit für ein Gespräch wie es weitergehen kann mit ihr. Müder Blick aus dem Fenster. Es ist neblig draußen und trüb.

Advent 2022.
Da läuft eine Kinderkrankenschwester über den Flur, fast rennt sie. Ein Kind wimmert. Ein Vater erwischt ihren Ärmel - können Sie nicht einen Moment??? Nein, sind kann nicht. Sie ist heute Nacht alleine auf Station. Wie gestern auch schon.
Endlich wird es ein bisschen ruhiger. Zeit, sich einen Moment hinzusetzen, einen Kaffee zu trinken. Blick auf den Dienstplan: sie wird Weihnachten arbeiten müssen. Nicht so schlimm. Es wartet sowieso niemand auf sie. Wo soll sie auch jemanden kennenlernen? Sie würde gerne tanzen lernen oder singen gehen - aber bei diesem Schichtplan braucht sie gar nicht erst anfangen. Sie steht auf und dreht nochmal eine Runde, um nach den kleinen Patienten zu sehen. Es ist noch dunkel draußen. Gleich kommt der Frühdienst und sie kann heimgehen und schlafen, endlich schlafen. Mittags schrillt das Telefon. Kann sie beim Spätdienst einspringen??? Es ist niemand sonst verfügbar. Wieder mal. Sie rappelt sich auf. Welcher Wochentag ist eigentlich? Im Radio erklingt ein Adventslied, sie liebt es und dreht ein bisschen lauter. Die Strophe hat sie noch gar nicht gehört: „Ihr dürft euch nicht bemühen, noch sorgen Tag und Nacht, / wie ihr ihn wollet ziehen mir eures Armes Macht. / Er kommt, er kommt mit Willen, / ist voller Lieb und Lust, / all Angst und Not zu stillen, die ihm an Euch bewusst.“

Advent 2022
Eine schmale Frau geht einen Wiesenpfad entlang, die Hände tief in den Jackentaschen, die Schultern hochgezogen. Sie schaut sich um: Jugendliche haben im Rahmen eines Förderprojektes einen Weg angelegt, der an Kunstinstallationen vorbeiführt. Es ist ein kalter grauer Tag. Und dann versinkt sie wieder in Grübelei. Ihr ganzes Leben lang hat sie sich engagiert in der Friedensarbeit, für Frauenrechte. War alles umsonst? Der Krieg in der Ukraine hat die Aufrüstung zurückgebracht, die Zwangsrekrutierungen, die Logik der Gewalt. Und vor ein paar Wochen war sie in Karlsruhe auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Da haben ihr die Frauen aus dem globalen Süden ihre Wut entgegengeschrien: es geht so nicht weiter! Wir halten es nicht mehr aus! Was tut ihr für uns??? Was sie tut? Sie hat ihr ganzes Leben lang für die Rechte dieser Frauen gestritten. War alles umsonst?
Am Weg taucht jetzt ein Halbkreis aus Eisenstäben auf. „Allein / Zaun“ heißt das Kunstwerk von Michael Hitschold. Sie stellt sich hinein. Blickt durch die Stäbe, die nasse Kälte zieht in die Knochen, die Wiese verschwimmt im Nebel. Heute wird es nicht mehr hell…

Aber da:
„Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch.“
Woher kennt sie das nur? Ach ja - das Hohelied, dieses Liebeslied, verrückt, verzückt, närrisch. Neuerdings am 2. Advent zu lesen! Als käme Das Christkind verliebt und leichtfüßig über die Wiese getanzt, den Stationsflur entlang und würde in das Zimmer mit dem Rechner hüpfen und die junge Frau umschmeicheln und „Friede auf Erden singen“ und alle wird gut und dann reiten wir mit dem Prinzen an der Seite und Glockenläuten im Brautkleid über den glitzernden Schnee…
So weit kommt‘s noch.
Aus diesem trüben Nebel kommt kein Retter, da ist keine Liebesgeschichte in Sicht.
Aber da:
„Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter.
Mein Freund antwortet und spricht zu mir:
Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her!“
Was ist an mir noch schön, denkt sie - ich hab ja nur noch meinen Krankenhauskittel, Jogginghosen oder Schlafanzug an und kann froh sein, wenn ich es hin und wieder schaffe, Haare zu waschen. Was ist an mir noch schön, denkt sie - ich sitze ja immer nur am Rechner, die Haut ist trocken und gereizt und überhaupt: mich sieht ja sowieso keiner.
Was soll sie? Die Gitterstäbe sind eiskalt und sie ist fast festgefroren. Wohin soll sie denn kommen. Die Wiese ist nass…
Aber da:
„Siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin.
Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande.
Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her! Meine Taube in den Felsklüften, im Versteck der Felswand, zeige mir deine Gestalt“
Aber da: da bricht die Sonne auf einmal hervor und der graue Nebel hebt sich. Es ist so schön in er Heide.
Aber da: reißt der Himmel auf und es duftet nach Tannengrün und was ist das noch, diese süße Schwere?
Aber da wir es hell. Der Morgen bricht an. Ein neuer Tag. Ein Kind wird geboren.
Frieden auf Erden. Jetzt und hier bei den Menschen seines Wohlgefallens.
Aber da klappt sie den Rechner zu und nimmt sich Jacke, Mütze und Handschuh und geht vor die Tür. Die Sonne scheint. Sie wird Blumen kaufen und eine Freundin besuchen. Sie wird …
Sie weiß noch nicht, wie es gehen kann.
Sie weiß noch nicht, ob sie sich frei strampeln wird.
Sie weiß noch nicht, welche Schritte endlich helfen, damit Frieden wird.
Sie weiß es noch nicht.
Aber es gibt Hoffnung.
Hier und jetzt.
Sie hebt den Kopf und spürt, dass sie sich aufrichtet und gut fühlt und dass es Grund zur Hoffnung gibt.
„Da ist die Stimme meines Freundes!“
Da ist sie. Endlich.

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  Totensonntag

Totensonntag

Cornelia Götz, Dompredigerin - 20.11.2022

Nachher werden wir an Menschen erinnern, von denen wir hier Abschied genommen haben und während wir das tun, wird wohl jede und jeder von uns noch andere mitdenken - Menschen die zu unserem Leben gehört haben, die wir geliebt, zu spät getroffen haben, die wir noch ganz anders hätten kennenlernen wollen …
Sie sind gestorben und vorangegangen in Gottes Ewigkeit, sie haben uns eine zutiefst existentielle Erfahrung voraus, sie wissen nun, wie es ist.
Ist es so, wie sie geglaubt haben?
Was haben sie denn geglaubt?
Wenn ich in Trauerhäuser komme, um mir erzählen zu lassen von dem Menschen, den ich beerdigen werde, dann wundere ich mich manchmal, wie wenig die Nächsten voneinander wissen (auch wenn sie in großer Liebe miteinander und nicht nebeneinander gelebt haben). Allermeist ist es ein inneres Fotoalbum, das sich nur langsam öffnet und manchmal wird daraus unter Tränen und Lächeln ein bewegtes Bild. Es ist uns Menschen ja eigen, dass wir rückblickend eine Lebensgeschichte erzählen als wäre sie eine logische Folge von bewussten Entscheidungen; dabei haben wir das Wenigste in der Hand: wo und in welche Familie wir geboren wurden, welche Ereignisse in unserer Lebenszeit fallen und ob sie für uns selbst zu Zäsuren wurden, wen wir getroffen, bemerkt und in unser Leben gelassen haben…
Dabei hätte es auch anders kommen können. Einerseits. Und andererseits sagen wir uns ja, dass Gott etwas mit uns vorhat, dass unsere Wege bei ihm längst beschlossen sind.
Aber glauben wir das auch?
Schwere Frage, denn wir reden zu wenig darüber. Erst recht, wenn es um Tod und Sterben geht. Dann ahnen wir vielleicht noch, ob einer Angst vorm Sterben gehabt hat, aber ob es eine Hoffnung gab für das danach???
Totensonntag.
Christian Lehnert, Theologe, Dichter, schreibt: „Jedes Denken beginnt im Leib. Die Vergänglichkeit ist ihm eingeschrieben… Und trotzdem können wir vom Sterben mit Gewissheit in der ersten Person nur im Futur reden, von all dem was danach sein mag, überhaupt nicht. .. Denn wo der Tod ist, sind wir nicht.“
Dennoch haben wir da keine Leerstelle.
Irgendetwas glaubt jeder: je nachdem, was uns am ehesten tröstet oder was wir mit rationalem Denken erklären können, was uns eingeschrieben ist von Kindesbeinen an.
Aber ob wahr ist, dass wir einfach wieder zu Erde werden oder doch wiedergeboren als ein anderes Wesen, ob es wahr ist, dass unsere Seele weiterlebt oder wir doch mit Fleisch und Knochen auferstehen, keiner kann es wissen.
Dabei ist es nicht egal.
Es macht etwas mit unserer Hoffnung, es macht etwas mit unserer Demut und auch mit dem Wert, den wir einem Menschenleben zurechnen.
Als Christen sagen wir, dass Gottes unseren Ausgang und Eingang aus seiner Herrlichkeit segnet, wir bekennen wir die Auferstehung von den Toten und das ewige Leben.
Aber glauben wir es auch?
Jesus Christus rechnet offenbar nicht damit.
So erzählt es jedenfalls der Evangelist Johannes. Denn unmittelbar bevor er mit der Rede anhebt, die über diesem Tag steht sagt er: „Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht.“
Mithin: wenn das nicht genügt; wer wollte dann annehmen, dass ihr etwas glaubt, was ihr nicht seht oder denken könnt? Und dann scheint er doch etwas erklären, denkbar machen zu wollen:
„Alles, was mir der Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich’s auferwecke am Jüngsten Tage.“
Es geht schon verquer los. „Alles was…“ - das klingt, als seien wir eine undefinable Masse. Vielleicht ist das nur Gehakel im Weitergeben und Abschreiben alter Worte. Vielleicht ist es aber auch ein kleiner Verweis auf etwas Existentielles: ganz wir selbst, gekannt, beim Namen genannt, ich und du, werden wir, weil Gott weil es eine Beziehung gibt zwischen Gott und uns, durch die wir überhaupt erst ein Du und „wer“ werden.
Wenn wir als solche kommen, sagt Jesus Christus über seinen Vater, unseren Gott, dann wird er uns nicht hinauswerfen.
Kommen genügt.
Das habe ich in diesem Frühjahr bei den Benediktinerinnen gelernt: Wir müssen nichts wissen oder glauben können, mögen voller Zweifel und Vorbehalte sein: Kommen genügt.
In der uralten Regel des Benedikt von Nursia heißt das: Gott suchen zu wollen, ist das Einzige was Not tut, um eingelassen zu werden. Allerdings heißt es in der jahrhundertealten Regel auch, dass es die „älteren Brüder sein sollen, die an der Pforte Dienst tun.“
Vielleicht, weil die Alten lange genug durch Anfechtung und Zweifel hindurchgegangen sind, um noch in der verworrensten Not ein bisschen Gottsuche zu finden? Oder weil sie nach einem langen Leben gar nicht mehr wissen, was man glauben kann, aber die Sehnsucht derer, die klopfen kennen?
Und einmal angekommen, werden wir nicht mehr hinausgeworfen.
Und Jesus begründet diese übergroße Gastfreundschaft für alle, auch die Verirrten, Zornigen und Stumpfen: „Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. „
Das klingt fast, als wollte sich der Mensch Jesus distanzieren von Gottes unbegreiflicher Langmut. Denn er kommt dort an, wo er am Anfang war, nur apodiktischer:
„Denn das ist der Wille meines Vaters, dass, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, das ewige Leben habe; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.“
Jesus ringt mit Gottes Menschen, seinen Geschwistern. Wohl wissend, dass „Ihr nicht glaubt, obwohl ihr mich seht“, scheint doch Glauben möglich, wenn wir ihn sehen…
Es geht im Kreis, ist so mühselig und vielleicht auch so müßig.
Aber was dann an den Gräbern tun…?
Reden wider den Augenschein.
Trotz allem.
Denn das ist die Suchbewegung, die die Richtung weist oder mit Friedrich Hölderlin: „Dem Sehnenden war / der Wink genug, und Winke sind von altersher die Sprache der Götter.“

Nachher werden wir an Menschen erinnern, die zu unserem Leben gehört haben, die wir geliebt, zu spät getroffen haben, die wir noch ganz anders hätten kennenlernen wollen …
Sie sind gestorben und vorangegangen in Gottes Ewigkeit, sie weisen einen Weg, den wir alle auch gehen werden.
Schritt für Schritt.
Es ist ein Weg, den wir nicht denken können.
Es ist ein Weg, den wir nicht verstehen und der nicht unserem Willen folgt.
Es ist ein Weg, der vorher nicht zu sehen war.
Es gibt nichts zu wissen.
Aber Wahrheit kann sich erweisen im Suchen und Ankommen.
Amen

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  Volkstrauertag

Volkstrauertag

Cornelia Götz, Dompredigerin - 13.11.2022

wir befinden uns in der Friedensdekade - zehn Tage lang sind wir aufgefordert für den Frieden zu beten, immer wieder und wieder. Zehn Tage lang müssen wir einmal mehr aushalten, dass auf unser Gebet hin offenbar nichts passiert, dass infrage steht, ob es überhaupt etwas bewirken kann.

Wir befinden uns am Ende des Kirchenjahres und es geht um die vorletzten Dinge: Tod und Gericht, Buße. Der Wochenspruch entlässt uns nicht in harmlosen Novembertrübsinn, denn es heißt (aus dem zweiten Korintherbrief): „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“

Am Ende dieser Zeit, in der wir scheinbar so wenig ausrichten können, werden wir uns verantworten müssen für das, was wir getan und gelassen haben. Mag uns dieser der Gerichtsgedanke auch fremd sein, diese letzte Instanz haben wir dringend nötig.

Wir brauchen Instanzen, die uns mahnen und beunruhigen.

Wir brauchen Instanzen, die uns nötigen, uns zu erklären.

Wir brauchen Instanzen, vor denen wir um Wahrheit und Gerechtigkeit ringen können, damit sich etwas bewegt, damit wir ins Handeln finden.



Der Predigttext heute - zugleich Evangelium - erzählt von einer solchen Instanz und sprengt doch alles, was wir erwarten. Sie haben es gehört:

„Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen.“

Was immer das für einer war: wer sich vor Gott und den Menschen nicht fürchtet, vor dem sollten wir uns in acht nehmen. Wer sich selbst genug ist, wer sich selbst zum personifizierten Recht des Stärkeren macht, dem ist vermutlich nichts heilig, der bricht das Doppelgebot der Liebe, das sich auf Gott und den Nächsten richtet - der liebt sich nur selbst.

Wenn so einer in der Welt, in Stadt und Land, für Gerechtigkeit sorgen soll, dann Gnade uns Gott!

Allerdings: was tue ich, wenn ich den Richter so beschreibe? Ist das womöglich nur Ausdruck von Verletzung, vorurteilsbeladen, unfair und ungerecht? Könnte es nicht auch so sein:

Wer Gott nicht fürchtet und die Menschen nicht scheut, der weiß sich sicher, denn der rechnet nicht mit dem unbarmherzigen willkürlichen Gott, der hat sich ihm anvertraut. So kann er Mensch unter Menschen sein, weil er weiß, dass Gnade bedeutet, wirklich angesehen zu werden.

Um so einen kann man jede Stadt beneiden.

Wir wissen es nicht. Wir schauen nicht in ihn hinein. Aber wir wissen von einer Begegnung: denn

„es war eine Witwe in derselben Stadt, die kam immer wieder zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!“

Eine Witwe…

eine, die keine Lobby, keinen Anwalt hat
eine, die darauf angewiesen ist, von den Instanzen einer Stadt nicht vergessen zu werden
eine, die nichts zu verlieren hat
eine, die lernt für sich selbst einzustehen
eine, die endlich gehört werden will
eine, die nervt
Sie kann nicht weiterleben, ohne dass ihr endlich Gerechtigkeit widerfährt.

Aber sie kommt nicht weiter.

Sie ist wie wir mitten in der Friedensdekade 2022 während des Ukrainekrieges, der dort tobt, wo zahllose Soldaten und Zivilisten des letzten Krieges noch immer unbestattet vermodern, der tobt, obwohl wir alle wissen, wieviele Generationen es braucht, bis die Wunden eines Krieges verheilen und die Narben nicht mehr schmerzen, bis ein Land wieder aufgebaut und Schuld abgetragen ist.

Es ist ein Krieg, der etwas mit der Nachkriegsordnung zu tun hat, die keinen gerechten Frieden brachte - aber Taubheit auf vielen Ohren.

Wir sind in dieser Friedensdekade wie die Witwe, erleben uns ohnmächtig und ohne Handhabe aber erfüllt von einer sehr klaren Hoffnung: es möge endlich Frieden geben und zu Ende sein mit diesem Widersacher.

Aber es passiert nichts. Im Gegenteil: Woche für Woche, Monat für Monat geht ins Land.

Die Witwe und wir werden nicht erhört. Lukas erzählt in seiner Parabel:

„Er - der Richter - wollte lange nicht.“

Er könnte. Aber er will nicht.

Das weiß die Witwe, darum gibt sie nicht auf - will ihn erweichen und zermürben, dahin bringen, ihre Sicht zu teilen, ihr helfen zu wollen.

Es ist eine machtförmige Konstellation.

Wer dagegen anrennt, tut es, weil es das Einzige ist, was man überhaupt tun kann: so wie die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo in Argentinien immer und immer wieder fragen, was aus ihren verschwundenen Kindern geworden ist, so wie die Frauen in weißen Kleidern seit dem Wahltag 2020 in Belarus immer und immer wieder auf die Straße gegangen sind, so wie es in Ostdeutschland Friedensgebet gab - jahrzehntelang.

All diese Bitten sind wie Wolken über unseren Köpfen.

Erbarme dich. Schaff Recht!

Aber ER will lange nicht.

Keine Erklärung. Keine Begründung.

Warum??? Dieser Richter ist kein Stein. Leuchtet ihm schlicht nicht ein, was die Witwe will. Vielleicht ist die Zeit nicht reif. Vielleicht muss es ein so zähes Ringen sein???

Jedenfalls wird erzählt:

„Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.“

Es ist bitter - aber es geht nicht um die Sache. Die Frau wird nicht erhört, weil sie ein Mensch mit eigener Würde und dem Recht, gehört zu werden ist, sondern weil sie anstrengend ist, weil sie keine Ruhe gibt, weil dem Richter schwant, dass er ihr nicht entkommt, weil er sich doch fürchtet.

Spürt auch er, dass er sich verantworten muss? Offenbar kommt er janins Nachdenken…

Das Gleichnis bricht hier ab und es folgt eine Deutung, von der ein Kommentator schreibt, dass „man sie nicht ohne Zittern“ realisieren kann:

„Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte aber Gott nicht Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er bei ihnen lange warten? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, wird er dann Glauben finden auf Erden?“

Sollte das das ein Gottesbild sein? Sollen wir uns Gott wie diesen Richter denken???

Widerspricht dies nicht allem, was wir glauben wollen, die wir doch „unser Vater“ sagen dürfen.

Sollte Gott ungerecht und gleichgültig sein?

Vorsicht! Wir sollten uns nicht versteigen! Es ist nur ein Bild. Wir sehen mit unseren Augen und aus der Erschöpfung derer, die Gottes Wirken suchen.

Erkennen können wir ihn in Jesus Christus, dem Menschenkind, dem Menschensohn. Er ist nahe. Es wird Advent. Aber was wird dann sein?

Wird Gott, der in unsere Welt kommt - jetzt 2022 - Glauben finden, zähes Vertrauen, dass es nützt ihn zu bitten, dass der Moment kommt, an dem er Recht schafft?



Zurück zum Anfang. Es ist ein Gleichnis. Ein Bild. Nicht für die irdische Gerechtigkeit, schon gar nicht für die himmlische, sondern - so heißt es: ein „Gleichnis davon, dass man allezeit beten und nicht nachlassen sollte“.

Am Ende des Kirchenjahres geht es um das ,was wir tun können und was von uns erwartet wird. Alles wird möglich durch das Gebet. Oder mit Karl Barth: „Hände zum Gebet falten - ist der Anfang eines Aufstandes gegen die Unordnung der Welt.“

Wir sind mitten in der Friedensdekade, am Volkstrauertag.

Es scheint, als könnten wir nichts tun und würden nicht gehört. Das ist ein Irrtum.

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  Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein – Gerechter Frieden ?! – Gerechter Krieg?!

Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein – Gerechter Frieden ?! – Gerechter Krieg?!

Renke Brahms, Friedenbeauftragter EKD 2008-2021 - 08.11.2022

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich bedanke mich herzlich für die Einladung zu dieser politischen Abendandacht und freue mich, dass mein Beitrag zum heutigen Thema in diesem Rahmen stattfindet. Die aktuelle Situation mit dem völkerrechtswidrigen und immer brutaler werdenden Krieg Russlands gegen die Ukraine macht mich auch nach Monaten immer noch und immer stärker fassungslos. Wie im 21. Jahrhundert noch ein solcher Krieg geführt werden kann, löst bei mir – und ich gehe davon aus, dass es nicht nur mir so geht – eine Gefühlsmischung von Empörung, Enttäuschung und tiefem Nachdenken über das, was jetzt eigentlich getan werden kann, aus – und auch ein Nachdenken über meine Grundüberzeugungen eines friedensbewegten Engagements.
In dieser Situation ist es für uns als Christenmenschen und als Kirche sehr angemessen, alles Nachdenken über Krieg und Frieden in das Gebet um den Frieden einzuordnen. Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur eine friedenspolitische und friedensethische Herausforderung, sondern auch eine geistliche Herausforderung. Ich orientiere mich dabei an Dietrich Bonhoeffer: „…aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten.“ Diesen Dreiklang hat Dietrich Bonhoeffer als Aufgabe der Kirche in seinem Brief aus dem Gefängnis im Mai 1944 beschrieben. Dieser Dreiklang sollte auch das kirchliche Reden und Handeln prägen.

Buße tun und zur Buße rufen
Der Krieg, das Leid der dort gebliebenen Menschen und der Flüchtenden und die scheinbare Ausweglosigkeit aus der Gewalt stellt mich als Christenmenschen und uns als Kirche zuallererst vor die Frage, ob wir die Zeichen der Zeit (Lukas 24,54ff) richtig wahrgenommen und gedeutet haben, ob wir genug getan haben und tun, um den Krieg oder weitere Gewalt zu verhindern. Wir Christenmenschen und Verantwortliche in der Evangelischen Kirche in Deutschland - für meine Person muss ich es jedenfalls so sagen – müssen einsehen und bekennen, dass wir wie viele andere auch die Situation falsch eingeschätzt haben. Wir müssen einsehen und bekennen, dass wir nicht genug auf Schwestern und Brüder gehört haben, die uns auf die Gefahr eines Krieges hingewiesen und uns vor Russland unter Putins Herrschaft gewarnt haben. Wir müssen einsehen und bekennen, dass wir uns in den vergangenen Jahren sehr stark mit den Kriegen in Afghanistan und Mali, in Libyen und Syrien beschäftigt haben, die gewalttätigen Konflikte und Kriege in Tschetschenien, Georgien, der Ukraine und anderen Ländern des Ostens und ihre Folgen nicht genug wahrgenommen und daraus Konsequenzen gezogen haben.
Wir müssen einsehen und bekennen, dass wir an dem Tanz um das goldene Kalb der wirtschaftlichen Vorteile teilgenommen und davon profitiert haben und nicht vehement genug widersprochen haben, als es immer nur um wirtschaftliche Interessen und den eigenen Wohlstand ging, der nicht gefährdet werden durfte – und so gerade in Deutschland in eine besondere Abhängigkeit von Russland gekommen sind.
Jesus Christus ruft uns und die Kirchen in der Ökumene zur Umkehr. Wir müssen einsehen und bekennen, dass es uns nicht gelungen ist, in der Ökumene die Grenzen zu überwinden und ein gemeinsames Zeugnis für den Frieden zu geben. Besonders schmerzlich ist die Haltung des russischen Teils der Russisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriachats und ihres Patriarchen, die in einer unheilvollen Vermischung des Geistlichen und Politischen die Narrative des russischen Präsidenten unterstützt und verstärkt.
Jesus Christus ruft zur Umkehr auch der politisch Verantwortlichen auf, zuallererst den russischen Präsidenten und seiner Regierung. Das wäre die Aufgabe der russisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriachats in diesen Tagen.

Beten
In der Ökumene machen wir die Erfahrung, wie wichtig den Schwestern und Brüder unser Gebet ist. Es hält die Solidarität mit den Leidenden wach, schärft die Aufmerksamkeit für ihre Situation und bringt sie vor Gott. Indem wir im Gebet eine Sprache für das Leid der Betroffenen und auch für unsere eigenen Ängste und die eigene Ohnmacht finden, können wir die Schrecknisse aussprechen, ohne daran zu zerbrechen, zu resignieren oder in Feindbilder verfallen. Die Kraft des Gebetes ist eine Kraft des Widerstands und der Resilienz in schweren Zeiten. Deshalb gilt in diesen Zeiten der Ruf, nicht vom Gebet abzulassen (Epheser 6,18) . In dieses Gebet sind auch diejenigen eingeschlossen, die z.B. in Russland oder in Belarus gegen die Machthaber und ihre Politik demonstrieren und arbeiten.

Tun
Mit dem Gebet geht das konkrete Tun einher. Humanitäre Hilfe für die Menschen in der Ukraine in jeglicher Form gehört genauso dazu wie die Unterstützung der Flüchtenden. Die Spendenbereitschaft ist groß und Organisationen und einzelne Menschen setzen sich in vorbildlicher und selbstloser Weise ein. Die Zahl der Flüchtenden und die Geschwindigkeit der Fluchtbewegung aus der Ukraine, die selbst die Situation im 2. Weltkrieg übersteigt, stellt eine enorme Herausforderung dar. Dabei geht es in der Langzeitperspektive um eine dauerhafte und nachhaltige Aufnahme und Unterstützung der Flüchtenden. Es geht in der Folge um Kita- und Schulplätze, Arbeitsmöglichkeiten und Wohnungen. Wachsam müssen wir bleiben für mögliche Auseinandersetzungen in der eigenen Gesellschaft, dürfen nicht zulassen, dass extremistische Gruppen darauf ihr Süppchen kochen und auch nicht, dass Spaltungen zwischen Menschen aus der Ukraine und Russland in unserem Land verschärft werden.

Friedensethisch orientieren
Was ist das „Gerechte“ in dieser konkreten Situation des Krieges in der Ukraine? Diese Frage führt uns in die friedensethische Auseinandersetzung auf dem Hintergrund des Leitbilds des „Gerechten Friedens“, wie es in der Evangelischen Kirche in Deutschland formuliert worden ist.
Dabei geht es nicht darum, vermeintlich gewohnte Positionen der Friedensethik grundsätzlich zu überdenken, eine grundlegende Reform der Friedensethik anzustreben oder gar eine neue Friedensethik zu entwickeln. Es geht darum, die Friedensethik des gerechten Friedens auf die konkrete Situation zu beziehen und dabei entstehende Fragen zu identifizieren und zu bearbeiten. Aus der Zeit gefallen ist nicht die Friedensethik, die sich am Vorrang von Gewaltfreiheit orientiert und auf eine regelbasierte internationale Ordnung setzt. Aus der Zeit gefallen ist eine Politik, die auf militärische Stärke und das Recht des Stärkeren setzt und eine Weltordnung aus dem 19. und 20. Jahrhundert verfolgt, wie es die russische Führung zurzeit tut.
Das Leitbild des gerechten Friedens mit seinen Dimensionen der Vermeidung von Gewaltanwendung, der Förderung von Freiheit zu einem Leben in Würde durch Recht, den Abbau von Not und die Förderung von kultureller Vielfalt bietet auch heute einen umfassenden Rahmen für konkrete Friedensethik. Der Vorrang (prima ratio) der Gewaltfreiheit und der Prävention, die Bedeutung der Friedensbildung und die Betonung des internationalen Rechts haben nichts an Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Die kriegerischen und gewaltförmigen Konflikte der vergangenen Jahre von Afghanistan über Irak, Syrien, Tschetschenien, Mali bis zum Jemen zeigen die zerstörerischen Wirkungen der Gewalt, zeitigen keine Sieger, sondern nur Verlierer und mahnen deshalb erst recht dazu, die Gewalt und den Krieg zu überwinden und andere Wege der Konflikttransformation zu entwickeln. Die Erkenntnis, dass es für Konflikte keine militärische Lösung gibt und Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg ist, ist offensichtlich. Der Satz: „Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten“ hat sich eher bestätigt. Militärische Gewalt bringt keinen Frieden. Sie kann im Sinne der rechtserhaltenden Gewalt höchstens zeitlich begrenzt Menschen vor noch höherer Gewalt schützen und einen Raum für den Frieden schaffen.
Sie haben den Abend überschrieben: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Gerechter Frieden?! Gerechter Krieg!?“
Dieser Satz „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ von der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen aus dem Jahr 1948 klingt so programmatisch wie eindeutig. Aber ganz so eindeutig war er damals nicht. Denn in dem Bericht der vierten Sektion der Vollversammlung folgt auf diese Überschrift unmittelbar die Beschreibung der verschiedenen Positionen im ÖRK – derjenigen, die sagen, dass – auch wenn der Christ in einen Krieg ziehen muss – ein Krieg niemals gerecht sein kann; derjenigen, die einen Krieg für die ultima ratio halten, um das Recht zu schützen; und derjenigen, die jeglichen Kriegsdienst ablehnen.
Diese verschiedenen Positionen ziehen sich im Grunde durch die friedensethischen Debatten bis heute.
Was ich heute hier tun kann, ist, die verschiedenen Positionen, wie sie sich aktuell auch in der EKD darstellen, zu skizzieren und Argumente an die Hand zu geben, die helfen können, den eigenen Abwägungsprozess zu schärfen.

Gerechter Frieden und rechtserhaltende Gewalt
Der folgende Abschnitt betrachtet die friedensethisch relevanten Fragen im Rahmen der Argumentation der Denkschrift der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ aus dem Jahr 2007. So heißt es in der Friedensdenkschrift der EKD: „Recht ist auf Durchsetzbarkeit angelegt. In der Perspektive einer auf Recht gegründeten Friedensordnung sind Grenzsituationen nicht auszuschließen, in denen sich die Frage nach einem (wenn nicht gebotenen, so doch zumindest) erlaubten Gewaltgebrauch und den ethischen Kriterien dafür stellt.“
Zu den Kriterien werden hier einerseits die Regelungen des Völkerrechts und anderseits die nun in den Rahmen des gerechten Friedens eingeordneten Kriterien des sogenannten „gerechten Krieges“ (Erlaubnisgrund, Autorisierung, Richtige Absicht, äußerstes Mittel, Verhältnismäßigkeit der Folgen, Verhältnismäßigkeit der Mittel, Unterscheidungsprinzip) hinzugezogen, die durch weitere Kriterien ergänzt werden (z.B. Überprüfbarkeit durch den Internationalen Gerichtshof, Exitstrategie, Evaluation). Zu betonen ist, dass die Lehre des sogenannten „Gerechten Krieges“ immer der Begrenzung und Abwehr eines Kriegs dienen sollten.
Nur unter diesen eng gesetzten Kriterien kann der Gebrauch von Gewalt im Sinne rechtserhaltender Gewalt friedensethisch erlaubt sein: „Bei schwersten, menschliches Leben und gemeinsam anerkanntes Recht bedrohenden Übergriffen eines Gewalttäters kann die Anwendung von Gegengewalt erlaubt sein, denn der Schutz des Lebens und die Stärke des gemeinsamen Rechts darf gegenüber dem »Recht des Stärkeren« nicht wehrlos bleiben.“
Angesichts der Eindeutigkeit der Situation in der Ukraine, des einseitigen Angriffs Russlands auf das Land, dem Tod vieler Zivilisten, der Zerstörung ganzer Städte und der starken Indizien für Kriegsverbrechen durch Russland muss konstatiert werden, dass in diesem Fall viele Kriterien für den Gebrauch rechtserhaltender Gewalt nach der Denkschrift der EKD erfüllt sind – aber eben nicht alle, wie es die Denkschrift fordert. Es bleiben offene Fragen:
Angesichts der Blockade im UN–Sicherheitsrat ist eine Mandatierung durch denselben nicht zu erwarten. Die Resolution A/RES/ES-11/1 der UN-Generalversammlung vom 2. März 2022 ist mit ihren 141 Stimmen zwar ein starkes Zeichen für die Verurteilung des Russischen Angriffs auf die Ukraine, aber keine Mandatierung irgendeines Einsatzes.
Insofern ist friedensethisch nach den Kriterien der Denkschrift eine Begründung rechtserzwingender und rechtserhaltender Maßnahmen nur unter dem Gesichtspunkt der „Nothilfe“ zu betrachten möglich: „Sollte der rechtmäßige kollektive Sicherheitsmechanismus durch eine Blockierung des UN-Sicherheitsrats versagen (wie 1998 im Blick auf Kosovo, wo sich das Problem der Spannung zwischen Recht und Moral stellte), so wären militärische Nothilfemaßnahmen zumindest streng daraufhin zu prüfen, ob sie in der Folgewirkung das Kriegsächtungsprinzip der UN-Charta und die transnationale Rechtsdurchsetzung durch die Weltorganisation eher stärken oder schwächen.“
Angesichts der schon vorhandenen Schwächung der transnationalen Sicherheit und damit der der UN ist die Frage nicht leicht zu beantworten, ob die schon vorgenommenen Maßnahmen oder gar weitere Schritte das Kriegsächtungsprinzip und die UN stärken oder schwächen. Allerdings muss auch bedacht werden, dass Russland mit dem Angriff beides in eklatanter Weise geschwächt hat und die Folgen dieses Vorgehens von gravierender Bedeutung sein können, wenn wir auf andere Konflikte sehen – wie z.B. den zwischen China und Taiwan.
Zu bedenken ist weiterhin, dass nicht erst der Gebrauch militärischer Gewalt unter den oben genannten Kriterien stehen kann. Auch die Frage von Sanktionen und Waffenlieferungen müssen unter diesen Gesichtspunkten betrachtet werden. Insofern ist die Figur der „rechtserhaltenden Gewalt“ friedensethisch noch einmal präziser zu fassen und im Sinne „rechtserzwingender Gewalt“ zu erweitern. Denn auch Sanktionen sind ein Mittel der Erzwingung von Recht und führen zu leidvollen Situationen nicht nur für die jeweils Herrschenden, sondern auch für die gesamte Bevölkerung . Insofern sind auch hier die verschiedenen Maßnahmen gerade unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Folgen für eine unbeteiligte Zivilbevölkerung zu betrachten. Auf jeden Fall sind Waffenlieferungen in die Ukraine unter diesen Gesichtspunkten zu prüfen. Zurzeit werden Sanktionen und Waffenlieferungen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit als „sanftere“ Mittel des Eingreifens zu betrachten sein. Damit wird zugleich eine Grenze markiert, da ein direktes Eingreifen der NATO zurecht als Kriegseintritt betrachtet werden muss, der massive Folgen hätte.

Waffenlieferungen
Speziell die Frage der Waffenlieferungen werden in der friedensethischen Debatte innerhalb der EKD diskutiert. Dazu sind folgende Aspekte zu betrachten:
Erstens: Ob das Völkerrecht in der konkreten Situation Waffenlieferungen an die Ukraine erlaubt, ist genau zu betrachten . Das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta steht der Ukraine unbestritten zu. Die Ukraine ist kein NATO-Mitglied, insofern nicht Mitglied eines Bündnisses der kollektiven Sicherheit, das verpflichtet wäre, auch militärisch zu unterstützen. Sie darf aber im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung um Unterstützung ersuchen. Im Rahmen des Neutralitätsgebotes des 1907 beschriebenen Haager Abkommens zum Kriegsrecht müsste eine strikte Neutralität gegenüber beiden Ländern gelten – sowohl Russland als auch der Ukraine. Aus dem 1928 verabschiedeten und nach wie vor gültigen Kriegsächtungspakt oder Briand-Kellog-Pakt und dem aus ihm entstandene Prinzip der Nichtkriegsführung kann geschlossen werden, dass der Einsatz unterstützender Mittel unter der Voraussetzung der eindeutigen Feststellung des Aggressors und des Opfers völkerrechtlich erlaubt ist. Auch wenn der Weltsicherheitsrat durch das Votum Russlands blockiert wurde, hat die Vollversammlung der UN mit überwältigender Mehrheit die Aggression Russlands festgestellt und verurteilt.
Zweitens: Politisch ist zu beachten, dass die politischen Entscheidungen der Bundesregierung in den vergangenen Jahren ausgesprochen widersprüchlich waren. Einerseits wurde eine restriktivere Rüstungsexportpolitik verkündet, andererseits sind Waffen in großem Maße auch in Krisenregionen geliefert worden, z.B. an Ägypten, das als Kriegspartei im Jemen direkt beteiligt ist. Die ersten Entscheidungen, keine Waffen an die Ukraine liefern zu wollen, stehen dazu in einem unerklärlichen Widerspruch. Eine kohärente Politik sieht anders aus. Waffenlieferungen in einem völkerrechtlich eindeutigen Fall wie dem Krieg in der Ukraine liefern allerdings keine Legitimität für Waffenexporte an Konfliktparteien in anderen Regionen. Das gilt es sorgfältig zu unterscheiden.
Drittens: „Rüstungsexporte tragen zur Friedensgefährdung bei. In exportierenden Ländern stärken sie eigenständige wirtschaftliche Interessenlagen an Rüstungsproduktion. In den importierenden Ländern können Waffeneinfuhren Konflikte verschärfen.“ Deshalb vertritt die Gemeinsame Konferenz für Kirche und Entwicklung (GKKE) seit Jahren die Forderung einer restriktiven Rüstungsexportpolitik – vor allem in Krisengebiete. Waffenlieferungen in die Ukraine stellen genau das dar, sind deshalb friedensethisch problematisch und können höchstens im Rahmen der oben genannten Nothilfe als legitim betrachtet werden. Das heißt aber keineswegs, dass Rüstungsexporte in andere Länder in Krisenregionen dadurch ebenfalls an Legitimität gewonnen haben. Die Bundesregierung ist weiterhin aufgefordert, die Rüstungsexporte deutlich restriktiver zu handhaben, vor allem in Krisengebiete und an Staaten, die an Kampfhandlungen und Konflikten beteiligt sind. Und es ist Aufgabe der Kirche, weiterhin für eine sehr restriktive Rüstungsexportpolitik einzutreten.
Als Fazit dieser Überlegungen kann festgehalten werden, dass viele der Kriterien der Denkschrift für Maßnahmen im Rahmen der rechtserhaltenden Gewalt erfüllt sind, eine friedensethische Beurteilung aber keineswegs eindeutig ist – vielmehr oben angesprochene Fragen und Unsicherheiten bleiben. Eine Ermäßigung der Kriterien der rechtserhaltenden Gewalt nach der Denkschrift der EKD aus dem Jahr 2007 stellen keine Alternative dar, würden sie so ihrerseits internationales Recht aushöhlen. Es bleibt also bei einer friedensethischen Abwägung, die nicht ohne Dilemmata bleibt.

Die Option des gewaltfreien Widerstands
Ist die friedensethische Positionierung der Denkschrift auch ein weitgehender Konsens in der EKD, so gibt es doch auch prominente Stimmen eines prinzipiellen oder unbedingten Pazifismus, der die Figur der rechtserhaltenden Gewalt und im konkreten Fall der Ukraine auch Waffenlieferungen ablehnt. Angesichts der oben genannten offenen Fragen, Abwägungen und Unsicherheiten ist dieser Pazifismus keineswegs als naiv zu bezeichnen oder einfach zu verneinen, macht er doch auf die weitreichenden Folgen von Maßnahmen rechtserhaltender oder rechtserzwingender Gewalt und auf konkrete Alternativen gewaltfreien und zivilen Widerstands aufmerksam. Dabei geht es beim Krieg in der Ukraine offensichtlich zurzeit ausschließlich um die Frage der Waffenlieferungen. Die Sanktionen werden nicht abgelehnt.
Wichtig ist die Tatsache, dass auch in der gegenwärtigen Situation in der Ukraine ziviler Widerstand geleistet wird. Menschen blockieren Panzer auf der Straße oder Konvois bei der Durchfahrt durch ihre Städte. Sie demonstrieren mit Fahnen und dem Singen der ukrainischen Nationalhymne auch in von russischen Soldaten kontrollierten Gebieten; sie versorgen die Soldaten mit Nahrung und Arzneimitteln, verwirren die russischen Truppen mit Verkehrsschildern, auf denen alle Pfeile nach Den Haag zeigen. Hacker stören russische Webseiten, Menschen versorgen russische Deserteure oder weigern sich, russischen Patrouillen ihre Papiere zu zeigen. Sogar in Belarus und Russland selbst gibt es Widerstand. Belarussische Bahnarbeiter haben die Bahnlinie in die Ukraine sabotiert, damit der Nachschub für die russischen Truppen nicht vorankommt. Menschen demonstrieren bei allergrößter Gefahr in Russland und eine Journalistin zeigt im staatlichen Fernsehen ein Plakat gegen den Krieg. Alle diese Aktionen dürfen in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden und weisen auf die grundsätzliche Bedeutung gewaltfreien Widerstands, zivilen Ungehorsams und sozialer Verteidigung hin.

Durch die Studie von Erica Chenoweth and Maria J. Stephan „Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict“ ist auch in der evangelischen Friedensethik noch einmal eine breite Diskussion über die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands entstanden. Die Studie zeigt, dass bei allen untersuchten Konflikten zwischen 1900 und 2006 gewaltfreier Widerstand fast doppelt so erfolgreich und nachhaltiger war als bewaffnete Konflikte. In einer weiteren Untersuchung über Konflikte nach 2016 wurde deutlich, dass die Anzahl gewaltfreier Widerstandsbewegungen zwar deutlich zugenommen hatte, aber weniger erfolgreich waren als vorher. Das wird u.a. darauf zurückgeführt, dass sich gerade autokratische und diktatorische Regime auf diese Entwicklung eingestellt haben und die Zivilbevölkerung und zivilen Widerstand systematisch unterdrücken und ausschalten, wie wir in den vergangenen Jahren in Russland beobachten mussten. Dennoch bleibt gewaltfreier Widerstand auch nach der weitergehenden Studie erfolgreich.
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass nicht von Anfang an klar war, dass die Ukraine sich so zur Wehr setzt, wie sie es getan hat. Die USA hatten der Regierung Selensky angeboten, sie aus der Ukraine zu evakuieren. Die Überraschung dieses Krieges ist also nicht nur die Tatsache, dass Russland gegen alle Erwartungen das Land angegriffen hat, sondern auch der Widerstandswille und die Widerstandskraft der Ukraine. Hätte die Regierung der Ukraine aufgegeben und die russischen Panzer wären nach Kiev durchgefahren, wäre der Bevölkerung nichts anderes übriggeblieben als gewaltfreien und zivilen Widerstand zu organisieren und zu leisten.
Das Gleiche gilt im Übrigen auch für einen Angriff auf Moldawien, das kein nennenswertes Militär hat, das auszurüsten wäre. Würde Russland Moldawien angreifen und die NATO bei ihrer Linie bleiben, nicht direkt einzugreifen, wäre auch für Moldawien nur ein Weg des zivilen Widerstands möglich. Das Gleiche gälte wohl auch für Georgien. Für die Baltischen Staaten gilt, dass sie gewaltfreien und zivilen Widerstand in ihre Verteidigungskonzepte integrieren – möglicherweise, weil sie sich nicht darauf verlassen, dass die NATO eingreift. Es muss also auch darum gehen, die Staaten so zu unterstützen, dass eine resiliente Bevölkerung gestärkt wird, die im Notfall auch über die notwendigen Ressourcen für zivilen Ungehorsam und gewaltfreien Widerstand verfügt.
Auch hinsichtlich einer Option der Gewaltfreiheit bleiben Fragen offen. Es ist die Frage, ob die Ergebnisse der Studien auf die gegenwärtige Situation in der Ukraine zu übertragen sind, handelt es sich doch hier offensichtlich um mehr als einen regionalen Konflikt. Vielmehr geht es um eine geopolitische Entwicklung, die mit einem imperialistischen Anspruch daherkommt, der weit über die Ukraine hinausgeht. Insofern markiert der Ukraine-Krieg eine rote Linie für mögliche weitere imperialistische Großmachtphantasien der russischen Regierung.
Für die konkrete Situation in der Ukraine aber bleibt entscheidend, dass sich die ukrainische Regierung mit einer großen Unterstützung durch die Bevölkerung dafür entschieden hat, beides zu tun: militärisch und zivil Widerstand zu leisten. Es steht den Außenstehenden jedenfalls nicht zu, die Entscheidungen für die Ukraine zu treffen. Insofern kann die Position anerkannt werden, die Lieferung von Waffen zur Selbstverteidigung unter den gegebenen Umständen im Rahmen der rechtserhaltenden Gewalt friedensethisch als eine Option der Unterstützung zu betrachten. Genauso ist aber auch eine Positionierung anzuerkennen, die solches ablehnt und auf eine konsequente Gewaltfreiheit setzt. Vor allem muss die Zivilbevölkerung auch hinsichtlich des gewaltfreien Widerstands gewürdigt und unterstützt werden.
Niemand kann in Putins Kopf hineinsehen, aber alle Anzeichen deuten darauf hin, dass mit der Ukraine eine imperialistische Politik nicht beendet wäre. Das gilt es zu verhindern. Dabei müssen Waffenlieferungen und Sanktionen allerdings zwingend mit der bleibenden Bereitschaft zu Verhandlungen einhergehen. Dazu müssen auch Gespräche mit den Staaten dienen, die auf Russlands Politik Einfluss nehmen können, wie z.B. China. Die Szenarien für eine Beendigung des Krieges erscheinen zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Herbst 2022 entweder unrealistisch oder inakzeptabel. Die Eskalation des Krieges macht aber die Suche nach einem Ausweg dringend. Allerdings sind auch überraschende Entwicklungen wie sie sich gegenwärtig im Iran zeigen nicht auszuschließen – ebenfalls mit offenem Ende.
Die friedensethische Diskussion in der Evangelischen Kirche in Deutschland ist gelegentlich von starken Gegensätzen und einer gegenseitigen Verdachtshermeneutik geprägt. Der einen Seite wird unterstellt, das Evangelium zu verraten, wenn sie im Rahmen der rechtserhaltenden Gewalt auch den Einsatz von militärischen Mitteln vertreten kann. Der anderen Seite wird vorgeworfen, naiv zu sein und die Realitäten nicht anzuerkennen. Ich plädiere für eine wirklich offene Diskussion der vielen Fragen, die sich angesichts des Angriffs der russischen Regierung auf die Ukraine in der Tat noch einmal dringend und teilweise auch neu stellen. Die unterschiedlichen Positionen in der Friedensethik müssen dabei im gegenseitigen Respekt als gemeinsames Ringen um einen gerechten Frieden verstanden werden, das auch um die offenen Fragen, die Dilemmata und Ambiguitäten weiß.

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Literaturhinweise:

Zu den Verhandlungen zwischen Ukraine und Russland:
Michael Thumann: Lässt Putin mit sich verhandeln? In: Zeit Nr 45 vom 3.11.2022, S. 2
Sabine Fischer: Friedensverhandlungen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine: Mission impossible. In: SWP aktuell Nr. 66 Oktober 2022. https://www.swp-berlin.org/publikation/friedensverhandlungen-im-krieg-zwischen-russland-und-der-ukraine-mission-impossible

Zu Formen gewaltfreien Widerstands und zivilen Ungehorsams in der Ukraine:
Bund für zivile Verteidigung: https://www.soziale-verteidigung.de/artikel/ziviler-widerstand-gegen-krieg-ukraine

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1) Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. Von Eberhard Betghe, 1977, S. 328

2) Sobald ihr im Westen Wolken aufsteigen seht, sagt ihr: Es gibt Regen. Und es kommt so. Und wenn der Südwind weht, dann sagt ihr: Es wird heiß. Und es trifft ein. Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten, warum könnt Ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten? Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil? (Lk 12,54 ff.)

3) Betet allezeit mit allem Bitten und Flehen im Geist und wacht dazu mit Beharrlichkeit und Flehen für alle Heiligen. Epheser 6, 18

4) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2007. Referenzdokumente sind auch: Kirche auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens
Kundgebung der 12. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 6. Tagung oder auch die Reihe „Gerechter Frieden“ aus dem Konsultationsprozess zum gerechten Frieden: "Orientierungswissen zum gerechten Frieden - Im Spannungsfeld zwischen ziviler gewaltfreier Konfliktprävention und rechtserhaltender Gewalt", dokumentiert in „Gerechter Frieden“ 22 Jahrgänge, 2018 – 2022.

5) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Ziffer 98

6) Ebda Ziffer 102

7) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Ziffer 114

8) Vergleiche PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner (FEST): Russlands Angriff auf die Ukraine – die evangelische Friedensethik an einem Wendepunkt? Der gerechte Frieden – eine Orientierung im Krieg in der Ukraine? In: epd Dokumentation Nr. 12, 2022 S. 67ff

9) Vergl. die Diskussionen über die Sanktionen gegenüber dem Irak und deren Folgen für die Bevölkerung in den Jahren 1990 bis 2003

10) Siehe zu dem Folgenden: Stefan Talmon, https://verfassungsblog.de/waffenlieferungen-an-die-ukraine-als-ausdruck-eines-wertebasierten-volkerrechts/

11) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Ziffer 158

12) Hinweise z.B. bei www.wagingnonviolence.org

13) Erica Chenoweth and Maria J. Stephan „Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict“, Columbia University Press 2012; auch das amerikanische Militär forscht zu den Zusammenhängen: Will Irwin, How Civil Resistance Works (And Why it Matters to SOF), JSOU Report 19-4; Joint Special Operations University Press 2019

14) Siehe die Initiative „Sicherheit neu denken“, https://www.sicherheitneudenken.de/zivile-sicherheit-ist-wirksam. Längst vorher gab es aber Erfahrungen und Reflexionen zur Gewaltfreiheit auch im deutschsprachigen Raum.

15) Erica Chenoweth, Civil Resistance, What everyone needs to know, Oxford University Press, 2021, S. 227ff

16) Die baltischen Staaten verbinden in ihren Verteidigungsstrategien ausdrücklich beide Wege: den militärischen wie den des zivilen Widerstands. Siehe: Graþina Miniotaitë, Lithuanian Military Academy, Institute of Culture, Philosophy and Art: Civilian Resistance in the Security and Defense System of Lithuania: History and Prospects https://journals.lka.lt/journal/lasr/article/213/file/pdf; siehe auch: Civilian-Based Resistance in the Baltic States Historical Precedents and Current Capabilities by Anika Binnendijk, Marta Kepe, https://www.rand.org/pubs/research_reports/RRA198-3.html

17) Siehe Ines-Jacqueline Werkner, Wie kann der Krieg in der Ukraine enden? Sechs Szenarien. In: Werkner, Ines-Jacqueline, Krüger, Madlen und Mayer, Lotta (Hrsg): Wege aus dem Krieg in der Ukraine. Szenarien – Chancen – Risiken. FEST kompakt Band 5, 2022, Universitätsbibliothek Heidelberg, S. 11-27

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  Markus 2,1-12

Markus 2,1-12

Cornelia Götz, Dompredigerin - 23.10.2022

„Blinde sehen, Lahme gehen…“ - Sie haben es gehört. Eine tolle Geschichte - bestens geeignet, um bildhaft zu erzählen. Im Kindergottesdienst habe ich versucht, mir auszumalen, wie das eigentlich funktioniert hat. War es ein Haus mit Flachdach? Wie konnte man das so einfach mal abdecken? War es ein Haus mit vielen Geschossen - mussten sich die vier Krankenträger durch die Etagen arbeiten? Und überhaupt: wie sind die mit der Trage hochgekommen ohne dass es noch mehr Verletzungen gab…
Unser Katechet, der wunderbar erzählen konnte, nahm solche Fragen zum Anlass, ein paar Dinge klarzustellen. So entstand eine Ahnung von der Welt, in der Jesus lebte.
Heute steige ich gedanklich nicht mehr bei den Architekturfragen aus.
Heute bleibe ich in anderen Stellen hängen..
Fangen wir vorn an:
„Und nach etlichen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt … und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür…“
Es hat sich rumgesprochen - dieser junge Mann ist begabt, manche sagen, begnadet, kann reden und Krankheiten heilen - womöglich kommt mit ihm eine Zeitenwende?
Also machen sich die Vielen auf und es ist wie immer: das Rennen machen die, die flexibel und gesund sind, sich leisten können alles stehen und liegen zu lassen. Wer noch schnell ein Kind oder alte Eltern versorgen muss, wer keine guten Schuhe hat oder sich vor Menschenmengen fürchtet, wer zu weit draußen wohnt, weil er sich die Innenstadt nicht leisten kann, wer kein gutes Netzwerk hat und nichts erfährt, der hat - auch bei Jesus Christus - keine Chance.
„Survival of the fittest“ ausgerechnet hier?
Das widerspricht allem, was wir glauben wollen.
Dabei ist das die Normalität unserer Gesellschaften; Schwarmintelligenz eben oder Mode, Mehrheiten tun das, was alle machen. Zu Jesu Auftritten gehörten Menschenaufläufe dazu. Multiplikatoren waren trotzdem nicht alle. Denn „er sagte ihnen das Wort.“ aber worüber redete er? Warum hat uns das nicht erreicht? Haben die, die es in seine Nähe geschafft haben, überhaupt etwas verstanden? Verstehen wir?
Oder brauchte es erst Folgendes:
„Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.“
Der Mensch, an dem sich Jesu Herrlichkeit gleich erweisen wird, gehört nicht zu denen, die es zu ihm aus eigener Kraft schaffen. Er ist nur das eine: unfähig, sich zu bewegen. Es ist ein Mensch ohne eigene Geschichte und Stimme, reduziert auf sein Gebrechen.
„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an.“
Gott sieht und von weiß, was ihn ans Bett fesselt und lähmt.
Wir spekulieren nur. Oder suchen unseren Ort in dieser Geschichte.
Sind wir die, die schnell genug da waren oder die, die von Ferne versuchen, etwas mitzubekommen? Liegen wir selbst auf der Trage, unfähig einen Schritt zu tun?
Ich vermute, dass unsere jeweilige Lesart sehr viel mit unseren konkreten Lebensumständen zu tun hat. Wer niemals auf eigenen Füßen gehen konnte, wird das anders hören als jemand, der durch eigenes Tun oder Lassen in solch eine Situation geraten ist. Wer niemals Spielraum für eigene Schritte gesehen hat, wird das anders hören, als die, die sich verweigern.
Fakt ist, keiner fragt. Keiner spricht.
Aber es gibt ein paar, sehr wenige, Menschen, die handeln.
Sie bahnen sie sich einen Weg und hören nicht auf die Vielen, die wahrscheinlich in allen Tonlagen sagen, dass es keinen Sinn hat und man sowieso nicht durchkommt, nicht gehört wird, nichts machen kann – mithin, dass es alternativlos ist und sie mit dem Kranken umkehren sollen.
Hoffnungslosigkeit klingt oft ungemein realistisch.
Aber – mit Fulbert Steffensky – den „Luxus der Hoffnungslosigkeit“ dürfen wir uns nicht gönnen.
Diese vier(!), nicht der Gelähmte, wagen Vertrauen und setzen Hoffnung auf die Begegnung mit Jesus Christus, auf die heilsame Nähe Gottes. Darum wendet sich Jesus ihnen (!) zu und es wird erzählt:
„Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten…“
Ich habe diese Bewegung des Textes bisher immer überlesen. Der Helfer wegen wendet er sich dem Gelähmten zu und da fallen die ersten Worte:
„Deine Sünden sind dir vergeben.“
Stutzen. Da liegt ein Mensch. Das ist es, was er braucht?
Immer wieder verhaken wir uns am Zusammenhang von Krankheit und Sünde und stellen manchmal allzu schnell eine Kausalität her, als wäre Krankheit eine Strafe. (wobei das unglücklicherweise vor allem Kranken selber denken…). Auch in dieser Geschichte könnte man solchen Reflexen aufsitzen. Warum sonst sagt Jesus das? Sieht er die konkrete Not des Kranken nicht? Oder geht es nicht um Muskeln und Nerven, geht es vielmehr um Passivität und Hoffnungslosigkeit, Resignation, die sich der Gnade und Freude entzieht?
Wir wissen es nicht und sollten vorsichtig sein - wir können ja gehen.
Und hören, dass weiter erzählt wird: „Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?“
Manche Texte hat man so oft mit den Ohren gehört und doch so selten mit Herz und Sinn. Dass die Pharisäer Jesus kritisch beäugen, ist ein altes Muster. Erst heute sehe ich: Es passiert nichts! Kein Heilungswunder. Keine Reaktion. Der Lahme liegt. Was soll vergebene Sünde nützen, wenn ich in dieser Welt nicht vorwärts komme?
Kein Wunder, dass die Pharisäer Anmaßung vermuten. Sie haben ja recht:
Wir Menschen mögen uns damit abstrampeln, einander zu vergeben zu wollen und in einer versöhnten friedlichen Welt zu leben. Aber offenbar kommen wir damit keinen Schritt vorwärts. Ist es nicht weise Einsicht, dass Gott es ist, der vergeben kann, dass Gottes Gnade unter uns wirksam wird, wenn Vergebung geschieht?
Darauf (!) - auf diese ehrlichen Gedanken - reagiert Jesus :
„Was denkt ihr in euren Herzen? Ist es leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder: Steh auf und geh hin? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.“
Damit wir verstehen, was es bedeutet, dass Jesus Sünden vergeben kann, vollbringt er ein Heilungswunder - es ist „nur“ die Zugabe, „nur“ der Beweis.
Anders glauben wir ihm nicht. Anderes bestaunen wir nicht.
Jetzt erst reagieren die Vielen und loben Gott.
Bis auf den ehemals Gelähmten. Der steht auf und geht.
Kein Dank, kein Glaubensbekenntnis, keine Bitte, mit ihm gehen zu dürfen.
Er geht. Offenbar hat er jetzt auch Platz und kommt durch. Wird er am Laufen bleiben, weiter gehen, irgendetwas Gutes aus der neuen Freiheit machen? Wird der Neuanfang, der ihm geschenkt ist, sein Leben verändern - oder liegt er schon wieder fest?
Der Predigttext endet hier. Beim Happy End wird abgeblendt.
Und wir? Was bewegen wir in unseren Herzen? Stehen wir noch bei den Vielen? Gehen wir schon? Hoffentlich.

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  18. Sonntag nach Trinitatis

18. Sonntag nach Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 16.10.2022

Vor ein paar Tagen erzählte mir ein Lehrer, dass er aufgehört habe, auf Nachrichten von Eltern zu antworten, wenn sie ohne Anrede und Gruß daherkämen. Zu unverdaulich… Auch Paulus, der gewiss zu den berühmtesten Briefe / Nachrichtenschreibern überhaupt gehört, liegt an der Form: er grüßt mit dem alten Gruß, den wir - jedenfalls im Gottesdienst - noch heute verwenden „Gnade sei mit euch!“ und endet fast (!) genauso: „Gnade sei mit allen, die durch die Liebe verbunden sind.“
Die kleine Erweiterung am Schluss wird ihren Grund haben. Paulus scheint selbst zu wissen, dass seine Post Zumutungen enthält und will sich vergewissern, dass man trotz allem von Herzen verbunden ist. Es hagelt denn auch - jedenfalls im Epheserbrief, der heute dran ist - Ermahnungen, Hinweise und Imperative.
Es ist ein Brief, den man nicht kriegen will - weil wir gern selbst entscheiden, was wir wie machen und nicht rumkommandiert, angezählt oder bevormundet werden wollen.
Es ist ein Brief, den wir dringend kriegen müssen - gerade jetzt. Paulus schreibt: „Achtet also sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt.“
Ein Satz zum Stolpern. Will er Nabelschau provozieren? Soll die Wand der Blase, in der ich lebe, noch dicker werden, weil ich vor allem auf mich achte, darauf, was mir gut tut? So verstandene Achtsamkeit fürchte ich. Sie führt dazu, die anderen in der nächsten Blase gar nicht mehr zu verstehen…
Was meint er? Wie soll das gehen? Auf mich achten ohne mich zum Zentrum des Universums zu machen?
Vielleicht hilft Folgendes: in der Schweiz lernte ich bei der NGO „Public Eye“, dass deren Wurzeln in einer Begegnung des Schweizer Theologen und Dichters Kurt Marti mit Kollegen, die die Theologie der Befreiung in Lateinamerika entwickelt haben, lagen. Auf seine Frage, wie die Schweizer in Lateinamerika helfen könnten, lautete die Antwort: „Bringt die Schweiz in Ordnung. Schaut darauf, wie Ihr lebt.“
„Public Eye“ hat das gemacht. Allersorgfältigst. Und nach dem Hinsehen Schlüsse gezogen. Entstanden sind das „Fair Trade Siegel“ oder die Konzernverantwortungsinitiative, vor allem aber ein geschärftes Bewusstsein dafür, dass alles, was wir tun und lassen Konsequenzen hat. So ist es auch in unseren kleinen Kreisen. Das allermeiste, was wir für selbstverständlich halten oder glauben tun, verbrauchen und besitzen zu dürfen, ist es keineswegs. Und öfter als wir denken, irren wir, wenn wir glauben, etwas zu wissen.
Sorgfältiges Sichten des eigenen Lebens muss den Blick darum nicht zwingend verengen, sondern kann ihn auch weiten.
Nun war Paulus kein Bauer, den sorgte, dass unser Lebensstil die Schöpfung verschleißt. Er war auch keine Kinderärztin, die Depressionen und Diabetes bei viel zu vielen Kindern diagnostizieren muss. Er war ein Philosoph, ein ungeduldiger Lehrer - darum ergänzt er:
Und tut das bitte „nicht voller Dummheit, sondern voller Weisheit!“
Bei Public Eye geht diese Weisheit mit der barmherzigen Einlassung einher: versucht es besser zu machen, obwohl es nicht 100%ig zu schaffen ist. Und in Coventry, dem Herz der Nagelkreuzgemeinschaft, der es im Kern um Versöhnung geht, hieß es weise: Versöhnung ist kein Ziel, das man erreichen kann, nichts, mit dem man jemals fertig wird, nichts, das einfach wäre. Erst wenn wir verstanden haben, wie kompliziert eine Situation ist, können wir beginnen zu vereinfachen. Es braucht Zeit.
Paulus hingegen drängt: „Kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse.“ Die Basisbibel übersetzt etwas eingängiger: „Macht das Beste aus eurer Zeit, gerade weil es schlimme Tage sind.“
Und er meint sicher nicht, nochmal richtig die Sau raus zu lassen, weil morgen die Welt untergeht, sondern eher: gerade weil so viele Gewissheiten verlorengehen, gerade weil Krieg und Krisen uns Angst machen und immer mehr Menschen in existenzielle Not bringen, Leben und Heimat kosten, gerade darum sind auch die Antennen besonders sensibel dafür, was Not tut und Not wenden kann, gerade darum können wir genau jetzt die beste Version unserer selbst sein, wenn wir sorgfältig darauf achten, wie wir leben.
Noch einmal Coventry: Bis vorgestern bin ich mit einer kleinen Gruppe dort gewesen. Wahrscheinlich wüssten wir nichts von der Kathedrale in der Nähe von Birmingham, wenn die Menschen dort nach der Bombardierung 1944 einfach nur aufgeräumt und irgendwie weitergemacht hätten, verzweifelt, voller Zorn auf die, die ihnen das angetan haben, voller Zorn auf uns. Aber so kam es nicht. Das Beste, was man aus dieser Katastrophe hätte machen können, war, sich auf den Weg der Versöhnung zu machen - auch wenn der Krieg noch nicht vorbei war - und an das Danach zu glauben, mit dem Neuanfang zu beginnen.
„Vater vergib“ betete Richard Howard in der Ruine. Nicht: „Vater vergib“ nicht: „Vater vergib ihnen.“
Das war nicht nur das Beste, es war auch sehr ungewöhnlich und zum Staunen, dass ein Mensch das schafft. Mir fällt es schwer, in der Krise unserer Zeit, in den Unversöhnlichkeiten meines Lebens, eine so klare friedliche Antwort zu finden.
Der Briefschreiber scheint das zu ahnen und legt nach:
„Aus diesem Grund - eben weil es schlimme Zeiten sind - sollt ihr nicht unverständig sein, sondern verstehen, was der Wille des Herrn ist! Betrinkt euch nicht mit Wein, denn das führt zu einem unordentlichen Leben.“
Gerade dann, wenn Gott es nicht gut zu meinen scheint, gerade dann, wenn wir unter den Zumutungen des Lebens ächzen und seine heilsame Gegenwart vermissen, gerade dann sollen wir verständig sein und uns zusammenreißen?
Wie soll das gehen, wenn ermutigende tröstende Worte fehlen, die helfen würden?
Sie fehlen bislang auch in diesem Brief.
Wir verstehen vielleicht gerade noch, was passiert. Aber wir verstehen kein Warum. Wir können Gottes Willen nicht erkennen. Aber ohne Verstehen wird es leer - in unseren Herzen und unserer Seele. Solche Leere ist schwer auszuhalten. Falsche Möglichkeiten, sie zu füllen, gibt es viele.
Sie alle stehen uns im Wege, in schlimmen Zeiten, das Beste zu finden.
Dass es etwas aufzufüllen gibt, spürt Paulus.
Dass es oft nicht weiterhilft, zu hören, wie es nicht geht, weiß er auch.
Und erst recht, dass Menschen sich festfressen in den Grübeleien grauer Stunden. Darum wendet er auf einmal den Gedankengang - wie soll ich sagen: pragmatisch? Oder ist das die große Vereinfachung nachdem es so kompliziert und anstrengend war? Kommentatoren schreiben: nach all den Imperativen und all der vergeblichen Grübelei kommen nun „die Einsetzungsworte für die Kirchenmusik.“
Sie klingen so:
„Lasst euch lieber vom Geist Gottes erfüllen. Tragt euch gegenseitig Psalmen; Hymnen und geistliche Lieder vor. Singt für den Herrn und preist ihn aus vollem Herzen Dankt Gott, dem Vater, zu jeder Zeit und für alles – im Namen unseres Herrn Jesus Christus.
Und dann - erfüllt von Musik, mag es besser werden unter uns.
Und dann - gemeinsam hörend und singend, erahnen wir vielleicht, was Gott will.
Dann werden wir verständig unser Bestes aus dem machen, was ist.
Dann möge Gnade mit uns sein, die wir durch die Liebe verbunden sind.


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  5. Sonntag n. TR.

5. Sonntag n. TR.

Cornelia Götz, Dompredigerin - 18.07.2022

„Abraham, ich will dich segnen und du sollst ein Segen, ich will segnen, die dich segnen und und verfluchen, die dich verfluchen…“
Mit diesem Mann beginnt eine Geschichte, in der viel gehorcht und geschwiegen wird, in der Gott eine rote Linie zieht, weh dem, der diesen Menschen flucht - manch einer zieht sich da der Magen zusammen angesichts der deutschen Geschichte.
Ich will meine Worte hier nicht zu groß werden lassen und bleibe deshalb bei dem, was der Mensch Abraham offenbar hört und tut, dass er nicht zurückblickt, sondern losgeht - nicht um zu verdrängen oder zu entschuldigen, sondern weil hier einer, der für den Anfang steht und bildlich, vorbildlich sogar, auf Gottes Wegen geht, Zumutungen erfährt und Prüfungen, die ahnen lassen, was es bedeutet Teil der Geschichte Gottes mit den Menschen zu sein.
Marc Chagall hat diese Ahnung auf Papier gebannt und in unbehaglichen Farben einen alten jüdischen Mann mit zerfurchtem Gesicht gemalt, der seine Hände unruhig knetend nur mit einem Auge noch hinsieht, was ist und kommen mag.
Zu diesem Mann sagte Gott: „Geh weg aus deinem Heimatland, und weg von deiner Familie, weg aus deinem Haus - ich werde dir noch zeigen wohin.“
Als Abraham das hört, ist er kein Jugendlicher mehr, der raus muss, weil er seine Füße endlich unter einen anderen Tisch stellen will, der raus muss, weil die eine Liebe, die die ganz große hätte werden sollen, kaputtgegangen ist …
Als Abraham das hört, ist er längst ein gestandener Mann, 75 Jahre alt, der den Widrigkeiten des Lebens getrotzt hatte, einer der von den Früchten seiner Arbeit hätte zehren können.
Und weil es Immer spannend ist, bei den Brüdern Grimm nachzuschlagen, welche Wortfelder zueinander gehören, habe ich noch mal nachgesehen, wie es sich mit den „gestandenen“ Männern verhält:
• „gestanden“ kommt vom „gestehen“: so einer weiß wovon er spricht und wann er schweigt, und ist daher ein guter Zeuge, und auch Bürge für die, die es nicht wissen
• „gestanden“ wurde auch gesagt für „geronnen“: „ .. es begibt sich mancherlei gestanden Blut im Leib, vom Stoßen, Fallen oder Schlagen“ - ein Gestandener hat also blaue Flecken und Narben, vermutlich nicht nur am Leib, sondern auch an der Seele.
Solche Art des Gestandenseins erzählt vom wirklichen Leben, das uns nicht schont.
Was Abraham betrifft, können wir also ganz getrost davon ausgehen, dass er ein gestandener Mann in der ganzen komplexen Bedeutung des Wortes war.
Und das gilt auch für Sara, seine Frau. Die hatte an seiner Seite ausgehalten. Die hatte ertragen, kein Kind zu bekommen, die Vertrocknete, Verstockte, Unfruchtbare zu sein, die, an der es scheitert, dass Abrahams Lebenswerk sich fortsetzen kann.
Gottes Aufforderung, alles aufzugeben und hinter sich zu lassen und sich der Ungewissheit einer offenen Zukunft auszusetzen trifft in Abraham also einen, der sich das nicht rosig ausmalen wird, erst recht nicht, weil er all das schon kennt:
Sein Vater Terach war mit ihm und seinem Bruder Nahor aus Ur in Chaldäa fortgegangen. Ihn hatte die Not weggetrieben. Abraham war damit großgeworden, der Andere zu sein, der Fremde - es hatte ungeheuerlicher Anstrengung und Willenskraft bedurft, anzukommen und sich zu Hause zu fühlen, die Sprache zu sprechen, Mentalität zu verstehen, Witz und Humor, Traumata mitzutragen.
Sich in der Fremde (oder soll ich sagen: in der harten Wirklichkeit) einzuleben, ist ein Lebensaufgabe und Abraham hatte sie hinter sich. Trotzdem sagt Gott:
„Geh weg aus deinem Heimatland, und weg von deiner Familie, weg aus einem Haus - ich werde dir zeigen wohin.“
Geh weg auch und obwohl, es jetzt alles ganz gut funktioniert und Du zu Geld, Ansehen und Wohlstand gekommen ist. Geh weg und ja: „never change a running system“ gilt nicht für dich, im Gegenteil. Geh weg aus dem Land, in dem du Wurzeln geschlagen hast und lass es hinter Dir. Geh weg von deiner Familie, schließ dein Haus ab, du wirst dort nicht mehr wohnen.
Lass hinter dir, wie deine Gesellschaft tickt - ihre Art Geld zu verdienen und arbeiten zu lassen, Lasten zu teilen oder Ungerechtigkeit zu rechtfertigen, ihre Machtsysteme und Verantwortungslosigkeit, ihre Schuld und Erfolge, ihre Leistungsbereitschaft, ihr schlafendes Gewissen - lass es hinter Dir samt den Menschen, die dich immer wieder davon überzeugen wollen, dass wir wachsen müssen und uns doch zusteht, was wir nehmen können, dass die anderen nur übertreiben und am schlimmsten: dass es leider nicht anders geht.
Geh weg aus deinem Haus, es bindet dich nur und zwingt dich im falschen Leben zu bleiben.
Geh weg von deiner Familie, raus aus der Rolle, die dich getragen hat, der bedingungslosen Zugehörigkeit.
Was für eine Zumutung.
Abraham hört das, weil er mit Gott rechnet und weil er tief drinnen schon weiß (und mit dem geschlossenen Auge sieht), was auch uns unruhig macht: So wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen, wird und darf es nicht bleiben. Der Blick zurück verführt uns nur, von einer guten Zeit zu träumen, die es nie gegeben hat, ein altes „Normal“ zu beschwören, dass keineswegs normal war, Ansprüche abzuleiten, nostalgisch oder bitter zu werden.
Erst der Blick nach vorn geht ins Weite, wer aufbricht, der kann hoffen, weil alles möglich ist, Verheißung sich erst noch erfüllen wird.
Aber wie soll es werden?
Wie werden wir leben in der Zukunft, die nichts mehr von dem hat, was uns vertraut war?
Welche Welt werden die Kinder, die noch nicht geboren sind, vorfinden?
Das Ziel bleibt unbestimmt. Gott kennt es. Aber er benennt es nicht. Es gibt keinen Anhaltspunkt, nichts was helfen könnte, abzuwägen oder sich genauer vorzustellen, was kommen mag: es wird blindes Vertrauen nötig sein.
Abraham muss sich selbst ganz aus der Hand geben.
Und er kann das in keines Menschen Hand legen.
Das ist auch gut so, wer wollte das tragen?
Welcher Mensch könnte Zukunft garantieren?
Es braucht unglaublichen Mut zu solchem Aufbruch, wie Abraham ihn wagt, denn er kann ihn mit nichts erklären außer Gottes Worten und die zählen - so irrsinnig das ist - in der Welt allermeist nicht.
Das ist schlimm, denn er wird alles hergeben müssen und die, die mit ihm gehen auch. In einem Buch über Abraham wird ihm in den Mund gelegt: „Weil wir Menschen sind, brauchen wir Begründungen und das ist es, was ich nicht geben kann. Wie sollte ich…“
Mit Argumenten werden wir niemanden überzeugen, dass es so nicht weitergeht. Das kann man schon wissen. Es hilft nur, Gottes Wort ernst zu nehmen und loszugehen - voller Hoffnung auf seinen Segen und voller Angst vor seinem Fluch.
Wie das gehen kann, weiß ich nicht. Wir werden Vertrauen wagen müssen - und zwar nicht auf Aktienkurse und Sicherheitskonzepte. Sondern auf Gott, von dem nicht nur über dieser Woche gilt:
dass wir gerettet werden, ist ein Geschenk.
Aus Gnade.

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  Trinitatis

Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 12.06.2022

Die Gnade und die Gemeinschaft und die Liebe sei mit Euch allen.“
Ja bitte! Das möchten wir. Gnade, Gemeinschaft, Liebe. Also:
Gelingendes Leben.
Gutes Leben.
Glückliches Leben.
Ja bitte. Nichts sonst jagen wir dermaßen hinterher.
Wir glauben und hoffen mit ganzer Kraft, dass das Glück doch endlich mal kommen muss und dass endlich alles gut wird, erst recht weil wir uns angestrengt, Erwartungen runtergeschraubt und Erfahrungen durchgebürstet haben.
Und wir versuchen, realistisch zu sein, denn wir wissen:
Menschen starten unter sehr verschiedenen Bedingungen ins Leben, sind nicht gleichermaßen begabt zum Glücklichsein und finden sich keineswegs alle zur rechten Zeit am rechten Ort vor. Es ist eben nicht sicher, dass ich den Menschen oder den Job finde, mit dem ich glücklich werden kann. Ich kann nur darauf setzen, mich anständig zu benehmen und dem Glück nicht im Weg zu stehen, mich zu bescheiden.
Es ist, wie es ist.
Radikale Akzeptanz nennen das die Psychologen.
Wir sollten uns damit abfinden. Aber auch das ist schwer. Erst recht in einer Erfolgs- und Leistungsgesellschaft wie der unseren. Da habe ich mich gefälligst als meines Glückes Schmied zu beweisen. Wenn ich nicht glücklich werde, wenn es nicht gut wird und nicht gelingt - bin ich wahrscheinlich selber schuld.
Dann eben keine Hoffnung auf ein - ich sage vorsichtig - erfülltes Leben?
Das kriegen wir nicht hin.
Die Sehnsucht nach Glück, nach Segen und Fülle lässt sich nicht vertreiben.
Wie kann es also gehen, das gute Leben - voller Gnade, Gemeinschaft und Liebe?
Es ist uns ja verheißen und es war ja auch schon kurz mal alles gut, eine Generation lang. Adam und Eva haben das glückliche sorgenlose Leben verspielt, weil es immer nicht reichte, weil sie kein genug kannten und keine Zufriedenheit, weil sie nicht alles haben konnten. Die Prototypen eben.
Seither schlagen wir uns mit widrigen Umständen rum und versuchen darin klug und glücklich zu werden - mit sehr unterschiedlichem Erfolg.
Einer, der es in all dem relativ weit gebracht hat, ist Nikodemus, wir haben vorhin von ihm gehört.
Er ahnt, dass unseren menschlichen Möglichkeiten Grenzen gesetzt sind und auch, dass das nichts ist, was andere hören wollen und macht sich daher im Schutz der Nacht auf den Weg der Sinnsuche, von der er weiß, dass es die Gottsuche ist.
Er will wissen, wie sein Leben neu werden kann, endlich gelingt.
Dieser Weg führt ihn ganz unmittelbar in die Nähe Gottes und wirft ihn zugleich auf sich selbst zurück. Er hört: das gelingende, glückliche, gottesfürchtige - das gesegnete, ewige Leben: aus Fleisch und Blut kann es nicht werden, wir Geborenen, endlichen und unvollkommenen Geschöpfe kommen da aus uns heraus nicht hin.
Es sei denn: wir werden ganz Andere - aus dem Geist Geborene.
Nicht wundern! Hört er. Und dann: „Der Wind weht wo er will und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht woher kommt und wohin er fährt…“
Mit anderen Worten, du spürst was Richtiges - aber da kannst Du kleiner Mensch nichts richten, es ist Gottes unerforschlicher Ratschluss.
Kein Wort mehr von Nikodemus.
Hat ihm das eingeleuchtet, getröstet, glücklich gemacht? Hat er am Ende seines Lebens gedacht, dass es gelungen ist, gut war, glücklich sogar?
Irgendwem muss er ja davon erzählt haben - sonst hätte es keiner aufgeschrieben.
Ich stelle mir vor, dass auch Paulus von diesem nächtlichen Gespräch gelesen hat.
Auch er kannte die Sehnsucht nach dem gelingenden Leben.
Er hatte den radikalen Versuch, alles richtig und gut zu machen, schon hinter sich. Jedes Gesetz, jede Regel, die Gott den Menschen mitgegeben hatte, um ihr Miteinander zu fördern und der Herzenshärtigkeit zu wehren, hatte er allersorgfältigst erfüllt - aber es ist nicht aufgegangen, wie er gedacht hat.
Doch der Wind wehte und er hörte das Sausen. Paulus wurde umgerissen und ein ganz und gar neuer und anderer.
Aber ist das nun das gute Leben? Paulus hat es ins Gefängnis gebracht…
Es gibt offenbar kein verlässliches wenn - dann im Glückshaushalt der Welt.
So schreibt er an die Römer:
„Oh welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis. Wie unbegreiflich sind Gottes Gerichte, wie unerforschlich seine Wege! In ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge!“
In der Tat. Unbegreiflich und unerforschlich ist es.
Regelrecht bestürzend. Wenn nicht niederschmetternd.
Aber so klingt Paulus nicht. Im Gegenteil. Es klingt wie ein großer Lobgesang. Wie das ganz große Staunen:
Bei Hiob heißt es: „merke auf, steht still, betrachte die Wunderwerke Gottes“. Ausgerechnet bei diesem sprichwörtlichen Unglücksraben. Die Mystiker machten daraus: vergiss dich selbst. Je mehr du staunst und dich wohl auch über Gott wunderst, umso leichter wird es, einfach nur hier zu sein, sich einzufinden in das Jetzt und zu leben. Glück, Gnade und Gelingen kennen kein Warum, nur das Staunen.
Angelus Silesius beschrieb solches im 17. Jahrhundert so: „Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet, Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet…“
Loslassen also, sich selbst und die Idee, wie es sein könnte, die Erwartungen und Ansprüche an das Glück und das Gelingen, an MEIN Leben.
Den Gegenentwurf zu Adam und Eva probieren.
Wo führt das hin?
In das Dunkel der Nacht, sagen die Mystiker. Raus aus dem Paradies. Denn je größer das Staunen umso tiefer die Dunkelheit der Seele, das Gefühl, das alles nicht ist und wir unendlich weit entfernt von Gott, von seiner Liebe, von seiner Gnade und seinem Segen sind. Ja, so ist es - sagen die Mystiker und nun geh noch einen Schritt weiter und dann verstehst du: Gott ist das Nichts, genau dieses Nichts. Er ist das Nichts, das alles werden will, denn „in ihm und durch ihn sind alle Dinge.“
Solche Gottsuche, solche Glückssuche macht frei. Die Ich-AG muss nicht gelingen.
Vielleicht führt das in ein widerständiges Leben. Selbstvergessen im besten Sinne. Vielleicht führt das in die Unabhängigkeit von den Glückversprechen dieser Welt und ihren wahnsinnigen Preisen.
Vielleicht wird es auch wie bei Claude Monet, der einem Fotografen am Ende seines Lebens sagte, er möge nicht ihn porträtieren, sondern die Blumen. Die seien ihm ähnlicher.
Ohne Warum.
Denn „Die Gnade und die Gemeinschaft und die Liebe sei mit Euch allen.“

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  Pfingsten

Pfingsten

Cornelia Götz, Dompredigerin - 07.06.2022

Pfingsten - „ng, ng, ng - das könnte einen g haben“ hat der Komiker Emil unnachahmlich festgestellt. Er brauchte da irgendeinen kirchlichen Feiertag im Kreuzworträtsel und Ostern passte nicht. Aber Pfingsten - das merkwürdige Hochfest, von dem viele wahrscheinlich wirklich nicht mehr zu sagen wüssten als dass es ein „g“ hat.
Die eine oder andere hat noch den durchaus abstrakten „Geburtstag der Kirche“ auf dem Plan. Und Experten wissen, es ist das Fest des Heiligen Geistes.
Wissen? Jedenfalls gibt es ein rotes Parament, denn es ist kein Christusfest, wie Weihnachten oder Ostern. Eher ein Tag der Menschen, die versuchen auf Gottes Wegen zu gehen - rot wie zur Konfirmation oder Einführung der Kirchenvorsteherinnen.
Rot wie Feuer, wie Liebe, wie Blut, wie Eifersucht.
Rot ist eine Signalfarbe.
Wenn Rot kommt, dann ist Aufmerksamkeit geboten.
Der Theologe Wilhelm Gräb schreibt vielleicht deshalb: Pfingsten sei das Fest der „Geistesgegenwart.“
Und wenn das eine brauchbare Definition ist, dann ist Pfingsten ein absolut dringendes Fest.
Geistesgegenwart. Klarheit. Urteilsfähigkeit. Reaktion auf den Punkt.
Das brauchen wir - nicht im Sinne der Bevormundung, die mit roten Warnfarbe ja auch manchmal einhergeht, sondern als mündige Fähigkeit die Geister zu scheiden.
Geistesgegenwart.
Das gibt es heute als Gottesgegenwart.
Pfingsten ist das Fest, an dem wir solche Begabung feiern - keinen Zieleinlauf.
Pfingsten ist wie Feuer und geistesgegenwärtige Liebe eine Herausforderung.
Wer sich dem dem aussetzt, kann sich verbrennen, verletzten, irren.
Die Geister scheiden zu wollen braucht Mut und kann uns die Ruhe kosten, den ungerechten Reichtum auch..
Achtung! Rot!
Und dann? dann heißt es - wie in dem Lied, das wir gleich mit der Jugendkantorei singen werden - ja: es hat nicht ganz die Melodie für ein Ohrwurm - aber einen ordentlichen Text:
„Prüft, prüft, prüft genau und wählt das Gute, nehmt euch in acht vor den Schrecken dieser Zeit- Prüft, prüft, prüft genau und wählt das Gute, sucht mit Geduld nach der Spur der Freundlichkeit.
Prüft genau - voller Geistesgegenwart!
Prüft genau und wählt das Gute!
Natürlich, was sonst? Das Gemeine, Hinterhältige, Schlechte etwa?
So leicht ist es nicht. Die Geister sind klug und wir lassen uns gern verführen, einlullen, bestätigen, beruhigen.
Prüft genau!
Das sind alte Worte, sie stehen schon im Thessalonicherbrief: prüft genau und das Gute behaltet.
Achtung! Rot!
Wenn es ernst wird, merken wir, wie schwer das ist.
Wenn eine Beziehung mühsam wird - ist es dann der Moment zu gehen oder zu bleiben? Ist das Gute die Kraft der Beharrlichkeit oder der Mut zur Freiheit?
Wenn ein Mensch mit Krankheit oder Sterben ringt, ist es gut ihn festzuhalten oder gehenzulassen? Ist das Gute die Hoffnung oder die Demut?
Wenn junge Menschen alles stehen und liegen lassen wollen, dem Moment folgen, sollte man sie bremsen? Ist das Gute die Begeisterung oder die Erfahrung?
Und erst recht: wenn unsere Nachbarn mit Krieg überzogen werden, ist es dann gut an der Idee der Gewaltlosigkeit festzuhalten oder macht man sich schuldig an denen, die sich verteidigen wollen? Ist es gut, sich zu erinnern, dass Aufrüstung auch ohne Krieg tötet oder wiegt die Verantwortung schwerer, weil andere sich auf uns verlassen?
Wenn die Uiguren verfolgt werden, ist es dann gut … Nein. ist es nicht.
Prüft genau und das Gute behaltet.
Prüft genau… und dann handelt. Das Gute zu behalten, heißt nicht Besitzstandswahrung feiern sondern aktiv aussortieren.
Prüft genau und nehmt euch in acht vor den Schrecken dieser Zeit.
Sich in acht zu nehmen haben wir ja in den letzten zwei Jahren gelernt.
Man hält Abstand, schützt sich selbst und damit andere, vermeidet Nähe. Das hat uns geholfen, mit dem Virus recht und schlecht auszukommen. Vor heftigen Konflikten, wie wir sie hier am Dom durchgestanden haben und erst recht einem Krieg schützt Abstand nicht. Die Kinder in der ukrainischen Gruppe der Domsingschule haben nicht ahnen können, dass sie sich in acht nehmen müssen vor Bomben und Soldaten.
Was hätte sie darauf vorbereiten können?
Eine Spur der Freundlichkeit? Ich weiß nicht ob das genügt. Es braucht mehr.
Es braucht Antworten, Verständigung, Einsicht, Entscheidung.
Ist das Pfingsten?
Was passiert da nochmal?
Wir haben es in der Apostelgeschichte vorhin gehört:
Die Menschen sind zusammen - an einem Ort. Das ist - jedenfalls in meiner Bibel - fettgedruckt. Nicht verstreut, nicht jede und jeder auf der eigenen Spur, nicht jede und jeder dem eigenen Freiheits- und Glücksbegriff hinterherjagend und im eigenen Film oder vergraben in der eigenen Angst - sondern alle an einem Ort.
Auch damals war das offenbar nicht selbstverständlich.
Was für ein Ort war es? Der Berg der Fragen? Der Sumpf des Wohlstandes? Der weite Raum der Unsicherheit. Oder doch nur der Trampelpfad der Suchenden?
An diesem einen Ort erleben sie alle dasselbe. Sie werden es nicht beglaubigen müssen, sich nicht rechtfertigen müssen, denn es sind ja alle da, alle haben es erlebt: das Feuer der Verständigung.
Es muss unglaublich gewesen sein!
Den Anflug davon kennen wir auch: Wenn man sich heißredet, weil man auf einmal versteht und verstanden wird. Das gibt es! Aber wie geschieht es? Und wie ergreift es uns alle?
Es ist dringend nötig, so eine Erfahrung machen - jetzt in den Schrecken dieser Zeit!
Damals kommt das Feuer der Verständigung, der Geist, der lebendig macht, mit Sturm und Brausen. Es kommt wie etwas, vor dem man sich eigentlich in acht nehmen sollte.
Es kommt unvermutet und mit Wucht.
Er trifft alle.
Fast.
Auch hier gibt es Zuschauer. Auch hier gibt es die, die draußen bleiben.
Auch hier gibt es die, die eine andere Sicht haben.
Auch hier gibt es die, die nicht prüfen, ob das was sie gleich sagen und tun werden, gut ist.
Auch hier gibt es die Anderen.
Kein Wunder. Von außen macht das alles ja auch ganz den Eindruck als würden die, die da durcheinander reden und sich trotzdem alle verstehen nicht ganz zurechnungsfähig sein, realitätsfern, betrunken, naiv...
Ist solches Verstehen also eine exklusive Angelegenheit?
Ist das nur was für Verrückte und Kinder?
Nein. Es ist eine Gabe und vielleicht eine Antwort. Es eröffnet eine Möglichkeit, denn der Geist, der uns reagieren lässt, der ist einer der lebendig macht, der
Augen öffnet - für eine Sehen ohne Neid,
und Lippen - für ein Sprechen ohne Streit,
Und alle Sinne, um in dieser Welt leben.
Pfingsten?
Könnte einen „g“ haben. Wie das „Gute“, das wir erkannt haben und behalten wollen.

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  Karfreitag

Karfreitag

Dr. Christoph Meyns, Landesbischof - 15.04.2022

„Es wurden aber auch andere hingeführt, zwei Übeltäter, dass sie mit ihm hingerichtet würden. Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.“

Der Evangelist Lukas beschreibt eine Szene, wie sie damals an der Tagesordnung war. Ein Wachkommando führt verurteilte Straftäter an den Platz ihrer Hinrichtung. Verwandte, Bekannte und Schaulustige begleiten sie. Der Zug wandert durch das nördliche Stadttor hinaus zum Steinbruch. In seiner Mitte haben die Steinhauer eine Erhebung stehengelassen. Das Gestein ist nicht geeignet als Baumaterial. Aber als Ort für die fast täglichen Hinrichtungen taugt er. Golgatha nennt der Volksmund diesen Felsen, Schädelstätte. Hier wird Jesus gekreuzigt, wie viele Männer vor ihm und nach ihm in Jerusalem in der Zeit der Römischen Herrschaft: Räuber, Mörder, entlaufende Sklaven, Aufrührer, Attentäter.
Aber bedarf es in diesen Tagen nach all den erschütternden Bildern aus der Ukraine wirklich noch der Erinnerung daran, zu welcher Grausamkeit Menschen fähig sind? An die rohe Gewalt, mit der Staaten ihre Machtansprüche durchsetzen? An Propaganda, Verspottung, Folter und den Tod als Machtmittel? An Heimtücke, Verrat und das Leiden eines Unschuldigen?
Wollte die Bibel nur von dem erzählen, was vor Augen liegt, wir könnten uns die Erinnerung an den Tod Jesu am Kreuz sparen. Aber es geht um etwas anderes. Es geht darum, was verborgen inmitten von all dem geschah; was sich darin – nur für den Glauben sichtbar – vollzieht im Blick auf mein Verhältnis als Mensch zu Gott, für das, wie ich Gott verstehen darf, für das, was meinem Leben Halt und Richtung gibt. In diesem Sinne bildet der Karfreitag eine epochale Zeitenwende in der Geschichte menschlicher Zivilisation, einen fundamentalen Neuanfang.

„Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da antwortete der andere, wies ihn zurecht und sprach: Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

Das Gesamtbild steht, jetzt richtet Lukas unseren Blick auf die drei Gekreuzigten. Eine intime Szene: Die Todgeweihten unter sich. Der eine stimmt ein in den Ruf der Spötter, die nur das hier und jetzt im Blick haben, gefangen im Vordergründigen, mit den Scheuklappen der Bornierten. Aber der andere sieht mehr. Er sieht in Jesus einen, der Gott nahe ist. Er sieht in ihm den Himmel durchscheinen. Er sieht seine eigene Verlorenheit, aber er sieht in Jesus auch einen Fürsprecher für sich, einen, der trotz seiner Untaten für ihn vor Gott eintritt. Damit hat ausgerechnet er mehr von dem verstanden, wer Jesus ist und für was er steht, als alle anderen.
Es ist Jesus eben nicht um politische Herrschaft gegangen. Sein Reich ist das der Liebe Gottes. Es kommt aus der Zukunft auf uns zu und ist schon jetzt in der Gegenwart so nahe, dass es in Ansätzen bereits immer wieder durchbricht, so wie einzelne Sonnenstrahlen durch den Nebel. Von der Kraft, die in dieser Liebe liegt, hat er in seinen Gleichnissen und Geschichten gepredigt. Sie gleicht der Kraft, die in einem Samenkorn liegt, dem Vorgang von Saat und Ernte, dem Glück eines gefundenen Schatzes. Sie gleicht der Barmherzigkeit eines Vaters, der seinen in die Irre gegangenen Sohn wieder bei sich aufnimmt oder der unverdienten Tilgung eines großen Schuldenberges.
Unser Leben geht nicht auf im Horizont dessen, was unsere Sinne wahrnehmen. Am Ende wartet das Paradies. Und wer glaubt, der geht mit. „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“, so bittet der Mörder. Und das ist auch für uns alles, was nötig ist: nichts beschönigen, nichts abstreiten, sich nicht rechtfertigen wollen, nichts aus sich machen wollen, sondern sich Jesus Christus anvertrauen und ihn bitten, vor Gott für mich einzutreten.

„Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.“

Der Tod Jesu am Kreuz ist einer der dunkelsten Stunden der Menschheit. Zugleich geht mit ihm ihm ein Riss durch die Geschichte. Der Vorhang im Tempel verbarg das Allerheiligste vor den Augen der Menschen: die Lade mit den Tafeln der Zehn Gebote, den Ort, an dem Gott nach jüdischer Vorstellung in besonderer Weise gegenwärtig war. Nur der Hohepriester durfte einmal im Jahr am Jom-Kippur hinter den Vorhang treten, um mit einem Opfer das Volk mit Gott zu versöhnen. Eben dieser Vorhang zerreißt. Denn mit dem Tod Jesu hat sich Gott ein für alle mal mit uns versöhnt. Es braucht keinen Tempel mehr, kein Allerheiligstes, kein Versöhnungsritual, keine Opfer. Das Allerheiligste liegt klar vor Augen: Es ist der Gekreuzigte. Gott begegnet uns hier nicht räumlich abgetrennt und verhüllt. Er zeigt sich offen vor aller Augen und ist doch zugleich im Gegenteil tief verborgen. Das Paradies inmitten des Todes, ein Neuanfang inmitten von Abbruch, Liebe inmitten von Hass, Vergebung inmitten schwerster Schuld, die Versöhnung aller Menschen mit Gott inmitten der Hinrichtung eines einzelnen Menschen.
Das ist die neue Grundsituation des Menschen vor Gott, die am Karfreitag beginnt. Wir sind versöhnt. Wir haben Frieden mit Gott. Und es bedarf nicht mehr, als dass wir fest darauf vertrauen, dass das so ist, und daraus leben. Wie es Martin Luther in der Vorrede seiner ersten Übersetzung des Neuen Testaments vor 500 Jahren geschrieben hat: „Das Evangelium fordert nur Glauben an Christus, dass derselbe für uns Sünde, Tod und Hölle überwunden hat und also nicht durch unsere Werke, sondern durch seine eigenen Werke, Sterben und Leiden, fromm, lebendig und selig macht, auf dass wir uns seines Sterbens und Überwindens annehmen möchten, als hätten wirs selber getan.“
Das Kreuz lehrt uns Menschen, uns als Wesen zu begreifen, die der Vergebung bedürfen, der Erlösung und der Versöhnung mit Gott. Wie es Paulus an einer berühmten Stelle im Römerbrief formuliert: „Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerechtaus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ (Röm 3,23.24) Damit widerspricht der Karfreitag unserer Selbsteinschätzung. Wir halten uns ja in der Regel für normale, einigermaßen gesetzestreue und moralisch anständige Menschen, vielleicht mit kleinen Fehlern und der einen oder anderen Charakterschwäche, aber alles in allem grundsätzlich in Ordnung. Nicht wir, andere Menschen sind das Problem: Egoisten, Verbrecher, Gewalttäter, Kriegstreiber. Aktuell ist es der russische Präsident, auf den alles Böse projiziert wird.
Aber so einfach ist es nicht. Wir Menschen haben alle ein Talent für Zerstörung und Selbstzerstörung, und dazu ein kurzes Gedächtnis. Es ist erst drei Generationen her, dass dieses Talent von Deutschland Besitz ergriff und ganz Europa auf einen Weg zwang, der in der totalen Zerstörung, im moralischen Bankrott und in der Barbarei endete. Wir beten nicht umsonst mit jedem Vaterunser „und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Die Dynamik von Neid, Angst, Hass, Dummheit und Hybris kann jeden von uns ergreifen und das Leben auf unheilvolle Wege bestimmen. Das Kreuz Jesu weist hin auf diesen unheilvollen Drang in uns selbst und lässt uns zurückhaltend sein mit Urteilen über andere.
Nein, Russland hat nicht unseren Hass verdient, sondern unser Mitleid. Das Land ist zutiefst gefangen in einer sich selbst verstärkenden Spirale der Gewalt nach innen und nach außen, getrieben von rückwärtsgewandten Sehnsüchten nach politischer Größe. Unser Staat ist gefordert, dem energisch entgegenzutreten, zusammen mit anderen. Das ist seine Aufgabe. Unsere Aufgabe als Christinnen und Christen ist es, von Golgatha aus tiefer zu schauen, die Angst und das Elend zu erkennen, das dahinter liegt und Gott um Frieden und um Erlösung zu bitten. Es wird eine Zeit kommen, in der die Kraft zu Vergebung, Versöhnung und zum Neuanfang wichtig werden wird sowohl für Russland, für die Ukraine als auch für uns, und dass es Menschen gibt, die sich dafür einsetzen.

„Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen! Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.“

Das Kreuz stellt alle menschlichen Maßstäbe auf den Kopf. Damit verschiebt sich zugleich, wer Jesus nahe ist und wer ihm fern steht. Während seines Lebens waren seine Jüngerinnen und Jünger Jesus am nächsten. Jetzt aber stehen sie nur von ferne und begreifen erst viel später, was dort geschehen ist. Ausgerechnet der römische Hauptmann der Wache, der Jesus aus dem Gefängnis nach Golgatha geführt hat, spricht dagegen ein Glaubensbekenntnis. Und das Volk, eben noch voller Spott, schlägt sich in Reue an die Brust. Alle Feindschaft ist verschwunden, Friede breitet sich aus. Der Tod Jesu hat die Verhältnisse grundlegend verändert. Und das wirkt sich aus auf die Menschen, die ihm nahekommen, weit hinaus über den engen Kreis seiner Anhänger.
Um dieser sich über die ganze Welt ausbreitenden, versöhnenden und friedensstiftenden Wirkung willen erinnern wir uns heute an die Hinrichtung Jesu. Deshalb wurde das Kreuz zum zentralen Symbol der Christenheit. Für seine Jüngerinnen und Jünger dagegen war der Karfreitag zunächst nur ein Tag des Scheiterns, der Trauer, des Abschieds und das Ende aller Hoffnungen. Erst nachdem ihnen Jesus als Auferstandener erschien, begannen sie zu begreifen, was das alles zu bedeuten hat und sahen seinen Tod in einem neuen Licht, als Zeichen der Versöhnung mit Gott. Sie haben anderen Menschen davon erzählt. Und als sie alt wurden, haben Menschen wie Lukas ihre Geschichten aufgeschrieben, um ihre Erinnerung zu bewahren. Seitdem erinnert sich jede Generation auf ihre Weise an den Tod Jesu am Kreuz und arbeitet für sich durch, was es bedeutet, ein mit Gott versöhnter Sünder zu sein.
Für mich ist in diesem Jahr zwischen Corona, Krieg und Inflation wichtig, dass wir inmitten aller Bestürzung und aller Lasten um so fester an der Hoffnung auf die versöhnende und friedensstiftende Wirkung festhalten, die vom Kreuz Jesu ausgeht, dass wir den Opfern von Krieg und Gewalt beistehen, Flüchtlingen helfen und uns bei aller notwendigen Abgrenzung und allem Widerstand zugleich unser Mitleid für die Täter bewahren. Wie es in einem Passionslied heißt: „Holz auf Jesu Schulter, von der Welt verflucht, ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht. Wollen wir Gott bitten, dass auf unserer Fahrt Friede unsere Herzen und die Welt bewahrt. Denn die Erde klagt uns an bei Tag und Nacht. Doch der Himmel sagt uns: Alles ist vollbracht!“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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  6.2.2022

6.2.2022

Cornelia Götz, Dompredigerin - 06.02.2022

Predigt am 4. Sonntag vor der Passionszeit (Mt 14,22-33)
Im Herbst waren wir, gemeinsam mit anderen Braunschweiger Gemeinden, auf einer Segelfreizeit im IJsselmeer. Jede Gruppe lebte und fuhr gemeinsam mit dem Skipper und einem Matrosen auf einem Plattbodenschiff, ca 120 Jahre alten umgebauten Frachtschiffen. Unsere Powel Jonas war ein Zweimaster mit zwei großen und zwei kleineren Segeln. Es war eine besondere Erfahrung: die Arbeit an Bord, die Enge, der Minimalismus und auch die Freude, wenn das Schiff Fahrt aufnahm.
Allerdings: es war eine stürmische Woche … - und wir erlebten auch das: einen strengen Ton an Bord, weil jeder Handgriff sitzen muss, Seekrankheit, kaputte Gläser in der Küche, Schieflage eben und ordentliche Wellen.
Und dann eine Seenotrettung.
Ein Mann trieb auf dem zerbrochenen Frack seines selbstgebauten Katamarans. Kleinere Boote in der Nähe konnten ihn nicht aufnehmen, weil sie wegen der schweren See nicht halten konnten. Unser Skipper hatte das Kentern beobachtet und enorm schnell reagiert. So kamen wir noch rechtzeitig zu Hilfe, um den zitternden Mann an Bord nehmen zu können.
Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, Mann und Frack von der Küstenwache abgeholt waren, kam die Debatte: Was hatte den Mann in diese lebensgefährliche Situation gebracht? Was es einfach nur Übermut oder Gleichgültigkeit gegenüber der Gefahr? War es gnadenlose Selbstüberschätzung, ein seetaugliches Boot selbst bauen zu können oder fahrlässige Unterschätzung des Sturms? War es einfach nur Pech? War er
ein radikaler Individualist? Geimpft war er jedenfalls nicht…
Es war mithin eindrücklicher und existentieller Konfirmanden-Anschauungsunterricht darüber, was uns und unsere Welt an den Abgrund bringt, was - theologisch gesprochen - Sünde ist:
• der Mangel an Gehorsam gegenüber der eigenen Geschöpflichkeit und den eigenen Grenzen; die Vorstellung, dass ich im Recht bin und das unabhängig von Gott und notfalls in Isolation von meinen Mitmenschen; mit Augustinus: die Verblendung des Verstandes und die Korruption des Willens.
• der Mangel an Liebe gegenüber Gott, dem Leben, mir selbst - also eine Missachtung der eigenen Mit-Menschlichkeit, weil Menschen sich in anderen Menschen erkennen (wie Adam in Eva) und verstehen, dass sie nicht Einzelne sind - nur für sich selbst verantwortlich und rechenschaftspflichtig - sondern verwoben mit anderen.
• Die Habsucht, die Adam und Eva dazu bringt, den Apfel haben zu müssen oder wie es im Versöhnungsgebet aus Coventry heißt: „das Streben der Menschen zu besitzen, was nicht ihr eigen ist; die Gier, die die Erde verwüstet?“ - also die Sucht alles haben zu wollen, alles erleben und tun zu müssen, die uns mit dem Römerbrief dazu führt, dass ich „nicht ausführe, was ich will, sondern tue, was ich hasse“, dass ich mich entfremde von meiner Menschlichkeit.
Das alles ist nicht von uns weg zu schieben hinein in die nassen Schuhe des Mannes aus dem IJsselmeer. Es gehört zum Menschsein - offenbar auch dann wenn wir in unmittelbarer Nähe Gottes leben. Eindrücklich erzählt Matthäus davon. Sie haben die Geschichte vom „Seewandel“ des Petrus als Evangeliums gehört. Sie folgt auf die Speisung der 5000:
Gerade eben waren also Tausende Menschen satt geworden. Mitten in der erschöpfenden Ödnis hatte es für alle genug zu essen gegeben. Nun löst sich die Menge auf und verdaut - nicht nur das Essen, auch das Wunder. Jesus schickt die Jünger (dafür?) weg, raus auf den See - vielleicht will er sie gleich mit ihren Grenzen konfrontieren, damit sie nach dem eben erlebten Wunder nicht größenwahnsinnig werden. Vielleicht will er auch einfach nur allein, sich sammeln, verkraften, dass Gottes Vollmacht durch ihn wirksam ist? Oder nimmt er dieses Gott-sein in dem Moment für sich an? Er wird ja gleich tun, was Menschen nicht können: auf dem Wasser gehen.
Denn Sturm kommt auf. Die Jünger geraten in Seenot.
Und es ist Nacht.
Die Nacht der Angst, der Einsamkeit, der Gewalt, der Ohnmacht.
Sie bringt die Menschen in Todesnähe.
Aber in der vierten Nachtwache, kurz vor dem Morgengrauen, es ist die Stunde von der die Ostergeschichte die Auferstehung Jesu erzählt, da sehen die Jünger Jesus übers Wasser kommen. Sie kennen ihn als Menschen, der mit ihnen geht, mit staubigen wunden Füßen auf festem Grund. Aber als sie ihn so sehen, erschrecken sie sich!
Warum sind sie nicht erleichtert, dass er nun da ist? Ist es doch nicht die Angst, dass Gott weg sein könnte, die uns zittern lässt? Ist es vielmehr die Angst, dass obwohl er da ist grässliche Stürme toben und unser Boot zum Kentern bringen?
„Fürchtet Euch nicht! Ich bin da!“ ruft Jesus und er erinnert damit an all die Erfahrungen, die Menschen schon mit ihm gemacht haben: „ich bin da und gehe mit“, das ist der Gottesname, so hat er sich erwiesen und die Menschen durch die Wüste in die Freiheit geführt, so haben es die Engel in der Weihnachtsnacht gesungen: „Fürchtet Euch nicht!“, weil (!) ich da bin.
Da sagt Petrus: wenn Du das bist, dann komm ich auch raus aus dem Boot in den Sturm aufs Wasser. Dann kann ich wie Du, Gott, auf dem Wasser gehen - trotz Sturm.
Hat er das gesagt?
Fast.
„Bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.“
Bist Du es, dann sprich nur ein Wort - und mein Kind wird gesund, die Nacht hat ein Ende und Leid und Geschrei muss nicht mehr sein.
Bist Du es, dann sag mir, dass ich losgehen soll - durch den Sturm auf dich zu ohne alle Sicherheit. Und Jesus sagt: „Komm!“
Das könnte eine tolle Geschichte sein!
Sprich nur ein Wort und wir retten die Welt. Sprich nur ein Wort und wir können alles!
Sprich nur ein Wort und wir vergessen unsere Genzen und die die im Boot zurückbleiben,
Da geht Petrus unter.
Fast.
Denn Gott ist der „Ich bin da“. Das ist es, was er verheißen und versprochen hat. Er reicht
Petrus die rettende Hand. Jetzt müsste es den Moment geben, in dem sie Hand in Hand auf dem tobenden See stehen! Was für ein Bild!
Statt dessen erzählt Matthäus wie Jesus fragt: „Warum / woran hast Du gezweifelt???“
Und einmal mehr gibt es eine erstaunliche Leerstelle: Petrus antwortet nicht. Die Frage bleibt offen. Noch immer wartet Gott auf Antwort. Noch immer geht es weiter wie bisher: Petrus bleibt ein Mensch, der nicht auf dem Wasser gehen kann. Er muss zurück ins Boot, in dem er mit seinen endlichen unvollkommenen furchtsamen Menschengeschwistern unterwegs ist.
Da legt sich der Sturm.
Gott sein Dank! Das ist Gnade. Sie gilt allen im Boot!
Sünde ist, ich sagte es oben - Entfremdung, Vereinzelung, Selbstermächtigung.
Gnade ist, Wiedervereinigung, Vergebung, Teilhabe, Heiligung, Gemeinschaft.
Der Weg über‘s Wasser ist ein Weg des Gehorsams. Er wird möglich, nicht weil Petrus übermenschliche Eigenschaften hätte, sondern weil Gott sagt: „Komm! Geh los!“ Ermächtigung satt Eigenmächtigkeit.
Das Wunder der Sturmstillung geschieht weder dadurch, dass Petrus sich das traut noch um ihn zu retten. Es geschieht nicht mal, als die Menschen Gott in Jesus erkennen und sich be-kennen, ihn also wirklich in ihr Leben lassen.
Das Wunder geschieht, als Jesus mit ins Boot steigt. Das ist Gnade.
Und auf dem IJsselmeer? Da wurden einem Menschen sein Leben geschenkt - aus lauter Gnade. Und wir haben Gnade erfahren, weil wir nicht erleben zu mussten, dass einer neben uns ertrinkt, weil wir die Kraft hatten, in dem wahnsinnigen Wind, die schweren Segel einzuholen oder gerade noch rechtzeitig da waren. Gott muss mit an Bord gewesen sein. Später hat sich der Sturm gelegt.

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  3. Sonntag nach Epiphanias 2022

3. Sonntag nach Epiphanias 2022

Cornelia Götz, Dompredigerin - 23.01.2022


Eine kleine Ostband, eigentlich war es nur ein Liedermacher-Duo, Pension Volkmann, sang ein Lied, in dem es hieß: „Es ist Sonntagmorgen auf der ganzen Welt, die Kirchenglocken läuten, dass es Gott gefällt, seist Sonntagmorgen, Zeit für ein Gebet für Haus und Hof zu sagen, so Haus und Hof noch steht…“
Ja, es ist Sonntag ist auf der ganzen Welt, aber nicht überall läuten Glocken, mancherorts trifft man sich heimlich und keineswegs alle, die Glocken hören, erinnern sich daran, dass es Zeit ist für ein Gebet. Im Gegenteil. Manche wollen daran nie mehr denken. Und für die meisten gilt ist ohnehin, was das Duo weiter sang: „Nun lehn dich an dein Gartentor - mit einer Flasche Bier und gib dich nett und moderat. Der Nachbar dankt es Dir…“
Dabei gibt es unter einen am Gartentor etliche, die es noch immer gut und beruhigend finden, dass die Glocken läuten und sie wissen: dort betet jemand.
Stellvertretend sozusagen.
Aber geht das denn?
Können wir stellvertretend glauben oder muss und kann das jede und jeder nur selber tun? Ist es mit dem Glauben nicht wie mit dem Lieben, dem Leben und dem Sterben - Vertretung unmöglich bei dem, was uns bedingt angeht?
Aber schließt das aus, stellvertretend für andere zu glauben, die es nicht können?
Und wer kann schon sicher sagen, dass er glaubt? Haben wir es nicht alle dann und wann nötig, uns in der Gewissheit anderer zu bergen, zu hoffen, dass einer für uns spricht?
Wiederum und erst recht nach dieser Woche: wem kann ich solche Stellvertretung wirklich anvertrauen? Der Institution Kirche womöglich nicht.
Wie schwer das ist…
Und es ist, wie es immer mit den großen Fragen ist. Die Bibel kennt sie in irgendeiner Fassung, die wir stellvertretend nehmen, um etwas besser zu verstehen oder wenigstens die Fragen zu erahnen, auch wenn alles verkehrt erscheint.
Eine solche Geschichte gehört zu diesem Tag.
Matthäus erzählt davon, wie ein Mann zu Jesus kommt, nicht um seinetwillen. Es heißt: Jesus kam nach Kapernaum und als er „hineinging, trat ein Hauptmann zu ihm“.
Ein Hauptmann! Ausgerechnet. Ein Fischer, ein Händler, eine Hebamme, ok. Sie alle mögen Hoffnung gesetzt haben auf diesen exemplarisch glaubwürdigen Menschen. Sie alle hatten wohl auch Grund, Hilfe weder bei den Repräsentanten des Staates noch der institutionalisierten Religion, schon gar nicht der Besatzungsmacht für sich und andere zu suchen.
Aber ein Hauptmann…
Wenn bei einem Pension-Volkmann-Konzert ein Uniformierter erschien, wurde einem mulmig. Überall dort auf der Welt, wo Menschen beten ohne zu läuten, wo sie ihre Bibeln verstecken und niemals ein Kreuz um den Hals tragen würden, wird es eng, wenn Uniformierte auftauchen.
Ein Hauptmann… Kann der ehrlich etwas von Jesus Christus wollen?
Ich will nicht alle Uniformierte in einen Topf werfen, längst habe ich andere Polizisten und Grenzbeamte erlebt - aber die alte Geschichte gehört nicht in einen Zusammenhang, in dem Blauhelme unterwegs sind. Der Hauptmann steht für institutionalisierte Gewalt.
Auch hier läuft wie ein Störsender das Gutachten ja München in meinem Kopf mit….
Der Hauptmann jedenfalls trat auf Jesus zu.
Jetzt nicht schwitzen und stottern, sich ja nicht verdächtig benehmen. Wer nicht weiß, was ein Machtgefälle ist, versteht es in solchen Momenten sofort. In Hochgeschwindigkeit liefert das Hirn alle möglichen Gründe: Warum jetzt? Warum hier? Was weiß der von mir? Was will der. Man sieht nur die Uniform und das System, für das sie steht.
Ich erinnere mich an eine Nacht 1989 im Keller des Staatssicherheitsgebäudes in Erfurt. Die Bürgerbewegungen hatten das Gebäude besetzt. Nun galt es rund um die Uhr versiegelte Büros und Aktenkeller zu bewachen, damit nicht weiter Unterlagen vernichtet würden. Mit mir hatte damals ein Berufssoldat Nachtschicht. Wir waren gleich alt. Anfang zwanzig beide. „Warum bin ich hier auf der falschen Seite? Darf ich Dich besuchen. Kannst Du für mich beten?“ fragte er. Er kam tatsächlich zum Reden in die Räume der Studentengemeinde. Aber ich habe nicht für ihn gebetet. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Ich habe auch nicht stellvertretend geglaubt. Ich habe bis gestern nicht mehr an ihn gedacht. Jetzt stört auch er in dieser Geschichte.
Der Hauptmann bei Matthäus sagt zunächst nichts über sich. Nur das:
„Herr, mein Kind liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen.“
Hat ihn das große innere Überwindung gekostet, zu kommen und das zu sagen?
Ist er seinem Kind diesen Gang schuldig? Ist dieser Bittgang eine letzte Chance?
Die Menschen drumherum halten die Luft an.
Klingt hier der Missbrauchsskandal auch durch?
Der Hauptmann, der Vertreter der Macht, bittet nicht direkt für sein Kind. Er benennt nur sein Leid. Es kann nicht für sich selbst sprechen. Und es scheint, als traut er sich nicht, zu bitten. Vielleicht, weil er die Erleichterung, dass es dem Kind besser geht, nicht verdient? Trotzdem. Da steht er mit seiner Not. Eine Anfechtung für alle.
Und Jesus, der, dem andere x-mal hinterherrufen, der das Kind des Lazarus sterben ließ, weil er nicht gleich kommen konnte oder wollte, der sagt: „Ich komme.“ Sofort. So nötig ist es. Ganz besonders dieses Kind braucht ihn.
Auch da hakt etwas. Denn übersetzt werden kann auch: „Ich soll kommen und ihn gesund machen?“ Ich? Hast Du Dir das gut überlegt?
Kurzer Schnitt:
Wie mag dieser Text vor achtzig Jahren geklungen haben? In Wannsee wird die Ermordung der Juden bürokratisch geordnet und währenddessen geht einer von der Militärs zu einem jüdischen Arzt und sagt: „Mein Kind ist krank. Es leidet.“
„Was? Das fragst Du mich?“
Ja Dich.
Auch wenn ich weiß, so geht es bei Matthäus weiter, dass “Ich es nicht wert bin, dass du unter mein Dach gehst, sprich nur ein Wort, so wird mein Kind gesund.“
Erinnert sich noch einer an das Lied der Maria? Er stürzt die Mächtigen vom Thron?
Obwohl, du dich eigentlich von mir abwenden müsstest, obwohl ich dir wahrscheinlich widerwärtig bin, bitte sprich wenigstens ein Wort. Und es schwingt mit: Sprich mit mir. Bitte. Du musst nicht mitkommen und nicht verstehen. Aber ich bitte dich: Sprich! Ich weiß, was das bewirkt.
Jesus staunt.
Vielleicht staunt er, was dieser Hauptmann sich traut.
Vielleicht staunt er, wie unantastbar Menschenwürde ist.
Vielleicht staunt er über diesen Glauben an die heilsame Möglichkeit der Worte - gerade bei ihm, er gewohnt ist zu befehlen.
„Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Kind wurde gesund zu derselben Stunde.“
Das Kind wird gesund. Hier hat einer stellvertretend und selbst verantwortet geglaubt.
Das wirkt Heil für beide. Dem Hauptmann erlebt die grundstürzende Erfahrung, kommen zu dürfen und erhört zu werden. Das Kind wird gesund.
„Es ist Sonntagmorgen auf der ganzen Welt…“
Es ist Sonntag. Wir sind hierher gekommen - und jeder hat seinen Weg genommen. Vielleicht sollen wir die sein, die stellvertretend festhalten und da bleiben, vielleicht sollen wir die sein, die versuchen, trotz allem zusammenzuhalten, was sich sperrt. Es wird - so erzählt es der alte Text - helfen. Denen, für die wir bitten und uns.
Amen

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  1. Sonntag nach Epiphanias 2022

1. Sonntag nach Epiphanias 2022

Cornelia Götz, Dompredigerin - 09.01.2022

Erster Sonntag nach Epiphanias: wieder machen wir uns auf, mit dem Gottessohn, dem Menschenkind erwachsen zu werden auf dieser Erde, in unserer Zeit.
Das Kirchenjahr ist kein Kreislauf, keine ewige Wiederkehr, kein Weltenlauf ohne Anfang und Ende - sondern der immer neue Versuch mit Jesus Christus mitzugehen.
Heute ist der Sonntag, an dem wir uns an Jesu Taufe erinnern und dabei mitten in der Undurchsichtigkeit unserer Zeit mit all ihren mühsamen schwer deutbaren Nachrichten sehen, dass selbst er Vergewisserung brauchte, einen der mitgeht und die Zusage:
Ja. Du. An dir freut sich meine Seele.
Es ist ein Sonntag, an dem wir noch unterm Stern von Bethlehem und mit Weihnachtsbäumen Gottesdienst feiern aber doch schon wieder tief im Alltag unseres Lebens stecken, der nie alltäglich ist.
Wer wollte für normal und alltäglich halten, dass in Washington an den Sturm auf das Capitol derart zornig erinnert werden muss, dass in Kasachstan ein Schießbefehl gilt, hoffentlich nicht auszuführen mit deutschen Waffen, dass auf deutschen Intensivstationen viermal so viele Kinder und Jugendliche liegen, die einen Suizidversuch unternommen haben als vor der Pandemie. Was ist das für ein Alltag, an dem „spazieren“ eine sehr fragwürdige Verabredung ist?
Nichts ist normal. Und alles. Wir stehen jeden Tag auf, hoffen gesund zu bleiben und gut zu unserer Nächsten zu sein, versuchen, dieses Leben hier nicht zu vergeuden, Menschlichkeit nicht zu verlieren. Und merken, wie schwer das ist und wie schnell die Weihnachtsbotschaft verklingt:
Christ der Retter ist da!!! Ja, aber wo?
Wo geht das erwachsen werdende Menschenkind entlang?
Er muss doch endlich deutlicher werden und den Hebel herumreißen, damit wir gar nicht anders können als ihm nachzugehen, damit es endlich gut wird hier unter uns.
Er muss doch endlich Recht und Gerechtigkeit so aufrichten, dass sie stärker sind als alle anderen Wirklichkeiten!
Ja. Sieh doch, lässt Jesaja uns von Gott sagen:
„Siehe, das ist mein Knecht, … , an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen.“
Ein Knecht…
Was hilft uns ein Knecht, wenn wir doch auf den Friedefürsten warten, den Gott-Held!
Wie soll der sichtbar werden unter uns?
Und wirksam? Hörbar?
Nicht, wie Du denkst, sagt der Prophet.
Nicht mit Glanz und Gloria, nicht mit Gewalt und dem Dröhnen von Stiefelschritten, nicht mit Faustschlägen an Körpern und Köpfen, Stromschlägen an Handgelenken und Hirnen…
Dem allen sagt Jesaja, entzieht er sich siebenfach.
Siebenfach sagt der Prophet, wie der Retter, auf den wir hoffen, nicht ist:
• er schreit nicht und er ruft nicht
• seine Stimme ist nicht zu hören, nicht mal in schmalen Gassen
• ein zerknicktes Rohr zerbricht er nicht
• einen nur noch glimmenden Docht verlöscht er nicht
• und auch er selbst zerbricht nicht, verlöscht nicht
Nicht. Nicht. Nicht.
Nicht umarmen. Nicht feiern. Nicht tanzen. Nicht träumen.
Nicht kräftig. nicht scharf. Nicht lebendig.
Aber - so sang Herbert Grönemeyer als der noch jung war: „Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, denn das ist alles, was sie hört, … sie mag Musik nur, wenn der Boden unter den Füßen bebt, dann vergisst sie, dass sie taub ist, … ihre Hände wissen nicht, mit wem sie reden sollen, es ist niemand da, der mit ihr spricht, … sie mag Musik nur, wenn sie laut ist...“
Oh, ich kann das gut verstehen!
Wir sehnen uns doch nach Veränderungen voller Kraft, nach der Rückkehr des Lebens so, dass wir es mit allen Fasern spüren können!
Wie soll sich denn einer in dieser Welt bemerkbar machen, der leise ist und leise wirkt, sanft mit den Dingen umgeht, die andere wegwerfen würden - das zerknickte Rohr und dem niedergebrannten Docht, der bestenfalls nicht selbst zerbricht und ausbrennt? So einer muss doch überrannt, vergessen, missverstanden und unterschätzt werden.
„Machtumbau im Schatten der Unruhen“ - heißt es heute Morgen in der Tagesschau.
Und durch Jesaja sagt Gott:
„Ich, h will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen.
So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.“
Das Unmögliche, das Neue - wie fängt es also an?
Da steht ein junger Mann in einem Fluss und lässt sich taufen.
Da öffnet sich der Himmel.
Gelingt es uns zu, etwas zu hören?
Gelingt es uns, etwas zu erlauschen?
Das ist mein Kind, der Mensch, an dem ich Wohlgefallen habe.
Da ist ein Mensch, den ich in meinen Dienst nehmen will.
Da ist ein Mensch, an dem meine Seele sich freut.
Da ist ein Mensch, den will ich mit meinem sanftmütigen und friedfertigen Geist erfüllen.
9. Januar 2022.
Hören wir das?
Oder sind wir schwerhörig geworden, taub beinahe?
Dringen nur noch Fetzen zu uns vor?
Reimen wir uns irgendwas zusammen, das dann doch nicht passt?
Wie klangen die alten Worte? Klang es nicht nach Atem, Lebensodem sogar?
So spricht Gott, sagt Jesaja:
„der die Himmel schafft und ausbreitet … Ich habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen, bestimmt … dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker. … ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.“
Epiphanias 2021.
Auch wenn alles anders aussieht. Auch wenn die Nachrichten dröhnen.
Es gibt einen neuen Klang in der Welt, der tröstet und aufhorchen lässt.
In anderer noch viel schwerer Zeit, 1945, stellte Nelly Sachs diesen Jesajavers einem ihrer Gedichte voran:
„Ehe es wächst, lasse ich es euch erlauschen.“
Und dann dichtet sie:
„Lange haben wir das Lauschen verlernt! / Hatte ER uns gepflanzt einst zu lauschen / Wie Dünengras gepflanzt, am ewigen Meer …
Wollten wir wachsen auf feisten Triften / Wie Salat im Hausgarten stehen.
Wenn wir auch Geschäfte haben, die weit fort führen / von Seinem Licht, /
Wenn wir auch das Wasser aus Röhren trinken …
An die Erde das lauschende Ohr, / Und ihr werdet hören durch den Schlaf hindurch / …. Wie im Tode / Das Leben beginnt.“
Amen.

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