Gottesdienste

Landesbischof Dr. Christoph Meyns und Dompredigerin Cornelia Götz
Landesbischof Dr. Christoph Meyns und Dompredigerin Cornelia Götz

Gottesdienste

Der Braunschweiger Dom ist Alltags- und Festtagskirche zugleich; darum gibt es neben den Hauptgottesdiensten am Sonntag um 10.00 Uhr und regelmäßigen Familiengottesdiensten im Anschluss, von Montag bis Freitag um 17.00 Uhr 5-Minuten-Andachten und am Sonnabend um 12.00 Uhr ein Mittagsgebet mit 20 Minuten Orgelmusik. Das Abendmahl feiern wir in der Regel am ersten Sonntag im Monat und an jedem Freitag im Anschluss an die 5-Minuten-Andacht.

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Das Vaterunser
Gebete
Dompredigerin Cornelia Götz

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Landesbischof Dr. Christoph Meyns

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Predigten

  Erntedank

Erntedank

Cornelia Götz, Dompredigerin - 06.10.2024

Wieder einmal sind Menschen zusammengekommen, viele.
Es ist nicht das erste Mal,
dass sie Gottes Nähe suchen,
dass sie Trost und Stärkung brauchen,
dass sie sich vom Leuchten in den Gesichtern anderer anstecken lassen wollen.
Wieder lassen sie die Alltagsarbeit liegen, unterbrechen sie sich.
Es treibt und zieht sie, da jetzt mitzugehen, dabei zu sein.
Markus schreibt, Sie haben es gehört, es seien viertausend gewesen.
Zwei Kapitel vorher waren es sogar fünftausend.
Wir sind weniger und auch erst heute Morgen aufgebrochen - aber wir stoßen dazu,
• weil uns das Herz, zwischen all dem was passiert, überläuft
• weil wir uns sorgen, wo die verlogenen gierigen Töne um uns herum uns noch hinführen
• weil uns beunruhigt, dass wir geschehen lassen woran wir schuld sein werden.
Darum ist es ein Segen zu wissen, wohin mit mir in solcher Zeit.
So schließen wir uns denen an, die eine andere Art Unruhe erleben - keine, die Angst macht - sondern eher eine aus der Mitte, der Quelle des Lebens her.
Und wieder, schreibt Markus, gab es nichts zu essen.
In den Geschichten des Neuen Testamentes muss man das wörtlich nehmen.
Der Hunger war allgegenwärtig.
Die, die auf Jesus Christus hofften, litten ihn erst recht.
So ist es geblieben.
Auch unter uns sind Menschen, die sich sehr genau überlegen müssen, was sie kaufen können und wie lange es satt macht.
Und alle leben nicht vom Brot allein.
Wir alle hungern nach Klarheit, nach Ermutigung, nach Hoffnung, nach Liebe und Gemeinschaft.
So viel Erwartung.
So leere Hände.
Jesus, Gott, sieht das und es jammert ihn.
Dieses „es jammert mich“ ist leider aus unserer Sprache verschwunden. Zu schade, denn es hat einen ganz eigenen Sinn: wen es jammert, der ist nicht einfach nur traurig oder mitleidig, sondern angefochten von dem, was er sieht. Wen es jammert, der ist nicht nörgelig und gefrustet, dem zieht es das Herz zusammen, der macht nicht dicht - der sieht noch hin. Wir jammern Gott.
Er sieht, wie wir warten - bei ihm und auf ihn.
Er sieht, dass wir kommen - immer wieder und versuchen, unsere Hoffnung auf ihn zu setzen.
Er weiß, dass wir in uns lauschen, ob da endlich ein großer starker Glaube blüht.
Er sieht es und es jammert ihn, dass wir hungrig bleiben und nicht satt werden, matt und erschöpft sind.
Gott sieht das alles und es ist ihm nicht egal.
Er sieht uns in einer Verfassung, in der er uns nicht gehen lassen kann - so aus uns heraus schaffen wir es nicht mehr lange und die, die von weit her kommen, die es etwas kostet, auf ihn zu setzen, obwohl sie seinen Schutz und Segen bisher nicht gespürt haben - die brauchen jetzt dringend etwas zu beißen, etwas, das stärkt und kräftigt.
Was nun? Zeit für alte Wunder?
O ja, es wäre gut, wenn es Manna und Wachteln regnen würde und alle vor der Tür finden würden, was sie zum Leben brauchen.
O ja, es wäre gut, wenn Gott als Wolken- und Feuersäule mitginge, damit wir uns zwischen den Fata Morganas von Freiheit und Wohlstand und in der Nacht von Hass und Hetze nicht dauernd verlaufen.
Ja, es wäre wahrscheinlich sogar gut, wenn Gott grollend und donnernd, zornig und strafend dazwischen führe, wenn wir wider besseres Wissen anderem huldigen.
Aber so kommt es nicht.
Da müsste uns eigentlich Gott jammern, denn das hat er ja alles versucht …
Und also stehen die Seinen, wir, ratlos und fragen sich:
Wovon können wir denn satt werden?
Wir haben überhaupt nichts in der Hand, um gegen die große Einsamkeit, die große wirtschaftliche Ungerechtigkeit, den ganzen Irrsinn anzugehen.
Wir sitzen in der säkularen Wüste und legen die letzten Oasen mit kleinmütigen Strukturdebatten selber trocken.
Da sitzen wir und es jammert uns.
Aber Gott, Jesus Christus, will unsere Mängelliste nicht hören.
Was habt Ihr denn? fragt er.
Irgendwas muss doch da sein?!
• und an dieser Stelle muss eine herrliche Szene aus dem Film: „Eine Nacht im Grandhotel“ her: Da lehnt der penible, ewig misslaunige Küchenchef bei seinem Kollegen an der Bar und ist verzweifelt. Er vergrault alle. Und nun hat ihn auch noch seine Frau verlassen. Der Barkeeper diagnostiziert eine akute Krise und schiebt Zettel und Stift über den Tresen: „Wenn mich das befällt, schreib ich alles auf, was ich an mir gut finde“, sagt er. Der Küchenchef braucht dafür keinen ganzen Zettel. Ihm reicht ein schmaler Streifen. Es gibt nur eins, was er an sich gut findet: „Dass man sich immer auf mich verlassen kann“ schreibt er auf. Der Barmann reißt die Augen auf: "Und du glaubst, das ist nichts??? Das ist viel mehr als die meisten von sich sagen können!“
Was habt Ihr, fragt Jesus.
Die Menschen schauen sich um und finden sieben Brote.
Und ihr meint, das ist nichts???
Jesus dankt und segnet das Brot und teilt es aus. Während noch das Brot geteilt wird, tauchen auch einige Fische auf und auch für die wird gedankt und ein Segenswort gesprochen. Auch sie werden ausgeteilt.
So essen sie und werden satt, dann brechen sie auf.

Und wir? Was haben wir?
Ich zähle man auf, was ich sehe:
• Frau Gollub an der Domaufsicht, Mario Freienberg und Witold Dulski, Heiko Frubrich, Landfrauen
• Menschen im Dom, die immer da sind und hier Zuhause und solche, die zu Gast sind, sich eingeladen wissen
• einen unglaublich schön geschmückten Altar mit Blumen und Früchten, Brot und Gräsern, dazu eine Erntekrone - liebevoll per Hand gemacht, extra für uns
• Orgel und Gesangbuch, Bibel,
• Abendmahl.
Ich werde nicht fertig, langsam füllen sich die Körbe …
Solches lässt sich nicht ausrechnen oder irgendwie prognostizieren - man muss es erfahren, erleben. Darum ist Erntedank so ein wunderbares Fest.
Wenigstens einmal im Jahr das Staunen und die Dankbarkeit größer werden lassen als alle Sorgen und dann gestärkt weitergehen.

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  Michaelis

Michaelis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 29.09.2024

An solch einen Sonntag muss man vielleciht zweischrittig herangehen - erstmal auf den Predigttext aus dem ersten Petrusbrief zum 18. Sonntag nach Trinitatis hören, denn wir Christen haben Gottes Wort, das so klar ist, dass es eigentlich keiner weiteren Boten und Mittler bedarf.
Und dann kommt als willkommene Eskalation - während wir stur wie Bileam in die Richtung zu reiten, die wir richtig finden - die AT-Lesung zum Michaelissonntag mit Gott Engel mitten im Weg.

Ich beginne also mit dem 1. Petrusbrief, der zunächst eine Zeit- und Ortsbestimmung für uns vornimmt, mithin das, was der Kontext ist, in dem wir leben und in den hinein wir hören.
„Das Ende der Dinge ist nah.“
Das kann man in zwei Richtungen hören:
Entweder im Sinne der letzten Generation: das Ende unserer Welt steht unmittelbar bevor. Wenn wir jetzt nicht sofort umkehren (eine alte prophetische Vokabel, die auch den Bileam betrifft), wird diese Erde untergehen.
Oder: Das Ende ist nahe und Gottes Reich steht unmittelbar bevor. Es wird kein Streit und Geschrei mehr sein und gibt lebendiges Wasser für alle umsonst.
So ist es gesagt. Das müsste Konsequenzen haben, so oder so.
Aber: vermutlich schütteln und distanzieren wir uns und reiten weiter. So radikal wird es schon nicht gemeint sein. Das glauben nur dumme Esel.
Den Verfasser des Petrusbriefes schreibt indes weiter und die Übergänge sind genauso steil, wie ich es hier sage - ich lasse kein einziges Wort weg:
„Seid besonnen und bewahrt einen klaren Kopf, damit ihr beten könnt.“
Die Folgerung auf die Zeitansage wird nicht mit einem „darum“ oder „deshalb“ eingeleitet. Es ist mithin egal, ob wir glauben, dass das Ende der Zeit nahe ist. Der Verfasser des Briefes hält sich mit unserer Ignoranz nicht auf, sondern sagt:
Seid besonnen und klar - nicht, um keine falschen Entscheidungen zu treffen, keine Unfälle zu bauen, andere nicht zu verletzen, euch nicht provozieren oder manipulieren zu lassen oder um schlau den besten Schnitt zu machen - sondern: um beten zu können!
Nun ist unsere Besonnenheit und Klarheit dabei sicher nicht für Gott nötig.
Er weiß, was wir - oder Bileam - gleich sagen werden; denn - mit dem 139. Psalm: „es ist kein Wort auf meiner Zunge, dass du Herr nicht schon wüsstest“.
Wir brauchen Besonnenheit und Klarheit, damit wir uns klar werden, damit wir ihm vertrauen und uns in ihm gründen, damit wir „richtig wünschen“ und mit Herz und Kopf auf seinen Wegen unterwegs sind – denn andernfalls produzieren wir diffuse eigensinnige Sturheit und quälen die, die unsere Last tragen.
Nächster Vers:
„Darum haltet vor allem mit Ausdauer an der Liebe fest, denn die Liebe deckt jede Menge Sünden zu.“
Wir sollen ja, so sagte es das zentrale Gebot Jesu, lieben mit aller Kraft, aus ganzer Seele und Gemüt - und das nicht punktuell, sondern geduldig, dauerhaft, gegen den Trend. Nicht, weil es dann unter uns kuschliger und netter ist, sondern weil unsere Sünden dann nicht dominieren, wie wir miteinander umgehen und wir uns nicht damit aufhalten oder ablenken, andere verantwortlich zu machen, wenn es nicht weitergeht.
Vielmehr - direkt anschließender nächster Vers, um den wir mit Sicherheit ganz entspannt herumreiten und drüberweghören wollen:
„Seid gastfreundlich ohne Murren.“
Wir können uns jetzt angesichts all unserer nichtwegzuredenden gesellschaftlichen Probleme dieser Ansage verwehren. Wir können auch auf den Esel einschlagen, bocken und brüllen. Davon verschwindet weder das Thema noch Gottes Anspruch an uns. Und ganz gewiss kommen wir keinen Meter von der Stelle. Der Briefschreiber weiß es und schreibt:
„Dient einander ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat.“
So klar. So einfach. So absolut unmachbar. Und damit schwenke ich zu Bileam.

Der war ein frommer Mann. Allerdings kein Israelit, sondern in deren Augen ein Ausländer, dem nachgesagt wurde, dass gesegnet sei, wen er segnet und verflucht, wen er verflucht. Er zieht nicht mit dem Gottesvolk. Er lebt im fremden Land und taucht in der Weggeschichte Israels an einer Stelle auf, an der die großem Klärungen der Wüstenwanderung (Manna, Wachteln, Wolken- und Feuersäule, Gebote, Bundesschluss) schon geschehen sind und man sich streitend und unzufrieden Richtung verheißenes Land schleppt, selbst Ausländer ist und das fremde Land, durch das man zieht, wie eine riesige Herde abgrast.
Der Herrscher dieses strapazierten Landes, Balak, versucht die ungebetenen Gäste loszuwerden, indem er nach Bileam schicken lässt, damit der die Fremden verflucht.
Wo käme man hin mit Gastfreundschaft ohne Murren?
So gerät Bileam, der von Gott weiß - ihn ehrt und fürchtet - zwischen zwei Instanzen, zwischen die Logik dieser Welt und Gottes klarem Auftrag: Zunächst lässt sich noch auf Gott hören. Bileam weigert sich und geht einfach nicht mit zu Balak. Darauf schickt der König eine zweite - höherrangige - Delegation. Diesmal gebietet Gott dem Bileam mitzugehen. Aber er wütet dabei.
Bileam könnte also sofort wissen, dass er sich auf einen grundsätzlich falschen Weg macht. Aber er muss erst in den Konflikt und in die Enge getrieben werden, um das auch klar zu sehen, selbst nicht zu wollen.
Und dahin gehört der Engel-Text an diesem Michaelissonntag. (Num 22,31-35)
- TEXT -
Gottes Engel ist ein Hindernis. Er trägt den Bileam nicht fürsorglich aus der Misere. Er ist nicht der freundliche Begleiter. Sondern einer, der sich so nachhaltig in den Weg stellt, dass Bileam das Falsche nicht machen kann.
Wir neigen dazu, in Gottes Engel sanften Schutz zu sehen - gleich singen wir eins meiner Lieblingslieder, das nun als Predigtlied gar nicht mehr passt, denn wenn wir genau hinsehen -
• sei es der Engel, der Abraham daran hindert, blind zu gehorchen und seinen Sohn zu opfern
• sei es der Fremde, der mit Jakob am Jabbok ringt, damit der sich endlich mit seinem Bruder versöhnt
• sei es der, der Bileam im Weg, Fremde zu verfluchen
dann zwingen Gottes Boten, die Augen aufzureißen, zu erkennen, was jetzt dran ist und uns dazu hindurchzuringen, seinen Willen zu tun. Dann leistend die Engel uns Widerstand bis wir begreifen und selbst das Richtige tun.
Bileam wird die Fremden segnen.
Und wir?
Wie lange wird es dauern, bis wir aufhören, um uns zu schlagen, auf der Stelle zu treten, falsche Pläne zu verfolgen und die Augen aufmachen, gastfreundlich sind - ohne zu murren? Oder noch anders: Wird es ein Fremder sein, dessen Segen wir zum Leben brauchen?
Der Petrusbrief endet mit den Worten: „Wenn jemand dient, dann tue er es aus der Kraft, die Gott gewährt, damit in allem Gott gepriesen werde.“
Wie das geht? Bisher scheinen es nur die Esel zu wissen…

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  16.S.n.Trinitatis

16.S.n.Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 15.09.2024

Da sind wir heute Morgen in der Kulisse des Kindermusicals: Dieses Mal geht es um Petrus - der nicht fassen kann, dass Gott in ihn so viel Vertrauen gesetzt hat, ausgerechnet in ihn, der er so oft an seine Grenze kam, so offensichtliche Schwächen hat.
Petrus hatte Gott nicht gesucht. Er war ein Fischer, ganz zu Hause in seinem eben auch schwierigen Leben. Dann hatte er sich von Gott rufen lassen und wollte es gut machen. Aber er geriet - und brachte sich - selbst immer wieder in Situationen, in denen ihn nichts trug, obwohl es so einfach schien oder andersherum, ihn die Fülle überwältigte obwohl es so aussichtslos war.
Der Tod brach mit voller Wucht in sein Leben ein. Die Auferstehung auch. Er starb gewaltsam.
Es geht auch mit Gott in seinem Leben nicht geradeaus, nicht nur gut.
Die Kinder tauchen ein, fühlen sich ein, suchen Verwandtes, erleben Fremdes.
Es ist eine von unser aller Weggeschichten mit diesem Gott: voller Staunen und dann wieder Enttäuschung, Vertrauen und Zweifel, Nähe und Einsamkeit.
Ich denke, die meisten von uns – jedenfalls heute Morgen hier - wollen Gott in ihrem Leben haben, wollen ihm vertrauen, wollen auf ihn hören und glauben, dass er Gutes mit uns vorhat, dass er seine Schöpfung nicht nochmal vernichten will. Und ich glaube auch, dass viele uns - wenn sie auf ihr Leben schauen - Schutz und Bewahrung, Segen und Geleit erkennen können, manchmal sogar deutliche Fingerzeige sehen.
Trotzdem ist unser Glaubensleben - auch wenn wir Salz der Erde und Licht der Welt sein sollen - allermeist eher eine private Geschichte. Wir bringen Gott draußen – leider, aber das ist eine andere Geschichte - selten ins Spiel. Immerhin erkennen wir einander manchmal: an bestimmten Grundhaltungen oder eben daran, dass wir immer noch nicht zu Ende sind mit dem lFragen und Verstehenwollen, dem Zufluchtsuchen - bei ihm.
Es geht ja nichts glatt. Die Nachrichten sind voller Beben, Erschütterungen, Zusammenbrüche und Zusammenstöße aller Art. Dabei benehmen wir uns wie Menschen zweier Reiche: beim Blick auf die Welt, auf Wirtschaft und Gesellschaft, Politik, kommt Gott eher nicht vor. Meist sind Ursache und Wirkung einigermaßen erkennbar. Wir sehen Zusammenhänge und Konsequenzen, wir ahnen, dass wir weit weg davon sind, wie es sein soll unter uns - aber wir machen Gott nicht verantwortlich für marode Infrastruktur, morsche Brückenpfeiler oder die Krankenhausreform. Auch Petrus hat ja offenbar mit und ohne Gott gefischt…
Aber in dem anderen Reich, unserem Leben, dem was uns nah am Herzen ist, läuft es anders und erstaunlich: je näher uns das Leben auf die Haut rückt, desto direkter wird unsere Gottesbeziehung.
Zu Gott kommen wir, wenn es uns unmittelbar angeht.
Er wird uns wichtiger und ja, auch unverständlicher, fremder, je mehr wir betroffen, angerührt, erschrocken sind. Wenn wir nicht wissen wohin, mit unserer Not - oder manchmal auch der Erleichterung, dem Dank - dann fällt Gott uns ein.
Er scheint wirklich in unseren Herzen zu wohnen.
Dann finden wir Gebetsworte für uns und andere, die, die in all dem drinstecken, in dem wir auch drinstecken oder drinstecken könnten. Wir haben ein Sensorium, das Schmerz kennt und Angst, eine Vorstellung, was wir aushalten können und was nicht, einen Geist, der uns verbindet.
Dann spüren wir, dass wir einen Resonanzraum, eine Adresse für unsere Bitte brauchen, sonst verstopften wir. Und so wenig wir uns im Gebet üben mögen, so wenig Alltagsform manchmal auch ist - es geht irgendwie: dann haben wir Worte oder können uns in denen bergen, die andere gefunden haben.
Das allein ist schon Segen.
Vielleicht geht also unsere je eigene Glaubensgeschichte da entlang: An den Stationen, an denen wir auf Gott gesetzt und ihn gebeten haben: möge es uns oder denen, über denen das Leid zusammenbricht, endlich, endlich besser gehen. Möge mit der Kraft derer, die wieder heil werden auch unsere Welt heiler und heller werden – und Trost erfahren haben - wenn wir erleben, dass er uns hört.
Aber es gibt auch die anderen Wegmarken. Dann wenn wir verzweifeln. Auch an ihm.
Wenn ein Unglück geschieht, werden Hader und Zweifel groß. Ist da ein Gott? Hört er uns???Ist es zumutbar ihm zu vertrauen - trotzdem?
Sind wir nicht doch gnadenloser Willkür ausgeliefert und immer im Schatten des Todes unterwegs? Straft er doch?
Auch Petrus kannte das: den lebensgefährlichen Sturm, die tiefe Verlassenheit.
Und die Scham über das, was in uns überhand nehmen kann.

Dieser Sonntag mit seinen Texten, samt Petrus, hat von all dem etwas. Er ist voller Worte, die direkt von Gott kommen „Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird leben“ - und auch voll zutiefst ehrlichem menschlichen Widerhall.
Das ist Paulus, der wie andere auch, zunächst glaubte, mit strengen Lebensregeln und Opfern Gott beschwichtigen oder sogar bewegen zu können und der nun erklären und aushalten muss, dass Tun und Ergehen nicht zusammenhängen.
Brücken stürzen nicht symbolisch ein.
Menschen leiden und sterben nicht, um irgendwen zu strafen.
Ist das Gottes große schmerzhafte Anarchie der Ungerechtigkeit?
Paulus lässt sich darauf nicht ein.
Er will glauben und sich festhalten und schreibt: „Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben“ - sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“
Fürchtet Euch - so klingt es seit Weihnachten, immer. Mach nicht die Angst groß, den Hader, den Zorn. Halte inne. Schau! bist du nicht behütet worden? Hat Gott nicht die Fülle des Lebens ausgeschüttet - bis hierher. Sei behutsam? Mach nicht kaputt, was dir doch leben hilft. Fütter nicht den Zweifel, sondern die Dankbarkeit.
Ja, aber, möchte man sagen und läuft mit Martha Jesus entgegen: warum bist du dann nicht dagewesen? Wir hätten dich so dringend gebraucht!!!! Ohne dich wird gestorben. Gnadenlos und sinnlos. Wo warst Du???
Und der Psalmist antwortet:
„Du, Gott, lässt nicht zu, dass dein Frommer die Grube schaut …
Bleibst du mir zur Rechten, so wanke ich nicht.“
Beschwörend betet da einer, der Angst vorm Sterben hat, der Gewissheit braucht.
„In den Nächten mahnt mich mein Inneres“ – betet er weiter. Es geht durch Mark und Bein, macht Beschwer und schlimmes Bauchgefühl. Und doch: es wird Morgen, ein neuer Tag, Petrus wirft die Netze aus - wider alle Wahrscheinlichkeit und amcht einen Riesenfang. Auferstehung schimmert durch das Dunkel hindurch:
„Du tust mir kund den Weg zum Leben, bei dir ist Freude die Fülle“ – singt der Psalmist. Wo hat er das jetzt her?
Glaubensgeschichten sind Weggeschichten - mit allem.
Sie führen, wenigstens das scheint gewiss, nicht in die Irre.

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  11. S.n. Trinitatis

11. S.n. Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 11.08.2024

Es ist erstaunlich, wie viele Menschen ihren Lebensunterhalt als Coach verdienen, wie viele für Supervision oder kollegiale Beratung Geld ausgeben, Zeit investieren.
Ich auch.
Ich schätze es, wenn ich mich bei schwierigen Gesprächen auf das Thema konzentrieren und die Gesprächsleitung abgeben kann. Mir hilft es, jemanden auf meine Situation gucken zu lassen, der nicht drinsteckt.
In der Regel bin ich nach solchen Sitzungen mit meinem Thema nicht fertig - allermeist ist aber ein Klärungsprozess in Gang gesetzt und ich habe eine Idee für die nächsten Schritte.
So was bräuchten wir jetzt wohl alle: einen Profi, der Ängste und Sorgen abschichtet, der sich nicht in alten Geschichten verstrickt. Ich hätte gern einen, der sich nicht auf Tiefenpsychologie und Familienaufstellung spezialisiert hat und mit mir so lange zurückguckt, bis ich verstanden habe, dass es gar nicht anders kommen konnte - ich will nach vorn schauen und wissen, wo und wie es weitergehen kann, damit uns das hier nicht alles um die Ohren fliegt.
Es geht ja nicht nur um die vielen bestürzenden Entwicklungen der Gegenwart - es liegt auch in uns selbst erheblicher Zweifel, woher uns Rettung kommen soll.
Glauben mit angestrengtem Kopf, ist schwer.
Bilderreden, orientalische Vätergeschichten, exklusive Ich-bin-Worte sind schnell Futter für kritischen Pessimismus. Ich rechne nicht damit, dass uns ein Fisch schlucken wird, wenn wir uns davor drücken, direkt auf all die Probleme zuzugehen. Es wird nicht funktionieren, wenn ich mich wie Elia auf den Brocken stelle und die Ampel zum Gottesbeweis herausfordere: mal sehen, wer es Feuer regnen lassen kann. Die Gewissheit des Pharisäers aus dem Evangelium liegt mir fern. Ich weiß, dass ich weit davon entfernt bin, alles richtig zu machen. Aber die Demut des Zöllners - dieses sich-selbst-klein-machen - ist auch nicht meins.
So stehe ich irgendwo mittendrin und höre heute Paulus, der selbstbewusst und heilssicher bis zum Umfallen war und trotzdem demütig, der Unwürdigste von allen. Einen Versuch ist es wert, seine Briefe im Sinne einer geschwisterlichen Beratung zu lesen - wir kommen ja aus der gleichen - geistlichen - Heimat, sind verbunden durch einem Leib, zehren von derselben Hoffnung.
Vielleicht kann dieser große Streberbruder ja der sein, der Verwirrung und Zweifel sortiert, Klarheit schafft, Lebenshilfe - auch wenn er weder von außen kommt, noch unbeteiligt ist. Im Gegenteil, bei ihm sind Herzblut und Lebenswerk im Spiel.
Er schreibt und hält zunächst fest, was für ihn die Grundlage der Beratung ist:
„Wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird.“
Wir gehen also davon aus, dass wir Frieden, Hoffnung und Gerechtigkeit nicht ernten, weil wir so sehr geackert haben - „sondern durch den Glauben an Jesus Christus.“
Ja, das bekennen wir. Jesus Christus macht das Glauben denkbarer - er war ein Mensch mit historischen Lebensdaten und nachvollziehbaren Spuren. Er löste eine Bewegung aus, die wir immer noch wahrnehmen.
Wir haben Texte, die seinen Geist atmen.
Die theologischen Konstrukte glauben wir singend.
Die Ethik der Bergpredigt kann unsere Welt besser machen - das ist unstrittig.
Bis dahin kann man mitgehen.
Darum sind auch wir zum Glauben gekommen…
Hier wird es schwierig. Noch dazu, weil Paulus etwas tut, das immer eine Gratwanderung ist: er benutzt das vereinnahmende „wir“. Wir. Sind wir das? Deshalb zum Glauben gekommen? Oder ist das der Teil, den man lieber nicht in Frage stellt, wenn nicht das ganze Gebäude einbrechen soll? Den man nicht infrage stellt, weil es eben so ist. Teil meiner Identität. Ich bin in diesen Glauben hineingewachsen. Ich habe mich nicht dafür entschieden, weil ich gewusst hätte, dass kein Mensch „durch Werke des Gesetzes gerecht werden kann.“
Das ist es auch nicht, worum es mir alle Tage geht. Eher um Schutz und Segen, Gewissen, eine höhere Instanz. Ich glaube, dass es zwischen mir und Gott keine wirklich wichtige Instanz gibt - auch wenn ich die Wirkung menschlicher Entscheidungsträger*innen durchaus spüre. Aber sie definieren nur Umstände –
nicht mich.
Meint Paulus das?
Ich habe irgendwann gelernt, dieses „gerecht werden“ als „richtig angesehen und wahrgenommen werden, richtig sein“ zu lesen. Die Werke des Gesetzes blieben mir fremd. Ich glaube nicht, dass Gott mir zürnt, wenn ich es nicht schaffe, die Sonntage konsequent von Alltagsgeschäften freizuhalten - es ist eher andersrum: wenn es gelingt, ist es ein Geschenk. Aufatmen, Gnade.
Das mag eine Richtung sein; aber jetzt hebt Paulus an und überlegt: mache ich durch mein So-sein Jesus zu Sünder, sein Sterben sinnlos?
Ich weiß nicht, was Paulus mir damit sagen will.
Kann ich diese Verse beiseitelassen? Ist das auch Gnade?
Das Eis ist dünn. Rechtfertigung meint sicher nicht, mich selbst entschuldigen zu dürfen oder gar zu meinen, dies oder jenes nicht zu brauchen oder zu müssen, um Gott recht zu sein.
Ein Türspalt öffnet sich im Evangelium:
Der da hinten steht, der weiß, dass er nicht versteht und ich rücke allmählich in seine Nähe. Der hofft auf Lebenshilfe, einen Strohhalm, den er fassen kann, Ermutigung für den nächsten Tag. Dann ist da doch ein guter Platz, um zu hoffen, dass mein Scheitern an und in den Fragen der Gegenwart, dass mein kleinmütiger Glaube und die Vorbehalte, die durch meine Zweifel entstehen, nicht entscheidend dafür sind, wie Gott mich ansieht, was er durch mich wirken kann. Ich vertraue darauf, dass sein Ja zu mir verlässlich ist. Das macht mich nicht besser, nicht klarer, nicht erfolgreicher - aber es hilft durch Tag.
Noch einmal Paulus lesen?
Heute nicht. Die Sitzung ist zu Ende. Nun kann es in mir arbeiten und das tut es.
„Es“ ?

Als ich vor etlichen Monaten in erhebliche - auch geistliche - Not geraten war, habe ich Zuflucht bei den Benediktinerinnen in Köln gesucht. Nach einigen Tagen begannen die begleitenden Gespräche mit Schwester Veronika - einer körperlich gezeichneten eindrucksvollen Frau.
Ich legte meinen ganzen Problemberg auf ihren Tisch und sie sagte: der ist jetzt voll und gab mir eine Denkaufgabe: „Stell Dir vor, dass Gott unablässig an Dir arbeitet“. Dazu gab es drei Tage bis zum nächsten Termin, an denen ich nichts anderes zu tun hatte, als darüber nachzudenken. Ich bin eine gute Protestantin mit einem hohen Arbeitsethos und habe mich redlich zergrübelt.
„Das wird Gott tun, damit ich….“
So kam ich zurück. Schwester Veronika sah mich ernst lächelnd an: Habe ich gesagt: „Stell dir vor, dass Gott unablässig an Dir arbeitet, um zu…?“
Jetzt steh ich hier mit diesem Paulustext und ahne: er hat mit dieser Frage zu tun.
Gott arbeitet an uns und in uns und durch uns.
Halten wir das fest. Als Zwischenergebnis einer geschwisterlichen Beratung.

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  10. S. n. Trinitatis

10. S. n. Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 04.08.2024

Einer, von dem man kaum noch was hört und sieht, ist Rolf Mützenich. Er hat über „Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik“ promoviert und ist einer, der vor atomarer Hochrüstung warnt und Abschreckung für den falschen Weg hält - nicht neuerdings, sondern schon immer. Jetzt sieht er uns zurück ins 19. Jahrhundert marschieren, mithin in eine Welt der nationalen Interessen. Falsche Richtung…
Einer, der nicht mehr klar und deutlich benennt, was die Zumutungen sind, welche Wahrheiten auf den Tisch müssen - zu Beginn des Ukrainekrieges, während der Energiekrise und nach dem 7. Oktober hat er das noch gemacht - ist Robert Habeck. Kein Kommentar mehr.
Man kann nur mutmaßen, was er denkt, wohin wir unterwegs sind.
Ich vermute, die meisten von uns sorgen sich, dass es mit hohem Tempo in die falsche Richtung geht. Aber: „Ja, so laufen sie denn?“ fragte Loriot in Anlehnung an einen alten Sketch aus dem Jahr 1946.
Da stehen zwei Herren mit dem Fernglas an der Rennbahn. „Wo laufen sie denn? Mein Gott, bei mir ist alles dunkel, was ist denn das? … Mein Gott, wo laufen sie denn? Wo laufen sie denn?“
Und dann ist heute auch noch Israelsonntag.
So viel Gewalt, in dem Land der sieben Früchte: Öl, Wein, Feigen, Honig, Granatapfel, Weizen, Gerste. Dabei könnte dieser fruchtbare Streifen Land am Mittelmeer ein Paradies sein.
Wo laufen sie dort hin?
Die einen rennen vor Bomben, die andern rennen mit ihren blutenden Kindern im Arm zum Krankenhaus, die dritten rennen zur Lebensmittelausgabe und so Viele gehen in den Krieg.

Wo gehen wir hin???
Ja, wo laufen wir denn?
Gibt es einen gemeinsamen Weg in eine gute Richtung. Finden wir ihn?
Gottes Volk ist schon so lange unterwegs, aber es scheint immer nur im Kreis zu laufen: Adam und Eva mühten sich in einer Welt Schmerz, Schweiß und Staub. Noah trieb auf todbringendem Wasser. Abraham war in die Fremde gezogen. Mose kam zurück und doch nie an. Königreiche wurden gebaut und zerstört. Tempel auch. Fast alle tanzten ums goldene Kalb. Sie liebten und verrieten sich, erlebten Gedeihen und Scheitern, Krieg und Frieden.
Und Gott war da.
Und sah zu: Wo laufen sie denn? Wo laufen wir denn nur hin?

Manchmal suchte er sich einen aus, seinen Kommentar, seinen Rat, seine Wegweisung auszurichten. Heute ist es Sacharja.
Er war einer von denen, dessen Worte hell leuchten. Er redet vom Frieden unter den Toren und einem König, der auf einem Esel geritten käme, einem Gerechten, einem Helfer. Er ist ein Ermutiger, ein im Wortsinne Hellseher.
Ob man da ernster genommen wird als die, die Gruselszenarien an die Wand malen?
Oder hängt es an der wortwörtlichen Glaubwürdigkeit? Der Mützenich sollte die haben…
Wie findet er richtige Gehör?
Auch Sacharja sorgt sich darum. Deshalb ist es ihm ungeheuer wichtig, immer wieder zu betonen, dass es wirklich Gottes Wort ist, das er da weitergibt und dass Gott selbst auch weiß, dass als ungangbar und unrealistisch abtun werden, welche Wege er uns gleich weist. Denn:
„So spricht der HERR, selbst wenn das dem Rest dieses Volk - dem Rest der Meinigen? - unmöglich scheint, sollte es darum auch mir unmöglich scheinen?“
Diesem Gedanken bin ich – ehe ich mich mit Sacharja befasst habe - vor einigen Wochen bei Werner Krusche, seinerzeit Bischof der Magdeburger Kirche und Vorsitzender des Kirchenbundes der DDR – begegnet: er erinnerte an eine Formulierung aus der Friedensarbeit der DDR-Kirchen: „was noch nicht politikfähig ist, muss deshalb nicht politisch unvernünftig sein“. Es hängt auch Kleinglauben der Christenmenschen. Er schrieb: „Die Welt bleibt sich selbst zukunftslos überlassen, weil man die Möglichkeit der Einbrüche des Reiches Gottes in das Reich der politischen Macht nicht einmal in Erwägung zieht, sondern sich das Handeln Gottes auch nur im Rahmen des Möglichen vorstellen kann.“
So ist es, nicht nur mit Blick auf die Option der Gewaltlosigkeit sondern auch mit Blick auf Israel.
Dabei Gott sagt genau, wie es sein wird - und wieder bekräftigt Sacharja, dass all das nicht seiner überhitzten Fantasie entsprungen ist, sondern direkt von Gott kommt:
„Völker werden sich auf den Weg machen, Einwohner großer Städte werden kommen. Die einen werden zu den anderen sagen: Auf, lasst uns nach Jerusalem pilgern!“
Man stelle sich das vor! Wir würden Gottes Wegweisung vertrauen und aus allen Himmelsrichtungen losgehen, jetzt, nach Jerusalem, um Gott zu befragen und uns auch. Hingehen, Zuhören, Dazwischengeraten. Und davor, währenddessen, danach aufgeregte Kommunikation auf allen nur denkbaren Kanälen zwischen Moskau und Washington, Peking und Berlin, London und Delhi, Kapstadt und Istanbul. Mützenich, Erdogan und Harris gingen mit und wer weiß wer noch.
Man stelle sich vor, es hieße nicht: Seid ihr komplett verrückt geworden? Viel zu gefährlich. Bringt nichts. Da haben wir nichts zu suchen oder wenn, dann anderes. Sondern:
„Lasst uns den Herrn Zebaot aufsuchen. Auch wir wollen hingehen. So werden viele Nationen kommen und Menschen aus zahlreichen fremden Völkern. .. und den Herrn Zebaot in Jerusalem aufsuchen und gnädig stimmen.“
Man stelle sich das vor.
Und dann?
Sitzen wir hier und werden nachher nicht nach Jerusalem gehen, sondern nach Hause.
Aber wir könnten die sein, die da stehenbleiben, wo sie sind. Wir können einen Aufbruch wagen, Neues denken, Zumutungen aussprechen, Vertrauen wagen, klar ja oder nein sagen, ermutigen, die mutig sind.
Zumal: Es sind ja schon überall Menschen in Bewegung.
Apokalypse wäre, darin nur die Verlierer von geostrategischen Entscheidungen, Klimamwandel und Krieg zu sehen.
Prophetie stellt uns vor Entscheidungen.
Was wollen wir sehen?
Wollen wir glauben, dass Gotte Wege möglich sind – heute und jetzt.
Die zwei auf der Rennbahn haben es leicht. Die müssen nur ihr Fernglas umdrehen.
Wir müssten Gott vertrauen.

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  20. Juli

20. Juli

Cornelia Götz, Dompredigerin - 21.07.2024

Gestern jährte sich das Attentat auf Adolf Hitler.
Dietrich Bonhoeffer saß zu diesem Zeitpunkt schon über ein Jahr im Gefängnis.
Er war 38 Jahre alt – wäre seine Zeit eine andere, hätte er Maria von Wedemeier geheiratet und eine Familie gegründet, Klavier und Tennis gespielt, getanzt, wäre wohl der Mittelpunkt eines großen Freundeskreises gewesen, vielleicht Professor geworden. Es hätte ein sehr gediegenes Lebe sein können.
Aber so war es für ihn nicht gedacht. Er würde nicht vierzig werden und mit seiner Braut nicht einen Moment allein sein. Er würde seinen Eltern, Geschwistern und Freunden Schmerzen bereiten, er würde sich durch Zweifel bohren müssen und seinen Glauben radikal hinterfragen.
Bonhoeffer war kein Heiliger, sondern ein Mensch.
Auf der Rückseite eines Zettels mit der Inhaltliste eines Lebensmittelpaketes, zu Beginn der Haft sein einziges Schreibmaterial, hat er Stichworte hinterlassen:
„Trennung von Menschen, von der Arbeit, von der Vergangenheit, von der Zukunft, von der Ehe, von Gott – Ungeduld – Sehnsucht – Langeweile – krank – tief einsam – Selbstmord, nicht aus Schuldbewusstsein, sondern weil ich im Grunde schon tot bin – Schlussstrich – Überwindung im Gebet.“
Das Diesseits setzte ihm zu, bedrängte ihn, erfuhr er als gottlos.
Selbstmord schien ihm ein letzter Akt der Freiheit zu sein. Erlaubt.
Er brauchte alle seine Kraft, um durchzuhalten.
So kann man nur ahnen, wieviel Hoffnung er auf das Attentat, das er ja selbst mitvorbereitet hatte, gesetzt haben muss.
Zwei Tage davor – am 18. Juli 1944 - schreibt Dietrich Bonhoeffer an seinen Freund Eberhard Bethge wohl wissend, dass seine Briefe mitgelesen werden, davon, dass das Mitleiden mit Jesus Christus, das Mitwarten und Mitbangen im Garten Gethsemane, die geteilte Ohnmacht unterm Kreuz, eigentlich genau das Gegenteil dessen ist, was ein religiöser Mensch von Gott erhofft: das Ende von Leid und Geschrei, von Schmerz und Tränen.
Nun - rund um den Moment, von dem auch er sich die Wende für sein Leben erhofft - kristallisiert sich für Dietrich Bonhoeffer heraus, dass es nicht darum geht, sich selbst durch religiöse Methoden zu vervollkommnen, eben ein Heiliger zu werden, sondern das glauben lernt, wer sich als Mensch begreift, ganz hier ist und deshalb mitleidet an der Welt.
Das erlebt er.
Er teilt Ohnmacht und Einsamkeit während er in der Zelle sitzt und nichts tun kann.
Er wünschte, der Kelch des Scheiterns würde an ihm vorübergehen.
Er hofft sehnlichst darauf, dass das Böse überwunden wird.
Und er glaubt zu verstehen: „Jesus Christus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben …Wenn man von Gott nicht-religiös sprechen will, dann muss man so von ihm sprechen, dass die Gottlosigkeit der Welt dadurch nicht irgendwie verdeckt, sondern vielmehr gerade aufgedeckt wird und gerade so ein überraschendes Licht auf die Welt fällt.“
Glücklicherweise bittet Bonhoeffer ein paar Zeilen selber um Entschuldigung, weil er sich so schwer verdaulich und kompliziert ausdrückt.
Ich kann entziffern:
So wie die Welt gerade ist, will Gott sie nicht. Er will etwas anderes für uns.
Da ist ein Riss in allen Dingen und Licht scheint hindurch –
durch Gefängnismauern,
durch Hoffnungslosigkeit,
durch Krieg und Bombennächte.
Ein überraschendes Licht – denn es kommt irgendwie auch durch uns in die Welt. Wir sollen ja leben, wir sollen Menschen sein, solche wie Gott sie schuf – nicht wie die Welt sie deformiert.
Es wird nicht einfacher – aber es klingt wie der Text aus dem Epheserbrief, der zu diesem Sonntag heute gehört, den Dietrich Bonhoeffer kannte:
„Wandelt als Kinder des Lichts“ – die müsst ihr nicht werden. Die seid ihr schon – in und trotz allem. Ihr werdet erleben:
„Der Ertrag ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.“
Indikativ. Der Ertrag „ist“ - nicht „wird sein“ oder „könnte sein“.
Der Ertrag, das Ergebnis, die Frucht ist Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit.
Das können wir sicher wissen, denn das Licht, dessen Kinder wir sind, ist das Licht des ersten Schöpfungstages, das Licht von Bethlehem und das des Ostermorgens. Es leuchtet in uns und durch uns. Darum
„Prüft, bei allem, was ihr tut, ob es Gott gefällt. Beteiligt euch nicht an Taten, die aus der Finsternis stammen und fruchtlos sind; deckt sie vielmehr auf.“
Prüft, wählt das Gute, nehmt euch in acht vor den Schrecken dieser Zeit – heißt es in einem modernen Kirchenlied. Es bleibt die Freiheit, Gut und Böse zu unterscheiden. Es gibt Klarheit, darüber, was unfruchtbar ist.
Wir sollen und können das Licht leuchten lassen, nicht das Dunkle größer machen, indem wir davon reden. Lasst uns glauben lernen, dass „alles, was aufgedeckt“ – also erhellt „wird, vom Licht erleuchtet wird und wiederum alles, was vom Licht erleuchtet wird, selbst Licht wird.“
Kurz vor dem Attentat scheint das greifbar nahe. Sie haben das doch versucht, sich geprüft und gefragt, was Gott will und sind bereit, ihr Leben dafür zu geben, damit das Sterben und Morden endlich aufhört. Die Hoffnung wird groß.
Aber der Glaube, von dem Bonhoeffer spricht, ist keine Methode, mit der wir eine Rechnung aufmachen können.
Das Attentat scheitert.
Warum??? Weil Gott das nicht wollte? So oder überhaupt? Weil wir nicht töten sollen? Weil…?
Solches Fragen und Bohren führt in Abgründe, macht die Finsternis größer.
Prüft genau, ob das was ihr tut, Gott gefällt.
Bonhoeffer scheint das zu schaffen.
Am Tag danach, nach dem Scheitern, nach den Hinrichtungen, heute vor achtzig Jahren, schreibt er, dass er sich nicht nur an den Losungen freut: am 20 Juli hieß die aus dem 20. Psalm: „Jene verlassen sich auf Wagen und Ross, wir aber denken an den Namen des Herrn, unseres Gottes“ und am Tag darauf aus dem 23. Psalm: „Der Herr ist ein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Er erinnerte sich auch an ein Gespräch mit einem französieren Pfarrer, Jean Lasserre, in Amerika - da war er in den 20ern - und die Frage „Was wollen wir eigentlich mit unserem Leben?“
Bonhoeffer wollte glauben lernen.
13 Jahre später, nach dem 20. Juli wusste er: Man lernt glauben in „der vollen Diesseitigkeit des Lebens“.
Er, Dietrich Bonhoeffer, war noch da. Im Gefängnis und nun gefährdeter denn je.
Aber Angeschienen von Licht. Für andere leuchtend.
Und dann dichtet er:
„Wunderbare Verwandlung. Die starken tätigen Hände sind dir gebunden. Ohnmächtig einsam siehst du das Ende deiner Tat. Doch atmest du auf…“

Heute, 80 Jahre später, sind Dietrich Bonhoeffers Briefe und Gedichte ein Beispiel für das, was durch Menschen offenbar werden kann, licht und hell, mitten in unserer Welt – aufgedeckt, deutlich.
Wir leben in den Finsternissen unserer Zeit.
Glauben zu lernen, hat etwas damit zu tun, uns in dieser Welt zu begreifen.
Als Menschen, die angefasst sind, ratlos, gefährdet und zugleich Kinder des Lichts sein dürfen, die Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit ernten.
Da ist ein Riss in allen Dingen, in allen Geschichten, in allem Scheitern, in aller Angst.
Licht leuchtet hindurch. Es kommt – auch - von uns.
Unglaublich glaube ich.

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  Beim Namen nennen

Beim Namen nennen

Cornelia Götz, Dompredigerin - 16.06.2024

Da sind wir und sitzen mit unseren mehr oder weniger geradlinigen Lebensgeschichten neben der Schreibwerkstatt der Aktion „Beim Namen nennen“ und werden wieder einmal nicht damit fertig werden.
Nicht mit dem Schreiben, nicht mit dem Lesen, schon gar nicht mit dem Begreifen.
Eine Generation umfasst die Liste inzwischen - seit 1993 finden sich Namen und Todesumstände derer, die auf dem Weg nach Europa verloren gegangen sind. Über 60 000 sind es inzwischen - und das sind nur die, von denen wir es genau wissen.
Verlorene Väter und Mütter, Töchter.
Verlorene Söhne.
Es ist eine alte Geschichte.
Weltbekannt. Eine Variante erzählt Lukas.
Sehr kurz zusammengefasst geht sie so:
Wenn es nicht einen Sohn gibt sondern zwei, dann gibt es Kain und Abel, Jakob und Esau und nur ganz selten Max und Moritz. Die Kleinen sind die Benjamins und Josefs oder eben Abel und Jakob - auf denen scheint das Auge freundlicher zu ruhen; egal ob sie es verdient haben.
Darum bewirkt die Geschwisterkonstellation unterschiedliche Rollen in der Familie, erleben sich nah Verwandte als sehr verschiedene Menschen.
Es gibt Söhne, die arbeiten verlässlich und ohne Aufhebens auf dem Feld der Familie. Für das tägliche Brot ist gesorgt. Es gibt Sonne und Wind, Trockenheit und Regen. Alles hat seine Zeit. Sie bleiben und glauben an die Ordnung der Dinge. Sie werden dort geboren wo sie sterben. Ihr Leben währt wenn es gut geht siebzig oder achtzig Jahre.
Und es gibt Söhne, die gehen fort, versuchen das Leben anderswo, haben Erfolg oder scheitern, können wurzeln oder haben Heimweh, kommen zurück oder sterben in der Fremde.
Und dann gibt es noch Väter, die bangen um beide und wissen manchmal nicht, warum der eine so und der andere so geworden ist und wissen es doch und tragen an diesem Wissen schweigend und hoffen, dass ihre Kinder leben, sich vertragen und nicht verloren gehen.
Es ist eine alte Geschichte und immer wieder neu.
Jede Variante hat zahllose Leerstellen - auch die des Lukas:
„Ein Mensch hatte zwei Söhne…“
Das gleich vorweg: Frauen kommen in dieser Version nicht vor. Keine Mütter und keine Töchter, keine Ehefrauen, keine Liebste. Es wäre eine andere Geschichte.
„Der Jüngere von ihnen sprach zum Vater: Gib mir das Erbteil, das mir zusteht. Und der Vater teilte Hab und Gut unter sie.“
Es gibt kein Warum.
Kein einziges Fragezeichen zwischen dem Vater und diesem Sohn.
Also fragen wir:
Was treibt ihn?
Ist es die Erkenntnis, dass für ihn kein Platz ist - die Stelle dessen, der Haus und Hof besorgt, ist schon besetzt. Ist es die Einsicht, dass dieser Hof ihn nicht auch noch ernähren wird? Ist es die Angst nicht genügen zu können, nicht hineinzupassen in ds alte Bild. Oder ist es Neugier, Lebenslust, Übermut, Sehnsucht - die Freiheit des Jüngeren, der nicht festgelegt ist von Familientraditionen.
Lukas nennt keinen Grund. Jeder ist möglich.
Manche mögen auch für die gelten, an die hier jetzt nur ein Stoffstreifen erinnert.
Bei Lukas ist es so:
Der erste übernimmt den Hof und wünscht sich, es hätte ihn einer gefragt, ob er das will oder kann. Der zweite stellt seine Füße auf weiten Raum.
Kein Warum. So ist es.
Du bist in deine Haut geboren. Welche Farbe sie hat, ob sie heil ist oder wund, von Sonne gegerbt oder von Kälte angegriffen, ob sie Taufwasser spürt oder nicht –
du wirst nicht gefragt.
Der Vater weiß das und zögert nicht. Er war selbst ein Sohn.
Er gibt dem Sohn, worum er bittet.
Der erbittet nichts, was die anderen ruinieren würde. Der griechische Text unterscheidet fein: Es geht nicht um „oußia“ die Existenz, es geht um „bios“, das was man zum Leben braucht. Es geht nicht um gleiche Teile. Der Ältere erbt den Hof und die Pflicht, die Fürsorge für die Alten. Der Jüngere, was er zum Leben braucht.
Ob der Jüngere viel bekommt?
Wir wissen es nicht. Lukas lässt auch das offen.
Vielleicht birgt das Erbe eine große Chance. Vielleicht ist es nur eine Überlebensration. Vielleicht sieht es nach mehr aus als es ist. Nicht jeder Acker ist fruchtbar, nicht jede Währung wertvoll. Das Erbe kann die Welt öffnen oder alles verstellen.
Der Vater weiß es. So oder so ist das Leben.
„Und nicht lange danach….“ schreibt Lukas weiter.
„Gib mir noch eine kleine Weile Zeit, ich will die Dinge so wie keiner lieben“ - dichtet Rainer Maria Rilke.
Der Jüngere bricht nicht sofort auf. Er ist nicht reisefertig. Will er überhaupt weg?
Was passiert in dieser kleinen Weile?
Versucht er zu verarbeiten, dass niemand gefragt hat, warum?
Versucht er, ein anderes eigenes Leben zu entwerfen?
Wartet er auf ein Wort? Tut es weh?
Auch hier fragt niemand: was hast Du vor?
All das Schweigen lässt erahnen wie unerzählt diese Geschichten sind.
Was wissen wir schon…
Warum sind sie losgezogen, die verlorenen Söhne?
Wollen wir es verstehen?
Zunächst wird uns, die wir allermeist brav auf unserer Scholle arbeiten und bleiben, wohin das Leben uns gestellt hat, das Urteil leicht gemacht: Der Jüngere kann mit dem Geld nicht umgehen. Es gelingt ihm nicht, davon zu leben. Er verschleudert es und scheitert.
Tja. Wärst Du mal zuhause geblieben, sagt die wohlfeile Hartherzigkeit.
Dabei kommt der eigentliche Genickbruch unverschuldet, von außen, durch eine Hungersnot. Immer wieder ist es der Hunger. Josefs Brüder trieb er und die vielen, die Jesus hinterliefen auch. Hunger kennen alle. Viele auf den Streifen dort auch.
Diesen hier bringt der Hunger nicht nur in existentielle Gefahr, sondern - er ist ja in der Fremde - in eine zutiefst demütigende Situation.
Jetzt verliert er sich ganz. Mit Schweinen und an deren Trog, kann er als Jude nicht tiefer sinken. So dreht er um. Die letzte Kraft gilt einem neuen Anfang.
Er will sich nicht rechtfertigen. Vielmehr ist er voller Schuldgefühle, was er anderen zugemutet hat. Er hofft auf ein Zuhause.
Er will nicht als Sohn heimkommen.
Er weiß, dass er kein Bruder mehr ist.
Aber ein Mensch.
Der Vater sieht ihn kommen. Und lässt alles stehen und liegen.
Er rennt ihm entgegnen.
Er will nichts hören.
Es zählt nur eins:
Er lebt.
Du lebst!
Mein Kind hat überlebt.
Alles andere ist egal.

Der Vater würde jeden seiner Söhne so willkommen heißen. Und er würde jeden gleich betrauern. Die Soziologin Judith Butler nennt diese gleiche Betrauerbarkeit der Nahen und Fernen den Kern der Gewaltlosigkeit. Nur dann - wenn wir sie alle gleichermaßen betrauern.- ist uns nicht egal, ob irgendwo irgendwer stirbt, nur dann liegt uns die Verteidigung der Eigenen nicht näher am Herzen als die der Kinder anderer. Ist das naiv?
Lukas ist es jedenfalls nicht. Denn:
Es jammert den Vater. Das ist das biblische Wort für Barmherzigkeit.
Darum ist alles andere unwichtig. Nur eines nicht:
Er lebt.
Gott sei Dank.

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  Trinitatis

Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 26.05.2024

Da kommt einer, Nikodemus, in der Nacht zu Jesus.
Aus irgendeinem Grund will er dabei nicht gesehen werden.
Vielleicht ist es ihm peinlich, dass andere bemerken, dass er diesem tatsächlich zutraut, der eine zu sein.
Vielleicht hat er sich nicht getraut, Zeit, die Menschen mit wirklichen Gebrechen von Jesus Christus brauchen - damit sie endlich wieder sehen oder gehen können, den schrecklichen Hunger loswerden - für sein verqueres Zweifeln in Anspruch zu nehmen.
Vielleicht braucht er die Nacht, um konzentriert denken zu können und nicht abgelenkt zu werden von all den Glücksversprechen, Ratgebern und Sinnverneblern um sich herum.
Vielleicht hat er auch die x-te Nacht nicht schlafen können, weil ihn um den Verstand bringt was um ihn herum passiert, dass das doch alles nicht gut gehen kann und weil er trotz aller Anstrengung, die er in sein Denken und Tun investiert hat, einfach nicht sieht,
dass das, was er versucht, greift und nützt, tröstet und leben hilft,
dass sich etwas ändert,
dass er dem Rad in die Speichen fallen kann.
Er hat es sich nicht leicht gemacht und Anstrengung nicht gescheut. Als Pharisäer hat er die Schriften gelesen und gelernt, er hat die vielen kleinen und großen Regeln, so mühsam und befremdlich für andere sie auch sein mögen, eingehalten, er hat Gott nicht passend und alltagstauglich gemacht, sondern ihm die Ehre gegeben.
Heilig, heilig, heilig.
Und trotzdem nagt es an ihm.
Ist da ein Gott?
Und richtet er sein Leben auf die richtige Sache aus?
Haben die vielen recht, die längst ohne Gott auskommen können oder für jeden Teilbereich des Lebens einen anderen Garanten gefunden haben?
Ist er womöglich einfach nur feige, wenn er sich vor dem „da ist nichts“ fürchtet?
Ist er allein mit diesem: Heilig, heilig, heilig?
Und jetzt kommt dieser junge Mensch, tut Zeichen und Wunder, stellt alles infrage, nimmt alles in Anspruch: Das strenge Regelwerk ist es gar nicht, was Gott von uns möchte. Es ist nur ein Geländer für ein gottesfürchtiges Leben. Welche Wege Gott eigentlich meint, kann man an ihm, an Jesus, sehen - so hört er.
An einem, der ohne alles kommt und geht.
Und Menschen derart in Bewegung bringt, dass sie alles für ihn stehen und liegen lassen.
Er, Nikodemus, konnte sie mit Mühe überzeugen, am Sabbat wenigstens ruhig zu halten und Gottes Namen nicht wie ein Modewort im Mund zu führen. Aber taten sie das, weil sie glaubten, dass es etwas auf sich hat mit diesem dreifachen:
Heilig, heilig, heilig?
Nikodemus quält sich. Er versteht ja: ein junger Revolutionär, der auf das pfeift, was die Alten vorleben, ist immer anziehend: Brot und Rosen, Blumen und Liebe, lange Haare und Sandalen, was kostet die Welt?
Aber das ist es nicht allein.
Mit diesem verändert sich wirklich etwas:
• In seiner Nähe geht es Menschen wirklich besser.
• Er hält all die Dämonen und Besessenheiten, die uns entfremden und verführen, in Schach.
• Er versucht gar nicht erst neutral zu sein, sondern erklärt ein Programm mit eindeutigen Optionen: Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit, Barmherzigkeit.
Irdische Maßeinheiten für Erfolg – Besitz, Leistung, Macht – kommen bei ihm nicht vor.
Nikodemus schmeißt sich im Bett hin und her, dann steht er auf, zieht sich an, geht raus und sucht ihn und fragt:
„Warum kannst Du das? Warum funktioniert das? Was ist es? Es sieht so aus als ob alles, was ich so sehr von Gott erhoffe und erbitte, alles, was ich versucht und erhofft habe, erst mit Dir und auf deine Weise funktionieren kann. Ist Gott auf deiner Seite? Ist er mit Dir? Warum? Was machst Du anders? Ich kann es nicht begreifen.“
Eigentlich wollte er fragen: „Bist du es?“ - aber das traut er sich nicht mal zu denken. Der Gott, den er glaubt, dem durfte man nicht ins Gesicht sehen.
Und doch, noch während er spricht, ist auch für ihn ein Wunder schon passiert:
Nikodemus hat IHN, er hat Gott, angetroffen.
Er ist nicht ziellos durch die Nacht gestolpert.
Gott hat sich - so wie er es versprochen hat, von einem, der ihn mit ganzem Herzen sucht, finden lassen.
Hat er das gemerkt?

Wir kennen nur Jesu Antworten auf seine Fragen. Die sind ungeheuer sperrig:
„Ich sage dir, nur wenn jemand neu geboren wird, aus Wasser und Geist, kann er das Reich Gottes sehen... Der Wind bläst wo er will … aber niemand kommt in den Himmel, der nicht von dort herkommt “
Und dann kommt noch etwas von Gottes Sohn, der hingegeben wird.
Wie geht das Gespräch aus? Johannes erzählt es nicht.
Geht Nikodemus ermutigt oder verstört nach Hause? Wird er verstehen?
Jedenfalls wird er Myrrhe und Aloe für die Salbung des Leichnams bringen.
Sein Name heißt übersetzt: „Sieger aus dem Volk“.
Irgendwie, irgendwas, hat er gewonnen.

Ein anderer - nach ihm - wird versuchen, Worte zu finden.
Auch er hat sich weidlich gequält: Paulus.
Er kennt diese Geschichte von Nikodemus. Er hat das alles auch durch. Er hat die Schriften studiert und sich nichts erspart, er hat die Gesetze strengstens eingehalten und mit aller Kraft, ja auch mit Gewalt, versucht, die Verrückten, die sich auf diesen einen berufen, zum rechten Glauben zurückzuholen.
Und dann hat „es“ ihn von den Füßen gerissen.
Er hat solches Neugeborenwerden erlebt.
Er bekam einen neuen Namen und öffnete die Augen noch einmal für den ersten Blick.
Er ahnt jetzt, was Jesus dem Nikodemus sagen will und auch, was die Kreuzigung und das leere Grab, das seltsame Erlebnis der Verständigung durch einen Sturm, einen Geist bedeuten - er spürt, wie es zusammenhängt, drei in einem, heilig, heilig, heilig und auch, dass dieses Reich, von dem Jesus Christus redete eine andere aber reale Wirklichkeit ist.
Jetzt er rennt er über Stock und Stein, bis nach Europa.
Er macht sich Feinde. Egal.
Er redet und schreibt und redet und schreibt.
Das einzige, was er unbedingt will, ist, dass alle davon hören und begreifen.
Aber was? Und wie soll er es sagen?
Und dann haut er einen wahnsinnigen Satz raus, vierzehn Verse lang und da kommt alles drin vor:
“Loben, erwählen, haben, wissen, hoffen, vorherbestimmen, versiegeln, verheißen, widerfahren , Klugheit, Reichtum, Wahrheit, Gnade, Geheimnis, Grund, Liebe, Herrlichkeit, Kinder, Erde, Zeit, Vergebung, Weisheit, Segen“
Und das ist längst nicht alles, was er in diesen einen Satz packt - den ersten des Epheserbriefes. Ich lese ihn jetzt nicht vor. Es ist eine Quälerei und außerdem hat er die Würde vergessen.
Aber er meint wohl das, was wir heute feiern: heilig heilig heilig.
Gott über uns und in uns und durch uns.
Amen


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  Ostern

Ostern

Cornelia Götz, Dompredigerin - 31.03.2024

Ostern
Unbeschreiblich
Unbegreiflich
So wunderbar, dass es unsere Vorstellungskraft sprengt und dafür eigentlich – nein, nicht eigentlich, sondern überhaupt – keine Worte gibt.
Es braucht Lieder, Gedichte und Bilder, die unbekannte Räume eröffnen und über das hinausweisen, was wir formulieren können.
Es braucht - mit Christian Lehnert, dem Dichter und Theologen - die Einsicht, dass Glauben nicht immer auf Lebensfragen antwortet, sondern manchmal noch viel größere aufwirft.
Dann wird aus dem Fragen Sehnsucht und aus dem Hoffen das Suchen von Spuren, die auf einen größeren Horizont verweisen:
Spuren von Licht und Leben, von Wundern.
Von denen gibt es viele.
Viele von denen, vielleicht sogar alle, die bis Gründonnerstag oder bis unters Kreuz am Karfreitag mitgegangen sind, haben solche Wunder erlebt – in ihrem wirklichen Leben – durch Jesu Nähe.
Sie sind gesund geworden und satt, sie haben Mistreiter*innen gefunden, Trost und Sinn, Liebe!
Sie haben gemerkt, auf mich kommt es an, ich bin gemeint.
Sie sind mit ihm durch weites Land gelaufen, haben zugehört und zugesehen:
Wie ein Sturm gestillt wurde und der stinkende Lazarus aus dem Grab kam, wie zwei Brote und fünf Fische für unzählige Menschen reichten und alle satt wurden und auch, dass man mit denen in Frieden zusammenleben kann, die man eigentlich nicht gern dabei hat.
Sie haben endlich begriffen, dass Gesetze nicht eingehalten werden müssen wegen der Gesetze, sondern wegen der Einübung in ein menschenfreundliches und gottesfürchtiges Leben.
Sie waren nicht reicher geworden.
Sie lebten nicht sicherer.
Aber sie waren frei.
Sie hoben die Köpfe und es öffnete sich ein neuer Blick, weitete sich der Horizont.
Das Reich Gotte schimmerte auf und leuchtete aus all diesen - kleinen, mittleren und ziemlich großen Wundern.
Von denen die Evangelien zwar erzählen - die aber später, als man Glaubensbekenntnisse formulierte und alles in Ostern gipfelt, nicht mehr der Rede wert waren.
So ist es eben in Jesu Nähe.
So kann es jedenfalls sein.
Man kann davon erzählen und staunen und feiern.
Geheilte Gebrechen, gestillter Hunger, befriedeter Sturm: all das ist diesseits fassbar.
Das kommt schon manchmal vor.
Aber Ostern? Auferstehung von Toten?
Das nicht.
Das ist mehr!
Heller, schöner, unbegreiflicher!
Ostern ist das Wunder des Lebens, größer als alles, was unter uns an Wundern geschieht.
Ostern trägt Gottes Handschrift.
Nur seine.
Gibt es einen Adapter für unseren Verstand?
Irgendwas um anzuknüpfen an diese Erfahrung, damit die Hoffnung groß wird unter uns, damit wir uns vom Glauben überrumpeln lassen können. Ganz arglos. Glücklich.
Der Verstand versucht es im Morgennebel.
So erzählen es die biblischen Geschichten und so beschreibt es Fulbert Steffensky, der sich mit seinen 90 Jahren eigentlich keinen Essay über Ostern mehr zutraute: Im Morgennebel begegnet ein Gärtner, da erscheint ein fremder Wanderer zum Geleit.
Der Glaube muss sich entscheiden, ob das Bild geschärft werden soll.
Das Herz tut es, weil es Hoffnung braucht.
Und schon sind wir wieder gefährdet, das Unglaubliche auf ein erklärbares Maß zu reduzieren.
Erinnerung:
Brannte nicht unser Herz?
Erinnerung?
Vielleicht liegen die Adapter ja in den immer unglaublicheren Geschichten selbst: wir erzählen sie einander und hören sie und dehnen unsere Vorstellungskraft - durch Glaube, Liebe, Hoffnung.
Erst: gesunde Beine und ein gestillter Sturm.
Dann: ein Kind, ein vollkommenes Wunder.
Hannah, die Unfruchtbare, bekommt es nach vielen Jahren voller Tränen und Appetitlosigkeit, voller Trauer und Selbstzweifel. Der Morgennebel hebt sich, schon wird das Licht klarer und heller. Freude perlt und- Sie haben es vorhin - „Hanna betete: Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn. Mein Mund hat sich weit aufgetan, … denn ich freue mich deines Heils. Es ist niemand heilig wie der Herr, außer dir ist keiner und ist kein Fels, wie unser Gott ist!“
Hanna betet und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das spricht.
Ich denke, sie singt.
„Fröhlich soll mein Herze springen und wir wollen alle fröhlich sein, denn in dir ist Freude“ und „mit Freuen zart“- ja zart auch.
Voller Freude über dieses Wunder.
Ein Geschenk des Lebens.
Aber auch von Hannas Kind steht nichts im Glaubensbekenntnis - obwohl dieses Kind ganz sicher ein Gottesgeschenk war, ein Wunder, mit dem kein Mensch rechnen, das keiner erzwingen kann.
So ist es eben, wenn Gott unsere Gebete hört.
So kann es ein.
Auch das muss man nicht mit mühsam gefunden Worten, schwierigen theologischen Formeln bekennen. Das kann man wirklich erleben.
Und Gott wirkt immer größere Wunder.
Maria begegnet einem Engel und wird schwanger aus lichtem Himmel. Was? Ich?
Das hat den Weg ins Glaubensbekenntnis geschafft – da hat unser Verstand seine Grenze erreicht.
Jetzt kriegt der Glaube etwas zu tun.
Jetzt wird auch die Nacht langsam hell.
Freude über Freude. Alle Engel singen mit!
Wird jetzt alles gut?
Ja und nein. Alles durcheinander.
Jesus, Gott selbst, wird von Menschen ans Kreuz geschlagen.
Das kann man nicht begreifen.
Darüber muss man sich wundern bis man ganz wund ist oder reif für das letzte große Staunen - am Ostermorgen als sich alle Nebel gehoben haben und die Sonne ins leere Grab scheint.
Da kommen sie uns doch über die Lippen, Worte aus der Tiefe, aus der Höhe, aus dem Gestern, aus dem Morgen - noch einmal mit Fulbert Steffensky:
„Christus lebt und wir mit ihm. Weiß Gott, was wir da sagen! Gott weiß es, und das genügt.“
Und wir?
Wir haben leichtfüßig eine Grenze passiert und alle Zweifel hinter uns gelassen.
Christ erstanden! Halleluja.

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  Sexagesimae

Sexagesimae

Cornelia Götz, Dompredigerin - 04.02.2024

Da geht einer und wirft in weiten Schwüngen Samen auf das Land.
Auf Bildern kann man das sehen, bei Van Gogh oder Millet.
Es sind große Schritte, die die Sämänner da machen. Ausgreifend. Sicher.
Wer so geht, hat Grund dazu, der hofft etwas.
Denn er hat den kostbaren Samen in der Bauchtasche und fruchtbaren Boden unter den Füßen.
Händeweise wirf er die Körner und mit ihnen Hoffnung:
auf ein grünes Feld, auf wogende Halme und goldgelbe Ähren, auf die Ernte zur rechten Zeit.
Es ist keine ungefähre Hoffnung.
Es ist kein „irgendwas geht immer“.
Es ist eine sehr konkrete Hoffnung.
Aus einem Korn kann ein Halm mit zwei oder drei Ähren wachsen. Dann hätte man, wenn das Korn aufgeht und alles passt zu seiner Zeit 120 Körner, wenn es ein besonders gutes Jahr wird sogar 150. Und dann je nachdem, wie groß die Körner geworden sind, wie gut die Ernte letztlich war, braucht man - so habe ich gelernt - 18 000 Körner für einen 1kg-Laib-Brot.
Das kann man hoffen.
Davon kann man leben.
Die Bäume müssen nicht in den Himmel wachsen.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Denn der da sät ist ja nur ein Mensch.
Sie haben das Gleichnis vorhin gehört.
Jesus erzählt es einer Gruppe, die übergeblieben ist von einer riesigen Zuhörerschaft. Die anderen, die vielen haben sich zerstreut.
Jetzt sind noch die da, die es genauer hören wollen, die Zweifel haben und bohren, die dem Sinn dieser Bildergeschichten nicht trauen wollen oder können.
Denen - den unruhigen - erzählt er weiter:
Vom Licht, das auf einen Leuchter gestellt werden muss, damit es den Raum heller macht und die Dunkelheit ausleuchtet - und also von der Wahrheit.
Denen erzählt er vom rechten Maß, das ihnen gilt und zukommt, was sie anderen zumuten oder ermöglichen, also von der Gerechtigkeit.
Und zuletzt - jetzt - von der Hoffnung.
Denn wer sich die Wahrheit zumutet, Gerechtigkeit ersehnt, braucht ganz dringend Hoffnung.
Er erzählt deshalb von der Hoffnung auf sein Reich, auf eine Wirklichkeit voller Gerechtigkeit und Wahrheit.
Diese Wirklichkeit ist schon da, jetzt, in diesem Moment, in dem er spricht und die Menschen um ihn herum hören.
Sie ist noch nicht ganz da. Das muss ich nicht ausmalen. Aber an ihm, an Jesus, kann man sehen, wie es werden wird: Menschen werden heil werden, ihre Plagen, Sorgen und Gebrechen verschwinden, Menschen werden endlich keinen Hunger mehr leiden, die Güter werden gerecht verteilt sein. Es wird Frieden sein. Auch zwischen denen, die für sich ausgeschlossen haben, gemeinsam zu essen.
Es ist ganz konkret.
Man kann schließen von dem, was jetzt um ihn und durch ihn passiert, auf das, was sein wird.
Vom Samenkorn, auf die Ähre, auf das Brot.
Als Van Gogh seinen Sämann in Arles malte, hoffte er auch sehr konkret: dass die Zusammenarbeit mit Paul Gauguin Frucht bringen würde und endlich auch sichtbaren Erfolg in den Händen, damit er seinem Bruder Theo Schulden zurückzahlen kann.
Auch wir haben Samen in der Hand, Körner, aus denen etwas werden kann: Ideen, Begabung, Mut und dazu ein paar Ressourcen.
Also geh und wirf deinen Samen aufs Feld, schwungvoll, das Land ist hell und weit, trau der Zukunft etwas zu!
Es gibt Grund zur Hoffnung.
Und dann?
Dann geht der Sämann nach Hause. Wie die vielen vorhin nach der ersten Rede auch, denn Gottes Zukunft und Hoffnung gilt allen - nicht nur den unruhigen Strebern.
Er geht nach Hause und - Sie haben es vorhin gehört-: „schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie.“
So geht es weiter - im Rhythmus des Lebens.
„Es wird Abend und Morgen, ein neuer Tag“ - wie an allem Anfang. Da blättert Gott den Rhythmus einer ganzen Woche vor unseren Augen und Ohren und Herzen auf und überrascht an jedem Tag mit einer Neuschöpfung. Immer kommt über Nacht etwas Neues, Wunderbares dazu, was vorher noch nicht da war.
An jedem Tag, den Gott werden lässt, erfüllt sich etwas von seiner Zukunft für uns.
Es passiert.
Man weiß nicht wie.
Wir wissen nicht wie.
Gott weiß es.
Und wir?
Wir haben Pause.
Denn das Gleichnis erzählt nichts vom Unkraut jäten, vom Hacken und Gießen, von Schädlingsbekämpfung, vom sorgenvollen Blick auf das Wetter und zum Horizont, von unermüdlicher Tätigkeit und Unentbehrlichkeit.
Der Sämann hat Pause.
Nichts zu tun. Leerlauf.
Depression. Müdigkeit, nicht gebraucht und zu nichts nütze?
Mitnichten!
Denn die Pause ist, das weiß jede und jeder, der Musik macht oder hört, von elementarer Bedeutung.
Da gilt es, nicht dazwischen zu singen oder zu geigen - nie hört man den Fehler mehr!
Da gilt es, tunlichst nicht aufzustehen, sich zu verbeugen, feiern zu lassen. Nichts wäre lächerlicher.
Da gilt es, aufzupassen.
Gewärtig zu sein.
Gleich!!!
Gleich.
Das ist unser Ort im Kirchenjahr. Zwischen Weihnachtszeit und Osterfestkreis.
Das ist der sogenannte „Sitz im Leben“ dieser Geschichte.
Ein paar Tage dazwischen.
Pause.
Zeit, in der das Korn aufgeht.
Grünes Parament, grüne Stola - mit Ähren und Trauben drauf - Gottesdienst mit Abendmahl. Wegzehrung - während es Abend und Morgen wird.

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  Letzter Sonntag nach Epiphanias

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Cornelia Götz, Dompredigerin - 28.01.2024

Letzter Sonntag nach Epiphanias:
Fest der Verklärung.
Fest eines Lichtes nicht ganz von dieser Welt und doch auf deinem Angesicht.
Noch ehe der Frühling kommt.
Noch ehe die Sonne übernimmt.
Noch unterm Stern von Bethlehem.
Noch in unserem wirklichen Leben.
Da hinein schreibt Paulus, der es nicht lassen kann, der irgendwie nie zufrieden ist, der immer noch was klarstellen und erhellen muss, der selbst mit Blindheit geschlagen werden war, ehe er sieht und begreift:
„Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten…“
Gott, der…
Erinnerung an unseren Gott und seine Schöpfung, an Gott, der aus Finsternis und Chaos ein Paradies gemacht hat und es immer wieder machen kann.
Erinnerung gegen das Vergessen.
Erinnerung, um das Wissen festzuhalten, dass es Gott ist, der es hell werden lässt - an jedem Tag neu.
Nicht aus Laune oder willkürlicher Freundlichkeit heraus.
Das soll so sein.
Licht soll hervorbrechen und wird leuchten.
Verlässlich. So geschieht sein Wille.
Und wir können uns jeden Morgen erinnern an das, worauf wir wirklich hoffen können.
Das ist wichtig, Lebenshilfe pur.
Solches Erinnern ist ein Korrektiv wider das falsche Verklären, das uns lichte Wege suggeriert, die doch in viel tiefere Schwärze führen.
Wir brauchen solches Erinnerungsfundament, solche Hoffnungsstabilität dringend.
Es wird schlimm, wenn - so beschreibt es die chinesische Journalistin Wu Qin, „alle Gedanken verbannt, alle Ideen vertrieben und Erinnerungen vergänglich wie Meereswellen sind … dann wird alles, über- oder umgeschrieben, ohne Beständigkeit oder Zusammenhang.“
Tohuwabohu.
Wüst und leer.
Da ist Finsternis.
In unserer Welt.
In unserer Kirche.
In unseren Gedanken, Worten und Werken.
Da ist Finsternis in verdrehten Worten und verbogener Wahrheit.
Wie finden wir da raus?
Vielleicht durch das Licht in den hoffnungsvollen Gesichtern derer, die Gott an unsere Seite gestellt hat? Auf dem Weg zur Demonstration neulich hab ich das gesehen - helle Gesichter vor Erleichterung, nicht allein zu sein, Hoffnung und Ernst.
Reicht das?
Woher wissen wir, dass das kein Licht der Verblendung ist?
Um zu unterscheiden, brauchen wir die Erinnerung an den, der aus dem Dornbusch sprach, der als Feuersäule mitging, über Bethlehem seinen Stern aufscheinen und den Ostermorgen werden ließ. Andernfalls laufen wir Gefahr etwas für Licht zu halten, das doch nur Brandstiftung ist, gefährliches Zündeln.
Denn da ist Finsternis und wir tun gut daran, nicht nach den sanft leuchtenden Schildern „Notausgang“ zu suchen. Da kommt man zwar raus - aber meist in die nächste Dunkelheit.
Wir brauchen ein anderes Licht, einen anderen Weg, eine neue Tür.
Das alles sind Gottesnamen, seine Selbstvorstellung.
Das will er uns sein: Wahrheit, Leben, Brot, Tür und Licht.
Darum, schreibt Paulus weiter, hat Gott selbst „einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben“ oder vielleicht noch einleuchtender übersetzt: „leuchtet Gott selbst in unseren Herzen auf.“
Gott setzt nicht nur Lichter ans Firmament, damit es hell wird.
Gott schickt nicht nur seine Engel, damit sie als Boten seiner Klarheit für Licht sorgen.
Er weiß auch um die Finsternis innendrin, er weiß um unseren Kleinmut und Zweifel, die Gefahr, der Hoffnungslosigkeit anheimzufallen, die Angst, vergeblich auf Hoffnung zu setzen. Er weiß, dass wir Zuversicht brauchen.
„Zuversicht“, das hört man schon, hat mit dem Sehen zu tun, mit der Sicht auf etwas hin. Aber das Wort birgt noch viel mehr, denn, so sagt es das etymologische Wörterbuch: „Zuversicht“ kommt von „sich zu jemandem versehen, auf jemanden vertrauen.“
Sich zu jemandem versehen. Vertrauen wagen.
Wenn das gelingt, dann bricht ein Lichtstrahl durch die Finsternis.
Dann wird es heller in uns.
Dann leuchtet „es“ in uns und aus uns heraus.
Bei Menschen, die lieben, kann man das sehen.
Verklärung.
Dann leuchtet ein Gesicht so, dass an der Menschlichkeit dessen, der es trägt, kein Zweifel sein kann. Dann leuchtet der menschgewordene Gott selbst aus uns heraus. Dann sehen wir Ebenbildlichkeit an dir und mir. Dann können wir in einem Menschen Gott erkennen.
Dann scheint Hoffnung auf. Licht und hell!
Aber: Obacht! Warnt Paulus, dem intellektuelle Redlichkeit so wichtig ist, der nicht verführen, sondern denken will.“ Vorsicht!
Berauscht euch nicht daran!
Hütet euch vor dem Kurzschluss, dass so schon dann alles gut wird.
Das wäre billige Gnade, gefährdete Hoffnung.
So leicht ist es nicht, denn „wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen“.
Wir sind zerbrechlich, gefährdet, nicht für die Ewigkeit gemacht.
Dieses Licht, Gottes Licht, es leuchtet aus uns. Aus dir und mir.
Wahrlich, es gibt edlere, vollkommenere Gefäße. Stabilere auch.
Gottes Licht leuchtet durch die Risse meiner porösen Erscheinung.
Die Hoffnung, die ich ausstrahlen kann, ist mithin kein Flutlicht.
Ach schade. Es wäre so schön…
Nein, widerspricht Paulus. Das wäre es nicht.
Es ist ganz und gar gut so. Wieder bohrt dieser Paulus an der ewig gleichen Stelle.
Denn auch hier gilt: Licht und Hoffnung, Zuversicht kommen allein von Gott, allein aus Gnade.
Damit wir uns nicht falsch verklären, blenden und in zu vorteilhaftes Licht setzen, muss es so sein, denn sonst vergessen wir: „dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns“,
Andernfalls würde die Hoffnung nicht tragen, wir könnten ihr nicht trauen.
Ich darf Hülle sein, Gefäß. Das ist nicht wenig. Im Gegenteil!
Ich darf Hoffnungsbotschaft sein für die neben mir.
Denn aus dir und mir leuchtet der menschenfreundliche Gott.
So lasst uns rausgehen - auf die Straße, in Gespräche, in Zweifel, in Angst.
Heute, am Fest der Verklärung und immer.
Darum kann Paulus behaupten, fühlen, erklären, postulieren:
Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht.
Uns ist bange, aber wir verzagen nicht.“
Wir sind - sagt er - Menschen, ja, wir leiden und sterben wie Jesus Christus gestorben ist.
Aber an unseren Körpern, an uns selbst, wird auch sein Leben offenbar.
Unverletzlich. Österlich.
„Wir“ schreibt er. Wir.
Keine, niemand muss draußen bleiben. Es gilt allen.
Gott leuchtet mit seinem Antlitz über und aus uns allen.
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Amen

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  Jahreslosung 2024

Jahreslosung 2024

Cornelia Götz, Dompredigerin - 01.01.2024

Mit den Jahreslosungen ist es so eine Sache. Manches Jahr weiß ich sie im Oktober noch nicht auswendig und in anderen Jahren geht sie mit - von Anfang an.
So war es im vergangenen Jahr.
Aus dem 1. Buch Mose hieß es: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Hagar hatte das an einem Scheidepunkt, einer Wegkreuzung des Lebens, verstanden.
Gott sieht mich. Er sieht das Gelingende und das Scheitern, er sieht, was ich versuche und verdränge, womit ich konfrontiert bin - er sieht das Zuviel und das Zuwenig.
Er übersieht mich nicht.
Sein Blick macht mich nicht fix und fertig, so dass ich vor lauter Komplexen, Schuldgefühlen oder überhöhten Erwartungen an mich selbst und das, was ein glückliches Leben sein soll, nicht mehr weiter kann.
Sein Blick hilft, einen gangbaren Weg zu finden.
Nicht ideal, aber möglich, menschlich.
So geht es denke ich auch für uns:
Solche Vergewisserung hilft, wenn all das passiert, was man vermutet hat oder nicht kommen sah - im Guten wie im Bösen.
So haben wir es auch über die Schwelle vom alten zum neuen Jahr geschafft - mitsamt der Erfahrung, dass nicht nur das Kind in der Krippe verletzlich ist, sondern wir auch
• wenn das Wetter kommt und das Wasser, dem weder ein Stall gewachsen ist noch eine Strohschütte
• wenn die Nachrichten über Krieg und Gewalt kein Ende nehmen
• das Mutmachen für die angeschlagenen Demokratien mühsam ist…
Und dann sind da ja noch die Steine auf dem Herzen, die zum Glück nicht jeder sieht.
Und jetzt sind wir hier und Gott sieht uns.
Er sieht hinter unsere Stirnen und in unsere Herzen.
Er sieht, was wir uns zusammenreimen oder vorgenommen haben, wovor wir uns fürchten.
Was wird das für ein Jahr werden?
Wird es sein, wie Thüringens Innenminister Georg Maier gerade sagte: „Ich habe manchmal das Gefühl, wir schlafwandeln in ein ziemliches Desaster hinein und wachen am 2. September in einem autoritären System auf.“
Wie wird sich auswirken, dass Gletscher schmelzen und Böden auftauen während Kriege geführt werden, die Unsummen verschlingen …
Was ist mit den Völkerwanderungen, dem Hunger, dem Verteilungskampf?
Was sieht Gott, wenn er uns sieht?
Ohnmacht, Wut, Lethargie?
Vermutlich.
Aber hoffentlich nicht nur.
Ich hoffe, dass er Zuversicht und Mut sieht, klein vielleicht aber kräftig genug, um sich nicht unterkriegen zu lassen.
Ich hoffe, dass er Vertrauen sieht - in Menschen und Menschlichkeit, in ihn.
Ich hoffe, dass er Kraft sieht, weiterzugehen über die nächste Kreuzung hinaus.
Und auch, dass wir im neuen Jahr nicht vergessen, dass er uns sieht.
So gerüstet, hoffnungsvoll, dankbar für ein altes Jahr, in dem wir behütet und bewahrt worden sind, bin ich Ohr für das, was nun die Überschrift sein soll.
Was sagt er also zum neuen Jahr mit all den Risiken, in die hinein wir unser kleines begrenztes Leben gebaut haben?
„All eure Dinge lasst in der Liebe geschehen.“
Puuh.
Nachdem Gottes Antlitz über uns leuchtet und wir uns schon fast in Gott Arm kuscheln wollten, nun die Ansage: ich seh Dich, Du kannst das, Du hast ja grad gemerkt, wie gut es tut, liebevoll angesehen zu werden, auf geht’s!
2024 lass alles! - nicht nur das, was deine Liebsten betrifft oder woran dein Herz hängt, sondern alles - lass in der Liebe geschehen.
Staubwischen, Steuererklärung, Wahlzettel ausfüllen, tanken, einkaufen, Fahrradfahren, Hände waschen, Haare kämmen, Pläne schmieden, Whattsapp-schreiben. Alles.
Das wird die Diktatur des diakonischen Lächelns und ich bin, wie Ildiko von Kürthy so fantastisch schreibt, eine sprechende Duftkerze.
Ach, es ätzt sich gut und passt nicht zur Jahreslosung, die ernstgenommen werden will.
2. Versuch:
„All eure Dinge lasst - 2024 - in der Liebe geschehen.“
Paulus schreibt das eine ganze Bibel und alle Arten zwischenmenschlicher Vorfälle und lebensgeschichtlicher Standardsituationen später als das Mosewort.
Am Ende eines Briefes.
Schlussformeln und letzte Worte haben es in sich, egal was vorher alles geschrieben war. Am Ende, was kommt dann?
Ein „bis uns wiedersehen“? Oder eine Zärtlichkeit? Vielleicht ein „dein“, das eines meint…
Nein, Paulus schreibt keine Liebesbriefe, jedenfalls nicht solche.
Er erklärt, erinnert, ermahnt, klagt manchmal. Teilt Pläne mit und Erwartungen. Nicht zu knapp. Er weiß ja: Gott sieht uns. Wir können das. Und also hören wir:
„Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark!“ und dann schiebt er gleich hinterher: „und all eure Dinge lasst in der Liebe geschehen.“
Taumelt nicht gedankenlos ins neue Jahr, ängstlich, verschreckt - dafür steht zuviel auf dem Spiel.
Passt auf, vertraut, seid tapfer. Und Achtung! Es hängt alles zusammen:
Wachsamkeit, Mut und Stärke ohne Liebe können gefährlich werden.
Ohne Liebe führt Wachsamkeit zu Misstrauen, Kontrollzwang, Angst.
Ohne Liebe wird fester Glaube zu Ideologie und hartherziger Enge.
Ohne Liebe führt Mut und Stärke zu Gewalt, Selbstüberschätzung, Terror.
Darum: „Lasst alles in der Liebe geschehen.“
Ja… Aber wie? Wie kann einer das verlangen?
Ich habe gelesen, solche Ermahnung funktioniert wie Prinzenerziehung.
Befähigung und Begabung werden nicht bezweifelt, denn die Adressatin ist nicht auswechselbar. Darum wird auch nicht geschimpft sondern ermutigt.
Solche Ermahnung hofft alles und glaubt alles.
Wie die Liebe.
Und in diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen - sehr liebevoll - dass wir diese Jahreslosung mit uns herumtragen und immer wieder neu zu Herzen nehmen.
Möge 2024 in der Liebe geschehen.
Unter Gottes Segen und vor seinem Angesicht, damit ihn freut, was er sieht.

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  Altjahresabend 2023 - Psalm 121

Altjahresabend 2023 - Psalm 121

Landesbischof Dr. Christoph Meyns - 31.12.2023

Liebe Gemeinde!
Am Beginn des Gottesdienst haben wir miteinander den 121. Psalm im Wechsel gebetet. Er hat einen Titel, der nicht mit im Programm abgedruckt ist. Auf hebräisch steht dort wörtlich: „Lied der Hinaufzüge“. Dieser Titel bezieht sich auf die Wallfahrt, die Menschen im alten Israel einmal im Jahr unternahmen. Zum Laubhüttenfest zwischen Mitte September und Mitte Oktober zogen sie von allen Ecken des Landes aus hinauf zum hochgelegenen Tempel in Jerusalem. Die Menschen im alten Israel waren überwiegend Kleinbauern. Für sie endete das Jahr nicht am 31. Dezember wie für uns, sondern nach der Ernte im Herbst. In Deutschland entsprach dem über viele Jahrhunderte hinweg der 29. September, der Tag des Erzengels Michael, im Volksmund „Michaeli“ genannt. An diesem Tag endeten das Wirtschaftsjahr in der Landwirtschaft und die Dienstverträge für Knechte und Mägde. Die Neubestellung der Felder und neue Lehr- und Dienstverträge begannen. Der Tag wurde vielerorts mit einem Volksfest begangen und am Sonntag darauf mit dem Erntedankfest beschlossen. Die Menschen im alten Israel pilgerten am Laubhüttenfest zum Tempel nach Jerusalem, um Gott für die Ernte zu danken und um seinen Segen im kommenden Jahr zu bitten.
Der 121. Psalm ist eines der Lieder, die während der Pilgerreise gesungen wurden, vermutlich zu Beginn der Reise. Er bittet Gott um seinen Segen für den Weg und um Schutz vor Unfällen, vor zu viel Sonne beim Pilgern und vor zu viel Mond. Zu viel Mond? Was ist damit gemeint? Im Alten Orient wurde dem Mond üble Wirkungen zugesprochen. Mondlicht galt als Verursacher von mancherlei Krankheiten. „Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ Diese Bitte um Gottes Segen bezieht sich vermutlich auf den Ausgang aus dem Haus zu Beginn der Wallfahrt und den Wiedereintritt über die Schwelle des Hauses am Ende der Reise. Während ihrer teilweise mehrtägigen Wanderung zum Tempel hatten die Menschen Zeit, das alte Jahr in Gedanken noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen. Wie war die Getreideernte in diesem Jahr ausgefallen? Wie hat sich meine Herde aus Schafen und Ziegen entwickelt? Wie ist es meiner Familie ergangen? Welchen Segen habe ich erlebt? Wofür will ich Gott danken? Und um welchen Segen möchte ich ihn für das neue Jahr bitten?
Was sie dabei persönlich bewegt hat, ist wohl sehr verschieden gewesen. Ein Anliegen aber hatten alle Pilger gemeinsam: Die Bitte um ausreichend Regen. Das war der entscheidende Faktor für das Wohlergehen von Pflanzen und Tieren. Blieb der Regen aus, kam es zu Hungersnöten. Denn die Menschen produzierten keine Überschüsse, die sie einlagerten, sondern nur so viel, wie sie selbst im Laufe des Jahres zum Leben brauchten.
Mit den Menschen im alten Israel blicken wir heute Nachmittag am letzten Tag unseres Jahreslaufes auf das vergangene Jahr zurück: auf Familie und Beruf, Freunde und Nachbarn, auf die Höhepunkte des Jahres und den Alltag, auf Schönes und Schwieriges, auf Fröhliches und Trauriges. Wir danken Gott für das Gute, das wir erlebt haben. Wir legen in seine Hände, was unsere Tage verdunkelt hat und uns auf der Seele liegt und bitten ihn, es in Segen zu verwandeln. Wir blicken auch auf das neue Jahr, das vor uns liegt.
Wir bitten Gott um seinen Segen für unser Leben, für Schule, Studium und Beruf, für Ehepartner, Kinder und Enkel, für Freunde und Nachbarn, um Kraft und Gesundheit, für Stadt und Land. Um Regen sollten wir anders als die alten Israeliten heute wohl nicht gemeinsam bitten. Aber ich denke, was uns im Blick auf das neue Jahr eint, ist die Bitte um Frieden: für die Ukraine, für Israel, für den Gazastreifen, für die Opfer von Hass und Gewalt, für die Geflüchteten um Schutz und Solidarität, für die Mächtigen um Einsicht, Weisheit und Vernunft.
Mit der Kollekte des heutigen Tages schließen wir darüber hinaus eine Gruppe von Menschen in unsere Gebete, an die wir nur ungern denken und mit denen wir nicht so viel zu tun haben wollen: Strafgefangene. In der JVA in Wolfenbüttel sitzen Menschen ein, die viel Schuld auf sich geladen haben. Sie wurden zu langen Haftstrafen verurteilt aufgrund von Betrug, Erpressung, Raub, Totschlag, Mord, Sexualstraftaten, Drogendelikten. Einige verbüßen eine Strafe bei uns aufgrund einer Verurteilung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag für Kriegsverbrechen. Aber auch sie sind Gottes Kinder. Sie bedürfen in besonderer Weise der Fürbitte: um Gottes Geleit, um Einsicht in ihre Schuld, um die Fähigkeit zu Reue und echter Umkehr. Und sie bedürfen der Seelsorge. Deshalb arbeitet dort ein Pfarrer unserer Landeskirche. Er steht für Gespräche zur Verfügung, bietet Gottesdienste an, Gesprächsgruppen und einen Chor. Er ist zugleich Ansprechpartner für die Justizvollzugsbeamtinnen und -beamten, die einen anspruchsvollen und belastenden Beruf wahrnehmen in der Spannung zwischen Kontrolle und Sicherheit auf der einen Seite, Resozialisation, Bildung und Therapie auf der anderen Seite.
Wenn Menschen auf eine lange Reise gehen, dann müssen sie sich gut vorbereiten und allerhand in ihren Koffer packen. Diejenigen, die zurückbleiben, geben ihnen gute Wünsche mit auf den Weg: „Gute Reise“, „pass auf dich auf“, „sei vorsichtig“, „bleib gesund“ „komm heil wieder nach Hause“, „gottbefohlen“. Der 121. Psalm ist so etwas wie ein Schatzkästchen voll mit guten Wünschen für die Reise. Er ruft Gott an als den Schöpfer von Himmel und Erde und als den guten Hirten, der seine Herde behütet. Er bittet Gott um Schutz auf dem Weg und vor den größten Gefahren einer Reise in der Antike: Unfall, Sonnenbrand und Krankheit, und vor allem körperlichen und seelischem Übel im allgemeinen. Für Menschen heute sind es wunderbare Worte für ihre Reise durch das Leben. Mich selbst begleiten sie seit frühester Kindheit. Denn die letzten beiden Verse sind mein Taufspruch. Sie erinnern mich daran, dass Gott mich hält in guten und in schlechten Zeiten, im Leben wie im Sterben und über den Tod hinaus. In diesem Sinne lasst euch heute die Segenswünsche des 121. Psalms für eure Reise durch das neue Jahr zusprechen. Sie mögen euch geleiten, euch Zuversicht schenken, Kraft und Mut für alles, was das neue Jahr bringen mag.

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen.
Woher kommt mir Hilfe?
Meine Hilfe kommt vom HERRN,
der Himmel und Erde gemacht hat.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen,
und der dich behütet, schläft nicht.
Siehe, der Hüter Israels
schläft noch schlummert nicht.
Der HERR behütet dich;
der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand,
dass dich des Tages die Sonne nicht steche
noch der Mond des Nachts.
Der HERR behüte dich vor allem Übel,
er behüte deine Seele.
Der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang
von nun an bis in Ewigkeit!
Amen.

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  Christvesper 2023

Christvesper 2023

Cornelia Götz, Dompredigerin - 24.12.2023

Stille Nacht, heilige Nacht –
Da singt jemand ein Wiegenlied.
Guten Abend, gute Nacht - mit Rosen bedacht und Näglein besteckt – mit Nägeln?
Nein, nein - es ist nicht immer nur schlimm. Das kann ja niemand aushalten.
Gewürznelken sind da gemeint; man steckte sie ins Kissen, um Insekten zu vertreiben…
Weihnachtsduft und Weihnachtsbaum, Weihnachtsluft in jedem Raum -
Ja, darum sind wir hier, genau hier.
Angekommen nach all dem, was zu tun und zu richten war.
Vollgestopft mit Nachrichten und Anstrengung und Aufregung und Erwartung
Und hoffentlich!!!!
Hoffentlich wird das schön.
Dieses Fest zuhause mit meiner Familie.
Dieses Fest allein - nur mit mir.
Dieses Fest für die Welt und alle die, die jetzt irgendwo draußen sind -
Draußen gibt es viele.
Von Englein bewacht,
die zeigen dir im Traum des Christkindleins Baum –
Weihnachtskind und Weihnachtsbaum, ich dachte, das hat gar nicht miteinander zu tun - oder braucht es das für ein besonderes Fest, den Baum im Zimmer, mitten im Dom?
Was heißt hier „brauchen“…
Menschen brauchen Brot und Wärme, sauberes Wasser und Geborgenheit.
Was geht es uns gut!
Aber wenn du keinen Weihnachtsbaum hast oder willst oder kennst -
Das Kindchen in der Krippe hatte auch keinen.
Nur Paradiesäpfel und Sternenglanz und:
leise, leise –
Alles schläft -
Ruhig. Arglos im Wortsinne.
Da fängt Frieden an.
Alles schläft,
wer ein Bettchen hat, ein Dach über dem Kopf, ein Zuhause –
wer nicht grübeln muss, kein Fieber hat und kleinen Liebeskummer –
wer nicht schlecht träumt, nicht friert, nicht hungert,
Wer nicht arbeiten muss.
Einsam wacht nur das traute hochheilige Paar.
Niemand sonst.
Keiner, der Böses vorbereitet, der sich in Neid verzehrt oder in Gewalt verliebt, der sich nicht beherrschen kann, nicht verzeihen will.
Das ist beruhigend.
Wie schön sie aussehen – ganz verklärt vor Glück über dies kleine Menschenkind.
Dass das immer wieder passiert! Dass die Liebe aufgeht unter uns und Herzen sich erweichen. Dass Menschen so vollkommen sind.
Schlaf nun selig und süß, schau in Traums Paradies –
Mutter und Vater beieinander, friedlich, die haben sich lieb – und dich auch.
Heile Welt.
da schimmern goldgrüne Wiesen und wer hat so viele Schäfchen?
Die hat der liebe Mond, der hinter unserm Hause im hohen Himmel wohnt.
Hinter meinem Hause auch und hinter deinem und hinter den Häusern, in denen wir nicht wohnen und in denen wir keinen kennen.
Der Mond, der Himmel - über uns allen, dort wo Gottes Wille geschieht.
Wie auf Erden. Jetzt.
Hier.
Heilige Nacht.
Schlaf nun selig und süß: holder Knabe im lockigen Haar.
Wem sieht der eigentlich ähnlich?
Sieht er überhaupt wie ein Junge aus oder ist es doch ein Mädchen?
Kommt es nach Dir?
Schau doch die gekrauste Nase und die zarten Lippen –
Das hat es nicht vom Vater -
aber die hohe Stirn??
Und der Augenschnitt, die Augenfarbe – die ist doch bei allen Neugeborenen gleich.
Es hat die Augen doch zu!
Leise. Leise. Es schläft in himmlischer Ruh.
Ach, das ist mir unheimlich.
Lass das lieber! So mag ich mir kein Kind denken.
Morgen früh, wenn Gott will …
Du muss keine Angst haben vor dem Einschlafen, am Abend des Lebens, am Abend der Welt.
Es liegt nicht in deiner Hand.
Morgen früh, wenn Gott will, wirst Du wieder geweckt.
Psst. Leise, leise!
Heilige Nacht, Gottes Sohn, o wie lacht …
Schau. Es lächelt!
Du auch!
Ich auch?
Ja, du auch.
Erleichterung! Du hast es ja doch nicht verlernt!!!
Ich dachte schon, du willst gar nicht mehr lächeln…
Gibt ja auch keinen Grund, willst du sagen?
Doch, doch.
Da lacht Liebe aus seinem göttlichen Mund.
Ja, der ist perfekt gelungen. Es komm doch nach mir…
Schau – dies Kind ist ganz und gar unschuldig,
dies Kind soll unverletzet sein –
breit aus o Flügel beide, o Jesu meine Freude.
O Gott, wir bitten dich, behüte dieses Kind.
Behüte mein Kind.
Unser Kinder.
Alle. Die können doch nichts dafür. Die verstehen gar nicht, wo sie da hinein geraten. Die werden nicht wieder heil!
Und auch euch ihr meine Lieben
soll heute nicht betrüben
kein Unfall noch Gefahr –
da uns schlägt die rettende Stund.
Gott sein Dank.
Gleich läuten die Glocken in die Stadt.
Gleich hören wir den Zimbelstern.
Gott sei Dank.
Jetzt wird Frieden auf Erden.
Das glaubst du nicht?
Du denkst, alle Jahre wieder .. Fragezeichen?
Alle Jahre wieder ändert sich nichts - geht der Krieg weiter und der Hunger und Corona und die Einsamkeit und…
Das hast du falsch verstanden!
Alle Jahre wieder kehrt er mit seinem Segen ein in jedes Haus.
Hast du das nicht gemerkt.
Du wärst jetzt ja gar nicht hier, wenn Gott dich nicht behütet hätte-
Wenn er nicht dir zur Seite gewesen wäre, still und unerkannt,
Wenn er dich nicht geleitet hätte, an der lieben Hand.
Dann wird ja alles gut –
stille Nacht, heilige Nacht
die der Welt Heil gebracht –
heile heile Segen
die wunden Herzen
das zerschlagene Gemüt
all die kaputten Knochen und …
aus des Himmels goldnen Höhen –
schlaf nun selig und süß
Hirten erst kundegemacht –
Ja, denen sagt er zuerst Bescheid. Die heute Nacht arbeiten müssen, die müssen es zuerst hören. Bei denen müssen die Engel zuerst singen.
Wir haben Zeit und jetzt sind wir ja hier und sehen die Geschichte.
Leise, leise…
Kindlein mein schlaf nun ein –
Tönt es laut von fern und nah
Christ der Retter, ist da!
Hört ihr das?
Christ, der Retter - er ist da.
Leise.
Horch.
Stille Nacht.
Heilige Nacht. Allüberall.

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  4. Advent 2023

4. Advent 2023

Cornelia Götz, Dompredigerin - 24.12.2023

Wenn man an einem frühen Morgen um diese Jahreszeit. - also ganz dicht an der Wintersonnenwende in den Dom geht und es ein lichter Tag wird, dann sieht man die Türme von St. Magni und dem Dom rotgolden angeleuchtet.
Man kann sich den Kopf verrenken wie man will, man kriegt die Lichtquelle nicht zu sehen.
Es leuchtet schon. Aber woher?
Und es dauert, bis die Sonne sichtbar ist, manchmal tagelang.
So ungefähr ist dieser Morgen.
Das Licht ist schon besonders - gleich wird es aufbrechen über uns und wir werden staunend feststellen, dass es ein uraltes neues Licht ist, ganz nah von weit her - gespeist aus Hoffnung und Sternenglanz, himmelhell.
Aber noch dämmert der Tag.
Noch liegt er vor uns und muss durchschritten werden.
Noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Trotzdem sind wir ins Laufen gekommen!
Vielleicht hat uns irgendwer erinnert hat an das:
„Erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“
Bitte! Tut das! Schon damals musste das dringend den Vielen, uns allen gesagt zu werden.
Denn ich bin nicht allein - mit meiner Lebensangst und meiner Weltangst, mit den Sorgen, die mich drücken …
So gehen wir.
Auf Hühneraugen, am Stock oder wie Maria: mit geschwollenen Knöcheln und dem Bauch voran.
Die ist unterwegs durch den Dornwald - nicht durch ein Lavendelfeld, in dem man die Hand hängen und greifen lässt, weil der Duft so herrlich ist, nicht durch eine hohe Wiese, wo weiche Gräser schmeicheln - Maria geht durch die wirkliche Welt, die dornige.
Wenn man in die Kathedrale in Coventry kommt und sie Richtung Altar durchschreitet, dann muss man durch so einen Dornenwald, der ganze Chor ist ein einziges wuchtiges Dornengestrüpp - ein großes Kyrie und ohne Ahnung dessen, was kommen wird - am Ende, am Anfang.
In Coventry wird es ein großes Staunen sein. Hinter den Dornen. Stehenbleiben, sich umsehen - solches Licht! Kommen wir da etwa her?
Ausgang und Eingang, Himmel und Erde - alles ganz nah.
Das ist der Weg Richtung Weihnachten, Richtung Ostern: durch das Dunkel hindurch.
Durch das Dunkel hindurch scheint der Himmel hell. So hell soll auch die Erde sein, steh auf, steh auf!!! Das Lied sollten wir mal lernen!
In Maria klingt es schon und sie läuft durch das Dunkel hindurch - zu Elisabeth oder ist sie womöglich schon auf dem Rückweg?
„Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen, das trägt Maria unter ihrem Herzen“ - ja, noch ist das so. Noch ist das Kindchen behütet und sicher, die Ohren sind schon fertig - es hört den Herzschlag seiner Mutter und kennt die Stimme. Manchmal schlägt das Herz schneller. Das Kindchen weiß noch nicht, dass das Freude oder Angst sein kann, glückliche Erwartung oder unruhige Sorge, Eile …
Worte versteht es auch noch nicht.
Hört nur den vertrauten Klang und sicher weiß es, wann die Mutter mit ihm spricht.
Vielleicht klingt das, was die junge Frau da unterwegs in aller Einsamkeit mit sich und ihrem Kind bespricht, nach Albrecht Goes: „Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt, / Klein wird dein letzter sein. / … Sei's um ein Jahr, dann gehst du, Kind, / Viel Schritte unbewacht, / Wer weiß, was das für Schritte sind / Im Licht und in der Nacht? …“
Ja, wer weiß das und wie groß mögen die Fragezeichen im Herzen dieser jungen Frau sein, die immer wieder überschüttet wird mit Vorzeichen, die ihr Denken und Vorstellen übersteigen?
Von der Nacht der Welt, der Gegenwart, dem was ist, hat sie eine Ahnung - im besetzten Land, mit dem Hunger und der Ungewissheit, den fremden Soldaten. Ob auch sie sich wie viele junge Frauen nach ihr gefragt hat, ob sie es wagen kann, in diese Welt ein Kind zu setzen???
Sie wird es nicht beschützen können…
Aber jetzt ist diese Schwangerschaft über sie gekommen, sie hat sie angenommen und gelernt sich zu freuen.
Ja, wahrscheinlich ist sie schon auf dem Heimweg - denn das mit der Freude hat sie eben zum ersten Mal richtig gespürt - bei Elisabeth. Da hat das Kind im Buch getrommelt, geboxt, gehopst - wie die Pauken beim Weihnachtsoratorium. Jauchzet, frohlocket - weil das Leben siegt.
Dies Kind muss geboren werden, natürlich. Was sonst???
Das leuchtet jedem ein - auch dem größten Zweifler.
„Komm, sagt die Mutter, zur Welt, Kind.“ dichtet Marie Luise Kaschnitz.
„Wozu wir auf der Welt sind, kann ich dir nicht erklären. / Das sagt dir der Vater morgen / Oder irgendwann…“
Der lässt durch Jesaja ausrichten (den Rest sagt er heute Abend):
„Ich will nicht schweigen und will ich nicht innehalten, bis deine Gerechtigkeit aufgehe wie ein Glanz und dein Heil brenne wie eine Fackel und die Völker sehen deine Gerechtigkeit…“
Sind wir dafür auf der Welt?
Um nicht zu schweigen und nicht innezuhalten, um zu leuchten und uns zu brennen bis endlich alle Völker - das ist zu groß für einen Menschen… - das möge sich keiner anmaßen zu wollen. Das geht nicht gut aus.
Sie mag Maria denken.
Sie kann nur das menschliche Maß. Gott sei Dank.
Maria legt die Hand auf ihren Bauch. Hält inne. Drückt einen bisschen gegen das Füßchen. Zwiesprache. „Du wirst Sohn des Höchsten genannt werden“ hat der Engel zu ihr gesagt und „König seinen einem Reich ohne Ende“
Maria hat das gehört. Die Worte kennt sie. Den Sinn nicht.
Deshalb ist sie genau die richtige Mutter für dieses Kind.
Denn „ich will, dass du immer satt / … und du eine bleibende Statt hast. … und das Schmutzige meidest und nicht krank wirst und leidest…“ so denkt Maria, dichtet Marie-Luise Kaschnitz.
Wenn Menschen das füreinander wollen, dann wird es gut unter uns.
Dann werden wir uns nicht verletzen und verjagen, nicht beschmutzen.
Sondern treu füreinander sorgen.
Diese junge Menschenmutter erwartet keinen Prinzen:
„Ich will dich gar nicht so mutig und auch nicht besonders schön / weil die allzu Kühnen und Schönen so oft zugrunde gehn. …
Draußen ist sehr viel Böses, weiß nicht, wo das Gute blieb / komm zur Welt Kind / sieh selbst Kind / vergiss nicht: wir haben dich lieb!“

Wenn man an einem frühen Morgen um diese Jahreszeit Richtung Krippe geht - dann sieht man die Türme von St. Magni und dem Dom rotgolden angeleuchtet.
Man kann sich den Kopf verrenken wie man will, man kriegt die Lichtquelle nicht zu sehen.
Es ist nicht zu orten, wo uns Hoffnung herkommt.
Aber sie leuchtet.
Ist es die Klarheit des Herrn über der Krippe?
Ist es Gottes: „Vergiss nicht, ich habe dich lieb!“
Heute sagt Gott das ganz nah an unserem Herzen durch die Menschen neben dir und neben mir: Vergiss nicht, ich hab dich lieb.
Und nun: Komm endlich zur Welt, Kind!

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  Polizeigottesdienst

Polizeigottesdienst

Cornelia Götz, Dompredigerin - 12.12.2023

Polizeigottesdienst

Liebe Gemeinde,
liebe Polizistinnen und Polizisten –
die Weihnachtsgeschichte ist kein Märchen. Sie ereignet sich unter konkreten Bedingungen, in einem besetzten Land unter Menschen in schwieriger sozialer Situation – an den Bruchstellen der Gesellschaft, dort wo es gefährlich werden kann, wo Würde verletzt wird, dort wo Schutz und Hilfe nötig sind, wo Einsamkeit und Verlassenheit, Kälte erfahren wird,
dort wo staatliche Maßnahmen durchgesetzt und begleitet werden müssen,
dort wo Sie arbeiten, wo Sie Lebenszeit und Kraft investieren.
Das erste Weihnachten erleben Menschen, die wie wir hoffen, dass ihr Leben nicht von Konflikten und Herausforderungen ihrer Zeit aus den Angeln gehoben wird,
die für ihre Kinder eine geborgene Kindheit und ein gutes Leben ersehnen,
die betroffen sind von politischen Entscheidungen und sozialer Ungleichheit.
Es sind Menschen, wie die junge Maria, die vertrauen muss – dass eine Zukunft gibt, dass ihre Kräfte reichen werden, dass sie nicht weggespült wird von den vielen, die alle auch irgendetwas irgendwo tun müssen.
Es sind Menschen wie Josef, die Verantwortung übernehmen und dann spüren, wie schwer sie an ihr zu tragen haben, die Konsequenzen für etwas schultern, das sie nicht ausgelöst haben und die dafür sehr viel geben.
Es sind Menschen, wie die Wirte, die eigentlich nur ihren Job machen wollen und überrannt werden, deren Ressourcen bei weitem nicht ausreichen für das, was jetzt ansteht und von ihnen erwartet wird.
Es sind Menschen, wie die Hirten auf den steinigen unwegsamen Flächen rund um Bethlehem, die sich wie ihre Väter und Großväter am Feuer wärmen, die hoffen, dass ihre Tiere die Nacht unbeschadet überstehen, dass sich weder Mensch noch Tier an dem vergreift, wovon sie leben.
Die harte Arbeit zehrt an ihnen, so oft müssen sie wachsam sein.
Jede Unaufmerksamkeit kann einen hohen Preis haben.
Jetzt sitzen sie und sagen sich alte Texte auf – wie den, den wir vorhin gehört haben.
Sie habe sie unzählige Male gehört. Sie können sie auswendig.
Wie einen Song, den man mit Freunden singt und mit sich trägt, dem man glaubt, mit dem man sich verbindet:

Müde Hände werden wieder Kraft bekommen.
Erschöpfte Beine werden wieder Stabilität finden.
Sie werden stark sein und ohne Angst.
Sorgen und Seufzen werden verschwinden.
Und die, die bisher einfach nicht hinschauen wollten, die nicht gesehen haben, was los ist, denen werden die Augen aufgehen.
Die, die weggehört haben, die sich taub gestellt haben, die wird endlich erreichen, was Not tut.
Und die, die wie gelähmt waren, die sich festgefressen hatten, die nicht mehr konnten, werden spüren, dass die Kraft zurückkommt, die Beweglichkeit auch.
Es ist ein altes Lied und klingt bis hierher:
Neu kann man es hören in den Worten von Carola Moosbach:
„Das wäre schön auf etwas hoffen zu können
was das Leben lichter macht und leichter das Herz
das gebrochene ängstliche
und dann den Mut haben die Türen weit aufzumachen
und die Ohren und die Augen und auch den Mund
nicht länger verschließen
das wäre schön
wenn am Horizont Schiffe auftauchten
eins nach dem anderen
beladen mit Hoffnungsbrot bis an den Rand
das mehr wird immer mehr
durch Teilen
das wäre schön
wenn Gott nicht aufhörte zu träumen in uns
vom vollen Leben einer Zukunft für alle
und wenn dann der Himmel aufreißen würde ganz plötzlich
neue Wege sich auftun hinter dem Horizont
das wäre schön“
Ja, das wäre es.
Das wird es sein. Denn:
Die Weihnachtsgeschichte ist kein Märchen. Ein Kind wird geboren und Gott fängt neu mit uns an. Er vertraut sich uns an: unserer Fürsorge und unser Liebe, unserem Mut. Der Stern leuchtet über uns – wir sehen ihn nur, wenn wir den Kopf heben.
Das ändert nicht, worin wir stehen.
Aber es ändert unsere Haltung.
Denn wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen, sich verbinden, den Hass überwinden, und neu beginnen, ganz neu - da berühren sich Himmel und Erde, da wird Friede möglich unter uns, da wird Weihnachten.
Für die, von denen ich erzählt habe.
Für Sie, liebe Frau Haase, liebes Team, liebe Gemeinde.
Für uns alle.
Amen.

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  Totensonntag

Totensonntag

Cornelia Götz, Dompredigerin - 26.11.2023

Toten- und Ewigkeitssonntag…
Blick zurück und Blick nach vorn.
Gedanken an die, die vor und mit uns waren.
Gedanken daran, dass auch wir sterben und wie wir sein werden.
Draußen eilt die Welt auf Weihnachten zu, wir halten noch einen Moment inne – Langsamkeit gegen den Trend erst recht wenn es das erste Weihnachten sein wird ohne …
Blick zurück und Blick nach vorn. Wie wird es sein?
Eine befreundete Pfarrerin erzählte mir vor ein paar Tagen, dass sie mit ihrer Gemeinde eine neue Form des Taufgottesdienstes ausprobiert. Dazu legt sie vor und hinter dem Taufstein lange Stoffbahnen aus - wie einen Strom, einen großen Fluss. Dann bittet sie Paten und Großeltern, Geschwister und Freunde, Gemeindeglieder in diesen Strom hineinzusteigen - eben dorthin, wo sie mit ihrem Tauftag im Fluss der Zeit ungefähr hingehören. Zuletzt tritt sie selbst mit dem Täufling und seinen Eltern in den Fluss – gewärtig all derer, die vor ihnen sind und nach ihnen kommen werden. Und immer, so erzählt sie, gibt es einen Moment, an dem sie danach fragt, wer noch dabeisteht. Dann kommen erst die großen Namen: Johann Sebastian Bach und Martin Luther King, Hildegard von Bingen… und dann weitet sich der Raum für die, die zu unserer je eigenen Lebensgeschichte gehören.
Manche stehen ganz in der Nähe; andere schon weit weg,
Aber sie sind alle noch da. Alle mit mir verbunden.
Und die, die ich erinnere kannten und liebten andere, die mit und vor ihnen waren.
Ein schönes Bild - es passt nicht nur zur Taufe.
Es passt auch zu diesem Sonntag am Ende des Kirchenjahres.
Wir sind nicht allein. Auch nicht an den Gräbern.
Wir stehen im Strom der Gnade, im Fluss unseres Glaubens und beim Blick zurück sehen wir in die Gesichter der noch Lebenden und der schon Toten. Sie sind alle da.
Sie haben alle in ihrer Zeit gelebt - mit deren Schrecken und Ängsten, mit ihren Hoffnungen und Wundern, im Krieg und im Frieden.
Sie und wir alle sind Teil der Geschichte Gottes mit uns Menschen, in der Nachfolge und im Zweifel.
Wir stehen miteinander verbunden in denselben Verheißungen und alten Worten:
„Der Herr segne deinen Ausgang und Eingang“

"Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“
„Ich glaube aber doch, dass ich sehen werde die Güte des Herrn im Lande der Lebendigen.“
Seit urlanger Zeit wiederholen wir dieselben Worte, bewegen sie in die Sprache unserer Mütter und Väter hinein, horchen auf ihren Klang im Sound unserer Zeit, lassen uns anfechten und trösten.
So stehen wir auch im Gewölbe des Predigttextes über diesem Tag,
Im Danielbuch heißt es:
„Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich."
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass nicht nur wir, sondern auch die vor uns gehört haben könnten: diese, unsere Zeit ist eine so schwere und schwierige, so kompliziert und verworren, so festgefahren und ausweglos, wie es bisher noch nicht zusammengekommen ist. Es wird so viel zerstört und gestorben, gehungert, missbraucht und verachtet wird. Jetzt ist die Zeit.
Aber Blick nach vorn und Blick zurück:
Gott will und braucht keine Toten.
Er wollte und brauchte sie nie.
Er ist ein Gott der Lebenden, ein Gott der lebendig macht und Leben schenkt. Seine Geschichte ist eine Geburtsgeschichte. Seine Propheten sind keine Wahrsager, die uns den Weltuntergang erklären wollen. Sie erzählen von dem einen Gott und immer wieder davon, dass seine - nicht unsere -Gerechtigkeit, sein - nicht unser- Frieden, sein - nicht unser - Reich groß werden wird.
Seine Zeit wird leuchten.
Sein Segen trägt. Schon lange.
Blick zurück. Ja. Trotz allem.
Blick nach vorn: Ist das die die Zeit, in der sein Volk gerettet wird, alle die im Buch des Lebens stehen?
Blick zurück: Ratlosigkeit und Knoten im Kopf.
Wir haben es nie verstanden, wie das ist mit seinem Volk, mit Israel, mit Gottes Erwählung und dem Buch des Lebens, in dem wir doch auch stehen, oder? Oder hängt doch alles, hängen wir daran, dass sein Volk Frieden hat?
Nochmal: Propheten sind keine Wahrsager! Sie sind nur Gottes Stimme.
Bis er selbst in den Fluss steigt.
Seither hat sich dessen Farbe ein wenig geändert.
Der Strom fließt ein bisschen sanftmütiger dahin, so dass auch wir hineintreten können in die Erwählung, uns beim Namen gerufen wissen dürfen und aufgehoben bei Gott, in Zeit und Ewigkeit.
Es kommt eine Zeit.
Die Toten werden auferstehen – die einen so, die anderen so.
Es ist nicht egal, was wir tun und wie wir leben.
Schmach und Schande bleiben haften
So klingt es. So klang es.
Denn jetzt leuchtet das ein für alle Mal des Ostermorgens.
Gott braucht ja keine Toten, keine Verachteten, keine ewige Schande.
Es kommt eine Zeit. Da werden die Verständigen, die Gerechten, die Mutigen leuchten wie Sterne, wie Morgenlicht und Hirtenfeuer, wie Weihnachtsstern und Ostermorgen.
Vielleicht ist es noch nicht unsere Zeit.
Vielleicht werden noch viele nach uns kommen. Hoffentlich.
Und vielleicht schauen sie dann nach vorn und zurück und sehen uns entgegen und verstehen.
Es kann uns nichts trennen von der Liebe Gottes: „weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur.“



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  Abraham und Lot

Abraham und Lot

Cornelia Götz, Dompredigerin - 29.10.2023

So zog Abraham herauf …
So.
So. Was vorher war, kompliziert oder einfach, freundlich oder schmerzhaft, gerecht oder ungerecht, wir wissen es nicht, es ist nicht mehr auseinander zu dröseln.
Wollten wir dabei anfangen, müssten wir weit zurückgehen, alle Energie in Vergangenes stecken.
Wollen oder können wir das nicht, geht es über die Kraft, dann ist es jetzt: so.
So ist es oft.
So ganz genau wissen wir nicht, was alles zusammenspielt, damit es jetzt so kommt.
Das gilt für Familiengeschichten und Liebesbeziehungen, das gilt für den Nahostkonflikt.
Wir kennen Wendepunkte, herausragende Ereignisse, haben eigene Erinnerungen und vor allem und immer: unsere je eigene Perspektive.
So ist es auch ist dieser Geschichte von Abraham und Lot.
Sie haben sie vorhin gehört.
„So zog Abraham herauf aus Ägypten mit seiner Frau und mit allem, was er hatte, und Lot mit ihm … Abraham war sehr reich an Vieh, Silber und Gold. Und er zog immer weiter … bis nach Bethel, wo zuerst sein Zelt war …, eben an den Ort, wo er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief er den Namen des Herrn an.“
So zieht er los, der Patriarch - mit allem was sein war, mit der Großfamilie und ordentlich Besitz, dorthin wo er Fundament und Grund hatte, wo seine Wurzel schon im Boden lag, wo er wusste, dass er Gottes Nähe erfahren würde.
Und Lot, sein Neffe, muss mit. Er wird fortgesogen von der Geschichte Abrahams mit Gott. Auch Lot hatte Schafe, Rinder und Zelte. Aber dass er sehr reich wäre, davon ist keine Rede. Er hat eben wie alle anderen auch versucht, auf die Füße zu kommen, sich materiell abzusichern.
Auch für ihn ist es aufwärts gegangen.
Nicht ganz so steil - aber immerhin.
Wachstum heißt das Zauberwort. Die Zukunft beginnt jetzt. Sie soll, wie Heribert Prantl gerade geschrieben hat, kein Drohwort sein. Also vorwärts. Den alten Männern hinterher.
Aber dann „konnte das Land es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten; denn ihre Habe war groß.“
Das Land konnte nicht immer mehr aus sich herauspumpen. Irgendwann war es erschöpft vom nimmersatten Bedarf der Reichen und Superreichen. Ausgelaugt und ausgepresst. Die Hirten kriegen sich an die Köpfe. Vermutlich bleibt bei ihnen nicht so viel hängen außer der Angst, wo das alles hinführen wird, wenn die Ressourcen knapper werden. Vielleicht hat Lot auch ein bisschen gestichelt, Neid geschürt.
Und dann gab es da ja auch noch andere, die leben wollen, Nahrung und Platz brauchten… - Kanaaniter und Perisiter oder wer immer sie sind.
„Da sprach Abraham zu Lot: Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten… Trenne dich doch von mir!“
So geht es nicht weiter. Ich finde, Du ziehst aus.
Wir können es hier nicht alle gut haben. Das musst du doch einsehen. Also geh!
So kann das klingen. Oder auch so: Lass uns expandieren, Außenstellen gründen, gucken, was woanders noch zu holen ist:
"Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.“
Und Lot taxiert die Gegend, rechnet sich seine Chancen aus und entscheidet sich für die Seite mit dem vielen Wasser, dem wertvollen Lebenselixier.
So trennen sie sich.
Der eine bleibt in Kanaan, der andere zieht Richtung Sodom. Kein gutes Omen.
Und Gott schweigt.
Schweigt er, wenn Zank und Streit eskalieren, Trennung angesagt ist?
Ich kann nicht hören, was dieser Text eröffnen will.

Aber:
Über diesem Sonntag heißt es: „Überwinde das Böse mit Gutem.“
Mithin: lies nichts Böses, wo nichts Böses steht. Vermute nicht zuerst das Häßliche, das Intrigante, das Destruktive. Geh nicht stets und ständig davon aus, dass du zu kurz kommen könntest. Wechsel die Perspektive.
Darum noch einmal:
„So zog Abraham herauf …“
Wieder einmal lässt er sich ein auf Veränderung, obwohl er alt war, müde vielleicht.
Wieder einmal gönnt er sich und den Seinen nicht, ihren Reichtum zu genießen.
Wieder einmal geht er zurück an den Ort, an dem er Gott vermutet - er will nicht seine Abwesenheit beklagen, sondern sich seiner Nähe vergewissern.
Die Fülle seines Lebens, Wachsen und Gedeihen sind aus Gottes Hand gekommen.
Er hat es nicht vergessen.
So geht er und alle gehen mit.
Auch Lot. Er vertraut dem Abraham, vielleicht sogar seinem Glauben.
Aber die Bibel erzählt keine Märchen. Es ist eine Geschichte in der wirklichen Welt, in der man nicht allein ist, in der andere neben und mit uns sind, in der es Konflikte gibt, schmerzhaften Streit, Verteilungskämpfe, die Notwendigkeit zu reagieren.
Es ist eine Geschichte, in der alle begreifen, dass es so nicht weitergeht.
„Denn das Land konnte es nicht ertragen.“
Es gibt keinen Frieden. Ohne Trennung wird es nicht gehen.
Abraham sieht das. Irgendwann weiß man es.
Er redet das Problem nicht klein. Er will es nicht mit Gewalt lösen. Er hofft, dass aus Bösem Gutes werden kann. Und so sagt er:
„Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten… Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.“
Vielleicht ist das der Kern dieser Geschichte:
Die Trennung ist ein Friedensangebot. Eine Möglichkeit, wie es weitergehen kann ohne Haß und ohne Verletzungen.
Die Trennung ist schwer. Sie ist nicht gerecht. Es gibt nicht für alle und alles gute Optionen.
Abraham sieht das. Er weiß, dass Frieden und Gerechtigkeit nicht möglich sind, wenn er zuerst seinen Vorteil sucht.
Und er hat nicht vergessen, Gott zu vertrauen, sich darauf zu verlassen, dass es auch dann weitergehen wird und gut werden kann, wenn er darauf verzichtet, sich das zu nehmen, was das üppigste sicherste Leben verspricht, seinen Wohlstand sichert.
Oder noch kühner:
Er wagt sich, Lot nicht zu vertreiben, sondern wählen zu lassen.
Er wagt sich, Gottes Verheißung mit ihm zu teilen!
Unglaublich!
Ob Lot das begreift?
Ob die Hirten das spüren?
Es wird nicht erzählt. Es muss erhofft werden.
Lot zieht weiter. Abraham bleibt zurück. Seine Lage ist nicht kritisch. Noch nicht - aber die Aussichten sind mager.
Da spricht Gott. Endlich.
„Hebe deine Augen auf uns sieh von dort wo du bist nach Norden, nach Süden, nach Osten, nach Westen.“
Schau hin. Und Abraham sieht sich um. Der neue Blick macht die Landschaft nicht grüner. Die Realität ist mühsam - in alle Richtungen. Das Glauben gegen den Augenschein ist schwer, auch für Abraham. Er weiß längst - mit Siegfried Lenz:
„Es trifft gewiss zu, dass die Hoffnung eine Gnade darstellt. Aber fraglos ist sie eine schwierige Gnade. … Wer sich ihr anheimgibt, ist keineswegs gegen alles gefeit. Die Hoffnung schützt vor keinem Pantherbiss. Aber sie lässt erkennen, wessen wir bedürfen, um bestehen zu können.“
Wessen.
Und während Abraham das noch denkt erneuert Gott seine Verheißung.
Das Land ist hell und weit.
So ist es.

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  Übergabe Nagelkreuz

Übergabe Nagelkreuz

Dean John Witcombe - 30.05.2023

Ich freue mich, hier bei Ihnen in Braunschweig zu sein. Ich hatte das Ver-gnügen, einige von Ihnen im Oktober letzten Jahres in Coventry zu treffen, und es ist mir eine Ehre, jetzt mit Ihnen in Ihrer eigenen Kathedrale zusam-men zu sein, während wir diese neue Etappe auf unserer gemeinsamen Reise auf dem Weg des Friedensstiftens und der Versöhnung feiern. Wenn wir uns in Kathedralen wie der unseren versammeln, mit all dem Raum und der Symbolik, der schönen Musik und unserem Platz im Herzen der Stadt-gesellschaft, haben wir die Möglichkeit, nicht nur unsere Kirchengemeinden aufzubauen, sondern auch dazu beizutragen, unsere Städte zu verwandeln in Orte des Friedens und der Hoffnung für alle. Wie Sie wissen, sind unsere drei Prioritäten auf dem Weg der Friedensstiftung in der Nagelkreuzge-meinschaft die Heilung der Wunden der Geschichte, das Lernen, mit Un-terschieden zu leben und die Vielfalt zu feiern und der Aufbau einer Kultur der Gerechtigkeit und des Friedens. Wenn wir alle Menschen in unseren majestätischen Gebäuden gleichermaßen und uneingeschränkt willkom-men heißen, setzen wir diese drei Prioritäten in die Praxis um und helfen allen, sich nicht nur in der Kirche, sondern auch in unserer Gesellschaft zu Hause zu fühlen. Eine indische Hindu-Frau sagte vor einigen Jahren zu ei-ner Kollegin in der Kathedrale von Leicester: „Weil ich mich in dieser Ka-thedrale zu Hause und willkommen fühle, fühle ich mich in dieser Stadt zu Hause und willkommen.“ Und vor zwei Jahren sagte eine asiatische Musli-min in Coventry „Für mich ist die Kathedrale von Coventry wie meine eige-ne Moschee.“ Wenn wir Menschen aller Hintergründe, Glaubensrichtun-gen, politischen Ansichten und persönlichen oder geschlechtlichen Identitä-ten willkommen heißen, lassen wir das Evangelium Wirklichkeit werden.

Wenn ich also heute zu Ihnen komme, dann weiß ich, dass ich mit Freun-den und Mitpilgern auf dieser Reise der Versöhnung unterwegs bin, mit dem Ziel, die Annahme und Akzeptanz aller Menschen zu fördern. Sie ken-nen Ihre eigene Geschichte, und es ist nicht nötig, dass ich sie hier erneut erzähle. Es könnte sich jedoch lohnen, die Geschichte von Coventry an dieser Stelle zu erzählen, da wir unsere beiden Geschichten miteinander verweben wollen. Ich weiß, dass viele von Ihnen unsere Geschichte ken-nen, aber es lohnt sich vielleicht, sie dennoch noch einmal kurz zu erzäh-len. Im November 1940 legte ein verheerender Luftangriff - der erste von vielen - das Herz von Coventry in Schutt und Asche. Über 20.000 Häuser wurden zerstört, etwa 100 Fabriken, Krankenhäuser, Schulen und die St. Michael's Cathedral gingen in Flammen auf. Mehr als 500 Menschen verlo-ren ihr Leben - aber noch viel mehr ihr Zuhause und ihren Lebensunterhalt. Die Bilder der zerstörten Kathedrale gingen um die ganze Welt, und der Verlust war damals unvorstellbar.

Doch was einfach eine Geschichte von Verlust und Verzweiflung hätte sein können, wurde durch den Dienst von Propst Howard zu einem Instrument, eine Botschaft der Hoffnung zu überbringen. Als er am Morgen nach dem Angriff, am Freitag, dem 15. November 1940, in den rauchenden Ruinen der Kathedrale stand, schrieb Propst Howard in sein Tagebuch, dass es sich anfühlte, als hätten wir an der Kreuzigung Christi teilgenommen – aber wenn wir an seiner Kreuzigung teilgenommen hätten, dann könnten wir auch durch Gottes Gnade und Kraft und durch das Vertrauen auf ihn an der Auferstehung Christi teilhaben: Die Kathedrale würde wieder auferste-hen. 22 Jahre später, 1962, wurde die neue Kathedrale von Coventry ge-weiht. Neben dem Alten stehend, mit ihm vereint als eine Kathedrale, die von Kreuzigung und Auferstehung, Ehrlichkeit und Hoffnung spricht, bringt sie vielen Inspiration und Trost.

Doch es war nicht nur das Engagement für den Wiederaufbau einer Ka-thedrale, für Steine und Mörtel, Glas und Holz, das in Coventry den Unter-schied ausmachte. Es war auch ein Engagement für den Wiederaufbau von Beziehungen. Nur wenige Wochen später sprach Propst Howard in ei-ner Weihnachtssendung des BBC World Radio Service davon, "alle Ge-danken an Hass und Rache aus unseren Herzen und Köpfen zu verban-nen und uns zu verpflichten, in den Tagen nach diesem schrecklichen Kon-flikt eine gütigere, sanftere und Christkind-ähnlichere Welt wieder aufzu-bauen".

Diese Arbeit begann konkret in Kiel in Norddeutschland, das ich im De-zember besuchte, nicht zum ersten Mal. Kiel und Coventry wurden beide vom Krieg verwüstet, wobei die Zerstörungen in Kiel denen in Coventry gleichkamen oder diese übertrafen und mehr als 2.000 Menschen starben. Kiel und Coventry begannen mit der Arbeit am Wiederaufbau einer friedli-chen Welt. Ein britischer Offizier aus Coventry war in den Nachkriegsmo-naten in Kiel stationiert. Oliver Schuegraf greift die Geschichte in seinem Buch „Das Kreuz der Nägel“ auf:

Nach einem Treffen mit einem in der Stadt stationierten britischen Offizier reifte im Kieler Oberbürgermeister Andreas Gayk der Wunsch, Kontakt mit Coventry aufzunehmen. In einer Lokalzeitung schrieb er im Januar 1947: „Die Zeit ist gekommen, in der die zwischen den Völkern Europas aufgeris-sene Kluft überbrückt und Wege der gegenseitigen Verständigung zwi-schen Mensch und Mensch gesucht werden müssen, die uns aus dem Ab-grund des Missverständnisses führen, in das wir in der jüngsten Vergan-genheit geraten sind! … Was halten Sie von der Idee, dass wir uns zu einer Gesellschaft der Freunde von Coventry zusammenschließen – und dass die Namen der zerstörten Städte Kiel und Coventry zum Symbol unseres spirituellen und moralischen Aufbruchs werden?“ Coventry antwortete auf die Aufforderung. Am 14. September 1947 kam eine Delegation aus Coventry – der Bürgermeister, ein Gewerkschaftsvertreter und Propst Ho-ward mit einem Nagelkreuz – nach Kiel. Es war die erste offizielle englisch-deutsche Städtepartnerschaft.

Die Kreuze bestanden aus Nägeln, die in der Nacht des 14. November 1940 vom brennenden Dach der St.-Michaels-Kathedrale gefallen und auf dem Boden verstreut waren. Ein örtlicher Priester begann mit der Herstel-lung dieser Kreuze – bestehend aus zwei horizontalen und einem aufrech-ten Nagel – als Symbol für die Gegenwart Christi inmitten der Zerstörung. Ein Symbol der Gegenwart Gottes – und damit auch der Hoffnung Gottes inmitten des Verlustes. Heute sind diese Kreuze und moderne Versionen davon auf der ganzen Welt in der Gemeinschaft des Nagelkreuzes zu fin-den, die sich der Arbeit für Frieden und Versöhnung verschrieben hat. Je-der Ort hat seine eigene Geschichte, jeder Ort verwirklicht den Versöh-nungsdienst Christi in seinem eigenen Kontext. Jedes Mal, wenn ein neues Mitglied hinzukommt – und hier in Deutschland sind es mittlerweile rund 80, weltweit sind es 250 – wird die Geschichte aufgefrischt und erneuert.

Propst Howard macht in seiner damaligen Ansprache sehr deutlich, dass diese Aufgabe des Wiederaufbaus von Beziehungen vom gegenseitigen Zuhören, von der Hinwendung zueinander und von der gemeinsamen Hin-wendung zu Gott abhängt. Oliver Schuegraf gibt die Worte von Dick Ho-ward wieder: "So möchte ich Ihnen heute sagen, dass eine der großen Aufgaben, die vor dieser Gesellschaft der Freunde von Coventry und Kiel liegt, darin besteht, dass wir durch unsere Freundschaft füreinander ... ei-nander helfen, den Weg zu einer neuen Erfahrung des Glaubens an und des Gehorsams gegenüber Jesus Christus, dem Inspirator und der Energie unseres Wiederaufbaus, zu finden ... Mit einem solchen neuen Licht und einer neuen Kraft Christi in unserer Mitte gibt es jede Hoffnung auf endgül-tigen Frieden und Glück für Ihr geliebtes Kiel und unser geliebtes Covent-ry."

Wie können wir diese Arbeit heute fortsetzen? Wenn wir die Geschichte lesen, scheinen wir eingeladen zu sein, "auf den Schultern von Riesen zu stehen". Wie können wir auf den Schultern derer in Kiel und Coventry ste-hen, die bereit waren, einander und Gott die Hand zu reichen und sich an die Arbeit zu machen, um die Welt als einen Ort des Friedens und der Ge-rechtigkeit für alle wieder aufzubauen? Ein Ort, an dem sich die nächsten Generationen entfalten können. Heute ist die Aufgabe weiterhin dringend. Angesichts des Krieges vor unserer Haustür in der Ukraine, des Wiederer-starkens aggressiver nationalistischer Bewegungen in der ganzen Welt, der neu entdeckten Herausforderungen des Klimawandels, die zu Nah-rungsmittelarmut und existenzieller Bedrohung auf dem gesamten Planeten führen, gibt es viel zu tun.
Ich bin der Überzeugung, dass unsere Geschichte, die Geschichte von Coventry und Kiel - und natürlich ähnliche Geschichten von Coventry und Hamburg, Berlin und Dresden - immer noch die Kraft haben, uns zu ge-meinsamen Aktionen für die Zukunft zu inspirieren. Wir sind es nicht nur uns selbst, sondern auch denen, die nach uns kommen, schuldig, diese Arbeit fortzusetzen, um die Welt, die wir so oft zu zerstören scheinen, im-mer wieder neu aufzubauen. Die Versöhnungslitanei von Coventry, die wir in diesem Gottesdienst beten werden, ruft uns jeden Tag in Coventry dazu auf, uns die Art und Weise vor Augen zu führen, wie wir alle unsere Welt auseinanderreißen, Gott um Vergebung zu bitten und uns für eine andere Zukunft einzusetzen. Es ist ein Gebet der Reue, aber auch der Hoffnung.

All dies mag als all zu viel des Guten erscheinen - und vielleicht scheint die Aufgabe aussichtslos. Aber es ist nicht in erster Linie unsere Aufgabe. Es ist das Werk Gottes, durch Gottes Sohn Jesus Christus - Gott hat die Arbeit getan, Jesus hat die Versöhnung gewonnen. Jesus hat, wie wir im Verei-nigten Königreich sagen, "das schwere Heben" getan. Er hat die Macht der Sünde gebrochen, die uns voneinander und von Gott trennt. Was uns auf-getragen ist, wie Paulus im zweiten Korintherbrief sagt, ist der Dienst und die Botschaft - das Vergegenwärtigen und Bekanntmachen - der Versöh-nung, die Gott in Jesus Christus für uns getan hat. "Das alles kommt von Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus und uns das Amt der Versöhnung gegeben hat, das heißt, dass Gott in Christus die Welt mit sich selbst versöhnt hat, indem er ihnen ihre Schuld nicht anrechnete und uns die Botschaft von der Versöhnung anvertraut hat." Gott hat das Tor zu einer neuen Welt aufgestoßen - es liegt an uns, es zu durchschreiten und anderen zu helfen, dasselbe zu tun. Das ist der Zweck der Nagelkreuzge-meinschaft - die Menschen in eine neue Welt einzuladen, und ich freue mich, dass Sie sich entschieden haben, sich mit so vielen anderen in der ganzen Welt zusammenzuschließen, um dies Wirklichkeit werden zu las-sen.

Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Ge-meinde und in Christus Jesus durch alle Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. Eph 3. 20, 21

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  Pfingsten

Pfingsten

Cornelia Götz, Dompredigerin - 28.05.2023

In der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 öffneten die Ungarn ihre Grenzen zu Österreich für DDR- Bürger und Bürgerinnen, die den Osten verlassen wollten. Meine Schwester und ich kamen an diesem Morgen mit dem Nachtzug aus Bulgarien. Wir waren ohne Nachrichten in den Bergen gewesen und hatten keine Ahnung von dieser Entwicklung. Wir wollten nur eine Runde durch Budapest drehen. Und dann heim - Richtung Dresden. Aber in der Stadt spielten sich unbeschreibliche Szenen ab: Familien stritten sich, gehen oder bleiben, Pärchen trennten sich, andere verschenkten ihre Wartburgs oder ließen den Trabbi, auf den sie jahrelang gewartet haben mitsamt den Zündschlüssel einfach stehen. Aus Lautsprechern kamen Informationen, wo die Busse nach Wien abfahren und mittendrin in diesem chaotischen emotionalen Gewühle hatte eine Gruppe von Menschen einen Kreis gebildet und pries den HERRN mit lautem Halleluja.
Ein unvergessliches Bild.
Die waren nicht von dieser Welt.
So ähnlich muss es auch den Beobachtern des Pfingstwunders gegangen sein:
Da ist eine Gruppe von Menschen aus aller Herren Länder und alle reden wild durcheinander, tun so als wären sie ein Herz und eine Seele oder doch wenigstens auf einem Familientreffen - jede und jeder redet was Anderes, aber das scheint keinem aufzufallen - im Gegenteil; sie verstehen sich. Von außen betrachtet, gibt es nur einen Befund:
Die sind durch den Wind. Sternhagelvoll.
Solchen Eindruck können Christenmenschen machen, wenn sie sich dem Heiligen Geist überlassen und Gott feiern.
Ist es mit uns auch so? Wie wirken wir? Besoffen vor Begeisterung?
Eher nicht… - aber wäre es schön?
Ich vermute, solche Ekstase ist den meisten unter uns eher suspekt. Das Gloria hat seine liturgische Form und der Friedensgruß beim Abendmahl ist für manche die absolute Obergrenze der Annäherung an Christennachbarn…
Und trotzdem werden wir damit rechnen müssen, dass Menschen, die nichts mit Kirche zu tun haben über das was wir glauben und reden den Kopf schütteln:
• wir bekennen einen Gott, der drei sehr verschiedene Seinsweisen hat und der trotzdem nicht drei Verschiedene sondern immer nur ein und derselbe ist
• wir sagen, dass Gott die Welt geschaffen hat und in der Geschichte wirkt - deswegen beansprucht das Volk Israel ein ganz konkretes Stück Land auf der politischen Karte und sagen auch, dass Jesus zur Zeit von Herodes und Pontius Pilatus lebte und gekreuzigt wurde - aber wir erleben die Geschichte Jesu trotzdem jedes Jahr so, als geschähe sie genau jetzt, hier unter uns
• wir teilen Brot und trinken Wein und sagen, dass es Fleisch ist und Blut, weil wir glauben, dass diese Mahlzeit uns mehr stärkt als jede Kalorienzufuhr, dass diese kleine Stärkung Herz, Seele und Verstand neu macht, Vergebung und Frieden ermöglicht
• und nicht zuletzt meinen wir, dass unser Gott in Jesus Christus während seines Menschenlebens unter römischen Bedingungen im vorderen Orient vorgemacht hat, wie es hier in unserer Gesellschaft zugehen soll: wie wir mit Minderheiten, Armen und Kranken umgehen sollen, dass Geld und Besitz uns hindern so zu leben, wie wir es eigentlich wollen sollten, dass Frieden mit Gewalt nicht zu haben ist.
Wenn wir dann versuchen, aus diesem Vorbild Schlüsse zu ziehen, dann werden das - von außen betrachtet - naive politische Haltungen, wirtschaftlich unverantwortliche Statements oder moralische Gestrigkeit garniert mit Tempo 100 und „Frieden schaffen ohne Waffen“.
Und erst recht nicht von dieser Welt ist die Tatsache, dass die Begründung für all das weder wissenschaftliche Erkenntnisse noch Ratingagenturen oder Statistikämter liefern, sondern ein uraltes Buch und ein Typ, der nicht eben auf der Siegerstraße unterwegs war…
Das muss von außen betrachtet wirken, als hätten wir nicht alle Tassen im Schrank.
Kein Wunder, dass wir nicht mehrheitstauglich sind.
Geschieht uns recht, dass wir mit Rückfragen konfrontiert werden, auf die es keine einfache Antwort gibt: und du meinst, dass du keine Waffe brauchst, damit deine Liebste nicht vergewaltigt wird und du denkst, dass wir hier alle Flüchtlingen reinlassen können und was machst du mit den Arbeitsplätzen in der Autoindustrie…. Und guckt euch doch mal euren eigenen Laden an.
Das ist alles so realitätsfern, dass man gut fährt, wenn freundlicherweise über uns nur gesagt wird, die sind durch den Wind, betrunken, verrückt.
Ganz selten nur konstatiert die Welt in und um uns, dass da einer dem Rad in die Speichen gefallen ist, dass da eine Bewegung die Welt verändert hat, dass Gebete politische Wirklichkeit schufen - weil dieses „durch den Wind sein“ vielleicht doch eine Geistbegabung ist, die der Menschlichkeit hier auf Erden den Weg weist.
Allermeist ist es eher wie oben beschrieben und das wird nicht einfacher dadurch, dass jede und jeder von uns Teil dieser Welt und all ihrer Mechanismen und Systeme ist.
Dabei wäre es für unsere gebeutelte, friedlose, ungerechte Welt so gut, wenn Gottes Wille hier auf Erden geschähe, wenn wir lebten wie solche, denen die Erde anvertraut ist und die nahen und fernen Nachbarn uns nicht fremd wären, sondern wichtige Herzensmenschen.
Ich weiß - ich klinge wie die Besoffenen und Verrückten, die Kinder und die Träumenden.
Es geht nicht anders.
Es muss so sein.
Es war schon immer so und ich kann - um die Schraube noch ein klein wenig weiter zu drehen - all das nur mit einem uralten Brief erklären, der vor 2000 Jahren materialiter abgeschickt wurde
heute bei uns ankommt. Paulus schreibt:
„Wir haben nicht den Geist der Welt empfangen“ also keinen Geist, der tickt wie die Welt, wie sie urteilt, rechnet und analysiert, „sondern den Geist aus Gott, damit wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist.“ Wir sind also verbunden durch einen Geist, der einen anderen Rahmen, ein andere Ziel weiß und uns an unsere Grenzen erinnert. „Deshalb reden wir auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann“, deshalb folgen wir einer anderen Logik als der von Selbstoptimierung, Wachstum und Erfolg und „deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen.“ fragen, wenn es uns gelingt, nach Trost, nach Würde, nach Freiheit, nach Gerechtigkeit. „Der weltliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist“, denn sein Koordinatensystem funktioniert anders, was nicht in diesem einen Erdenleben möglich ist, kann nicht entscheidend sein, „es ist ihm eine Torheit, er kann damit nichts anfangen“. Wie auch, es braucht Gottes Geist, um so zu verstehen. Denn wer weiß, was Gott im Sinn hat? Keiner.„Was aber wir im Sinn haben, das kommt von Jesus Christus“.
Mithin: was uns so weltfremd erscheinen lässt, ist Gott, sein Geist.
Es ist seine Gnade, wenn sein Geist uns umtreibt, durch‘s Nadelöhr, das nur Kinder und Verrückte sehen, hindurch.
Es ist sein Segen, nicht ganz von dieser Welt zu sein.
Amen

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  Kantate

Kantate

Cornelia Götz, Dompredigerin - 07.05.2023

„Wo man singt, das lass Dich ruhig nieder, böse Menschen kennen keine Lieder, sondern nur ein Radio und ein Fernsehapparat!“
Diesen Kanon habe ich in der Kurrende gelernt. Ich konnte ihn nicht leiden.
Einerseits, weil ich den, der ihn uns beigebracht hat, nicht mochte und andererseits, weil bei uns Zuhause das Radio über allen Maßen geliebt wurde und wir damals zwar keinen Fernseher hatten aber gern einen gehabt hätten…
Und außerdem menschelte es natürlich auch in der Kurrende.
Später merkte ich: wir singen diesen Kanon nur in der Kurrende. In der Schule war er unbekannt oder nicht wohlgelitten. Dort sangen wir „Brüder zur Sinne zur Freiheit“ und „Den kleinen Trompeter“. Manche der Schullieder waren dabei echte Ohrwürmer und auch nicht alle Menschen um mich herum böse - aber ein Ort für ruhiges geborgenes Sein war die Ost-Schule in der Tat nicht.
So ambivalent blieb es: Im Wehrunterricht sangen wir beim Marschieren und beim Wandern in den rumänischen Karpaten auch, meine Mutter sang uns zum Einschlafen die schöne Lilofee vor und beim Putzen sang sie zu den Abbas und als wir schließlich im Zivilverteidigungslager einkaserniert wurden, sangen wir die „Moorsoldaten“, gegen die keiner was haben konnte obwohl sie herrlich widerständig waren.
Es ist also nicht gewiss, dass Gesang ein Zeichen für gute Gesellschaft und gute Menschen ist.
Es ist gewiss, dass auch Musik missbraucht wird.
Wir bergen uns in ihr, lassen uns trösten aber eben auch verführen, wagen große Gefühle und manchmal sogar Bekenntnisse, weinen und wüten, verstecken uns in ihr oder manipulieren.
Es kommt mithin sehr drauf an, was wir singen und wem wir singen oder musizieren.
Um die Gedanken diesbezüglich zu sortieren, haben wir vorhin die Geschichte von David und Saul gehört.
Saul, der alte König, war unberechenbar geworden, böse und gefährlich.
Die Macht hatte ihn verändert. Oder das Alter? Vielleicht war auch seine Wahrnehmung nach den Jahren an der Spitze eines Apparates getrübt. Ehrliche Kritiker gab es in seiner Nähe vermutlich schon lange nicht mehr. Das System tat, was es glaubte, das ihm gefiel.
So verlor der alte König den Resonanzraum, der das Gewissen zum Klingen bringt und der Liebe ein Gegenüber schafft.
Er wurde einsam und misstrauisch.
Darum suchte man nach Mitteln der Besänftigung.
Nach Befriedung der wütenden alten Seele.
Und so schlug man dem König vor, nach einem begabten Musiker zu suchen. Er sollte das Saitenspiel beherrschen. Wer Biermannlieder kennt, weiß, dass auch mit der Klampfe Aufruhr möglich ist. Aber die Harfe, so dachte man, könnte sanft genug sein…
Musiktherapie für den Diktator…
Saul stimmte zu. Vielleicht aus Müdigkeit, vielleicht aus Sehnsucht nach der verschütteten freundlichen Variante seiner selbst? Vielleicht in der Hoffnung, dass das Reine, Schöne wieder zum Vorschein kommt, der Saul, der er mal gewesen ist.
Diese Zustimmung ist seine Chance. Und Saul nutzt sie.
Er öffnet sich noch einmal der Zärtlichkeit. Er riskiert, sich berühren und erweichen zu lassen. Zu lieben. Schutzlos zu sein.
Unglaublich eigentlich. Und zugleich die Erinnerung daran, dass Menschenwürde unantastbar ist. Auch ein Kriegsherr, ein Tyrann hat sie.
Die erleichterten Bediensteten bringen einen, der „des Saitenspiels kundig ist“.
Er musiziert sich in Sauls Herz. Der alte König überwindet die innere Dunkelheit. Es wird noch einmal gut. Die Musik wird zur Lebenshilfe.
Es ist eine große Gnade, sie spüren zu können.
Ein Gottesgeschenk.
Aber wie gesagt: es ist ambivalent.
Denn der junge Musiker, der da vor Saul erscheint - David, ist eben nicht nur ein selbstvergessener Klangkünstler, sondern auch ein ehrgeiziger begabter Mann, gebildet, sportlich, schön.
So wird nicht nur Harfe spielen, um einen verstörten alten Mann zu beruhigen.
Sie werden miteinander ringen. Der Harfenspieler wird Saul beerben und eines Tages selbst König sein. Es ist ein Machtspiel - in den schönsten Tönen.

„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder“???
Können wir hier ruhig sitzen und uns der Musik überlassen?
Dieser Sonntag heißt „Kantate“ nach dem 98. Psalm:
„Singt dem HERRN ein NEUES Lied, denn er tut Wunder.
Der Wochenspruch richtet unser Singen aus.
Denn die alte Geschichte birgt noch ein wichtiges Detail: es ist ein Geist Gottes, der Sauls Seele verdunkelt. Gott zwingt den alten Machthaber in die Knie. Aber es ist auch seine schöpferische gute Gabe, Davids Musik, die Sauls Seele wieder hell macht.
Gut und Böse bleiben nah beieinander, finden sich in demselben Menschen - ringen.
Es ist eine Lebensbewegung, wir entziffern uns nur langsam.
Saul erfährt das. Gott wirkt in seinem Leben.
Er gewann den David lieb. Es wurde besser mit Saul.
Durch Gottes Nähe. Sie zeigte sich in der Musik.
Denn er tut Wunder.

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  Jubilate

Jubilate

Cornelia Götz, Dompredigerin - 30.04.2023

Wer sich stur an den Kalender hält, kann manchmal gewaltig aus dem Tritt kommen. Er ist womöglich mit den falschen Anziehsachen unterwegs, wird sich erkälten oder schrecklich schwitzen, erleben müssen, dass Blumen erfrieren oder zusehen, wie sie mitten im Winter blühen.
Die Natur macht nicht, was der Kalender sagt.
Unser Herz und Seele oft auch nicht.
Wir müssten an Karfreitag eigentlich in Trauer fallen - aber dann war es endlich ein heller warmer Tag und die Menschen standen fröhlich plaudernd auf dem Burgplatz, kamen heiteren beschwingten Schrittes zur Passionsmusik.
Ich auch.
Angst und Traurigkeit, Freude und Glück stellen sich nicht immer so ein, wie es die äußeren Parameter erwarten ließen.
Und jetzt?
Ist österliche Freudenzeit!
So sagt es der liturgische Kalender. Die Paramente sind weiß - Christusfest. Altes Testament und Epistel erzählen von der Schöpfung und davon wie alles gut eingerichtet ist, außen und innen - weil wir Teil all dessen sind, was Gott gut gemacht hat. Überall blüht es.
Lasst uns jubilieren!!!
Ja!
Aber … Haben wir denn Grund in dieser Welt? Es ist noch nicht vollendet, Tränen sind noch nicht abgewischt, das lebendige Wasser ist zur umkämpften Kostbarkeit geworden, Frieden auf Erden scheint weiter weg denn seit langem - und ob wir Menschen seines Wohlgefallens sind?
Wir leben im Glanz des Ostermorgens und kriegen eine Abschiedsrede als Evangelium zu hören. Worte über eine kleine Zwischenzeit, in der wir gleichzeitig glücklich und gottverlassen sein werden.
Jesus Christus spricht: „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.“
Nur noch eine kleine Weile, dann kommt eine Trennung und ein Wiedersehen, dann hat die greifbare Nähe ein Ende und kommt er zurück.
Ich muss kurz weg und dann bin ich wieder da. Wer kennt das nicht. Wir sagen es, damit wir gehen können. Wir quälen uns damit, wenn wir zurückbleiben.
Im h sehnsüchtigen Warten kann man sich nicht einrichten.
Es bleibt immer eine Leerstelle.
Die Unruhe verhindert die Konzentration auf das was ist.
Und gleichzeitig wird Abend und Morgen, wir stehen immer wieder auf, versorgen Kinder und Alte, essen und trinken, erledigen, was vor die Füße fällt und erschrecken uns dann und wann, weil die Zeit vergeht und wo bleibt er eigentlich???
Wollte er nicht längst da sein?
Es drängt! Wir brauchen ihn!
Wenn dann einer vorschlägt, zu jubilieren, könnten die angespannten Nerven reißen.
Wenn dann eine großes Halleluja singen will, könnte das magere Katzenmusik werden.
Komischer Osterfestkreis.
Versteht das wer? Alle Knospen springen auf, fangen an zu blühen, alle Nächte werden hell, fangen an zu glühen, Menschen teilen, Wunden heilen, die Welt steht trotzdem am Abgrund - oder nicht?
„Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.“
Was soll das bedeuten??? Fragen sich die Jünger.
Der Predigttext heute - die Begleitmusik zum Jubilieren - ist ein einziges riesiges Fragezeichen. Vier Verse lang Fragezeichen:
Was soll das heißen? Wie kann der Messias, er lang Ersehnte, wieder gehen wollen? Wohin? Und für wie lange? Was soll denn eine kleine Weile sein???
Vierzig Jahre Wüstenwanderung oder ein Jahr Krieg? Neun Monate bis ein Kind geboren ist oder drei Stunden, die zwei syrische Schwestern gegen das Ertrinken kämpfen?
Was soll das heißen? Eine kleine Weile? Einen Lockdown auf meinem Küchensofa oder doch mein ganzes Leben lang und das meiner Eltern und Kinder dazu?
Gotteszeit und Menschenzeit kann man nicht mit denselben Uhren messen.
Das könnte egal sein, wenn wir wüssten, dass wir gerade in der Weile sind, in der er da ist. Ist er da? Sehen wir ihn? Sehen wir ihn nicht?
Und wenn wir ihn ich sehen, liegt es womöglich daran, dass wir ihn nicht erkennen? Fragen über Fragen.
Es ist bizarr - aber nicht mal die Jünger, die ihn vor sich direkt vor sich haben, können mit Jesu Worten etwas anfangen.
Sie fragen sich auch: „Was bedeutet das … wir wissen nicht, was er redet.“
Wenn sie es nicht wissen, dann scheint Gewissheit nicht möglich. Dann kann man nur wissen: Glauben kann nicht festgeschrieben werden. Gott kann nicht in Dogma oder Bekenntnis gezwängt werden. Auch wenn er uns ganz nah ist, wissen wir nicht: So oder so ist es. Dies oder jenes muss jetzt passieren.
Das spüren Jesu nächste Freunde und es verwirrt sie so sehr, dass sie nicht einmal klar formulieren können, was sie so durcheinander bringt.
Jesus merkt es. Er spürt ihre Fragen. Er bestätigt: ja, es ist schwer zu begreifen - alles ist gut und nichts kann bleiben wie es ist und beschreibt, was auch wir erleben:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden.“
Genau so sah es am Karfreitag auf dem Burgplatz aus: Kreuzigung und Frühlings Erwachen, Schmerzensmusik und Freude pur. Einerseits dröhnt es von schlechten Nachrichten und andererseits Tanz in den Mai. Und dabei hat die Welt den richtigen Riecher! Sie ist uns einen Schritt voraus!
Es gibt Grund zur Freude. Die Welt hat Recht! Die Schöpfung hat Recht.
Nur wir hängen noch dazwischen. Hängen an ihm - an Jesus Christus.
Betrauern, was mit ihm möglich zu werden schien - hier unter uns und was wir ohne ihn nicht hinkriegen: das Teilen von Brot und Wein und Geld und Zeit, das Heilen von Wunden, Schmerz und Leid, das Wissen, dass das Leben nicht vergeht…
Osterfestkreis.
Selig sind, die sich freuen!
Wenn wir das gelernt haben, ist Ostern geworden und die kleine Weile vorbei und so schließt der Predigttext „an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen.“
Und bis dahin halte ich es mit Rainer Maria Rilke an Franz Xaver Kappus in Worpswede schrieb:
„Und so möchte ich Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben sind.
Forschen Sie jetzt nicht nach Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie jetzt nicht leben könnten - und es geht darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines Tages in die Antwort hinein.“

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  Osternacht

Osternacht

Cornelia Götz, Dompredigerin - 08.04.2023

„Gott, unser Gott, Tote werden nicht mehr leben! Verstorbene werden nicht mehr auferstehen … Jede Erinnerung an sie hast du getilgt.“
So klingt der Prophet Jesaja heute Abend und erinnert mich an eine Osternacht, in der ich das Gefühl nicht loswurde, dass immer mehr Steine vor das Grab gerollt werden.
Ja doch! Wir haben es verstanden.
Tote sind tot und es tut bitter weh, wenn auch die Erinnerung verlorengeht.
Ja doch!
Eine meiner Erinnerungen, die unverwüstlich lebendig ist, gehört zu einem fröhlich frechen Architekten. Er und seine Frau waren Freunde meiner Eltern. Sie lebten in einem gemütlichen Haus in Dresden mit den Schätzen einer Familie - der großmütterlichen Puppenstube, Büchern, Schallplatten, Wein und Freunden, ihrem Kind. Aber sie litten unter der DDR und träumten von der Freiheit und vom Reisen, von schönen Autos und einer selbstbestimmten Zukunft ihres Sohnes. Sie wollten das mehr als alles andere. Also stellten sie den Ausreiseantrag und gingen ins Gefängnis, ihr Sohn kam ins Kinderheim. Was hier in wenigen dürren Worten steht, war unglaublich hart… erst recht, weil keiner ahnen konnte, dass die Tage der ostdeutschen Diktatur gezählt waren. Eines Tages kamen sie jedenfalls raus - in den Westen - alle drei. Und begannen das Leben, von dem sie geträumt hatten. Es dauerte nur kurz - bis zu seinem Unfall mit dem schönen schnellen Auto.
Auf der Anzeige stand eine Gedichtzeile von Rainer Maria Rilke:
„Gib mir noch eine kleine Weile Zeit, ich will die Dinge so wie keiner lieben!“
Für ihn, den viel zu früh Gestorbenen, wäre eine kleine Weile mehr, sehr viel gewesen - er hätte es geschafft die Dinge so wie keiner zu lieben, denn hatte er die Nase in dieser Kunst ziemlich weit vorn.
Aber ich glaube, dass ich diese Anzeige nicht vergessen habe, liege eher daran, dass ich es wie einen zärtlichen und stürmischen Protest gelesen habe:
Das kann doch nicht alles sein!
So kann es doch nicht zuende gehen!
Da rüttelt jemand an uns, die wir manchmal so gedankenlos durch‘s Leben dümpeln, will sich nicht abfinden, bleibt dabei, dass es doch auch ganz anders sein kann und werden muss - und das steckt an und plötzlich wird auch Jesaja deutlich und kraftvoll, richtiggehend widerständig:
Und er schreibt oder singt oder trompetet:
„Deine Toten sollen leben und die Leichen auferstehen!“
Ja!! das sollen und das werden sie! Afrikanische Christen singen bei einer Beerdigung so laut und fröhlich, weil sie dem Toten „Anschwung“ in den Himmel geben wollen. Das haben wir hier erlebt. Denn – so heißt es weiter bei Jesaja:
„Auf und jubelt, die ihr im Staub sitzt!“
Und dann kommt eine wunderbar poetische Zeile:
„Dein Tau ist ein Tau von Licht, du lässt ihn auf das Land der Verstorbenen fallen!“
Stellt euch das vor!!!
Morgentau liegt auf dem Land und auf den Friedhöfen, auf unseren Fensterbrettern und Bettdecken und er schimmert.
Eine feine Lichtdecke liegt über unserem Leben - und wir erkennen darin Umrisse einer neuen anderen Welt - voller Gerechtigkeit und Freiheit und Sanftmut und Liebe.
Lichttau liegt auf unserem Leben und wir erinnern uns an die Schönheit der Schöpfung und an die Unverwüstlichkeit der Hoffnung, an den Stern von Bethlehem und das Leuchten um die himmlischen Heerscharen, an die liebevolle Verklärung in den Gesichtern derer die uns lieben.
Der Rilke hat so recht.
Tau von Gottes Licht liegt auf allem und wer wollte da nicht bitten:
Gib mir noch eine kleine Weile Zeit, ich will die Dinge so wie keiner lieben!“
bis sie dir alle würdig sind und weit. Ich will nur sieben Tage, sieben!“
Lass mich nicht mitten im Leben sterben! Nicht ewige Krise denken und aufgeben.
Ich will das Leben ganz neu lieben! Ich will mich wieder verlieben in den Frühling und in das Morgenlicht, in die Menschen um mich herum, in den Geschmack der kleinen Dinge und das große Osterlob.
Gib mir nur sieben Tage, sieben - und einen ganzen Schöpfungsbogen - und alles wird Gott würdig, heilig!
Das Leben und Gott, der es schenkt, ist so viel größer und gewaltiger als das Sterben, der Kreislauf der Dinge, das Erde zu Erde und Staub zum Staube!
„Gib uns noch eine kleine Weile“ - damit wir Ostern nicht zu klein denken!
In sieben Schöpfungstagen ist alles möglich!
Hier unten auf Erden und oben im Himmel! Wieder klingt das Frieden auf Erden, wieder leuchtet Gottes Antlitz unter uns. Der Herr ist auferstanden! Halleluja!

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  Karfreitag

Karfreitag

Cornelia Götz, Dompredigerin - 07.04.2023

Was wäre, wenn …?
Was wäre, wenn wir uns irren, wenn wir glauben, dass Karfreitag ein Tag ohne Blumen und in Moll sein muss?
Was wäre, wenn dort doch Gloria und Lob und Dank hingehören?
Was, wenn die Geschichte am Kreuz nicht Ohnmacht erzählt, sondern Ordnung und Vollendung?
Dann ist der Kolosserhymnus ein „O Du fröhliche“ geworden oder ein „Eingeladen zum Fest des Glaubens“ - ein Lied, das uns verbindet, froh macht und hoffnungsvoll.
Denn es geht heute gar nicht so sehr um unsere Zerknirschung.
Es geht um alles.
Weil Gottes Geschichte die eines Anfängers ist, der immer neuen Zauber schafft.
Und ehe Sie sich jetzt fragen, welche rosa Brille ich aufgesetzt habe, lasst uns noch einmal auf das uralte Lied über diesem Tag, den Kolosserhymnus, hören - wie wunderbar er klingt:
„ER ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung;
denn in IHM wurde alles geschaffen, im Himmel
und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare;
durch IHN und auf IHN hin ist alles geschaffen.
Und ER ist vor allem,
und alles findet in IHM seinen Zusammenhalt,
und ER ist das Haupt des Leibes (nämlich der Kirche).
ER ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten;
denn in IHM gefiel es aller Fülle Wohnung zu nehmen,
und durch IHN und auf IHN hin alles zu versöhnen,
Frieden schaffend sei es dem auf der Erde,
sei es dem im Himmel.“
ER ist es und Ihm gefiel es.
Aber ?! Dröhnt es im Kopf.
Aber?! Gefällt es ihm auch, dass sich die Erde aufbäumt und Tausende unter den Trümmern ihrer Häuser begräbt? Will er mit seiner Wohnung nehmen wo ein Einzelner Krieg befehlen kann und so das Leben zahlloser Menschen zerstört, wo Kinder entführt, Männer und Frauen zum Kriegsdienst gezwungen und Landschaften zerstört werden? Gefällt es ihm, dass Krankheiten Menschen zerfressen, die noch nicht mal richtig angefangen hatten zu leben…
Ich könnte ewig weitermachen.
Wer wollte angesichts all des Leides in unserer Welt noch beten: „Dein Wille geschehe!“
Wer wollte in dem elenden Chaos mit Blick auf das Kreuz und den unschuldig hingerichteten Jesus Christus nicht von Ohnmacht reden, von Opfer, davon, dass wir offenbar selbst schuld sind? Wer wollte da nicht die Hoffnung verlieren?
Oder gleich Kirche und Glauben den Rücken kehren?
Nicht alle.
Im Gegenteil:
Menschen haben sich an all diesen Fragezeichen die Stirn blutig geschlagen und den Rücken mit Peitschenhieben zerfetzt, weil sie an Gott festhalten und ihn gnädig stimmen wollten. Sie haben gerungen, um eine Antwort auf die Frage nach dem Bösen zu finden, die mit Gott auskommt.
Sie haben es immer und immer wieder versucht.
Sie haben das Böse und Schlechte in uns Menschen gekannt und von Adams und Evas Gier und Habsucht erzählt, von Kains Neid und seiner Mordlust, vom Größenwahn der klugen Baumeister in Babel und von Jakobs Betrügerei erzählt, von zahllosen Schlachten.
Sie haben von Gottes Zorn erzählt und von der großen Flut, die all das ertränken sollte. Nur der eine handverlesene Gute, Noah, mit seiner Familie, überlebte. Mit ihm machte Gott einen neuen Anfang. Und doch ging alles wieder von vorn los: Hass und Geschrei, Gewalt und Schmerz.
Die Menschen sind zu Sklaven geworden, zu Wüstenwanderern, zu Vertriebenen.
Propheten haben auf sie eingeredet.
Aber das Böse hat nicht an Kraft verloren. Im Gegenteil. Wir sind zu schlecht, zu verbogen, zu kleinmütig, zu unwürdig - eine einzige Enttäuschung.
Aber Gott ist der EINE, wir sind ihm ähnlich - trotzdem, haben sie erzählt. Er hat einen Bund mit uns geschlossen, haben sie geglaubt. ER ist derselbe. Vor aller Zeit und bis in unser Alter.
Ein tapferes Bekenntnis ist das. Aber keine Antwort, die den Zustand unserer Welt erklärt.
So versuchten sie neu und kühn zu denken.
Mit dem Hiobbuch. Dort wird erzählt, Gott hätte mit dem Satan gewettet und ihm - dem Bösen - freie Hand gelassen. Das Böse darf sich mit Gottes Erlaubnis austoben auf Erden und einen Menschen quälen, der nichts getan hat, der trotz allem an Gott festhält - der sein Unglück nicht verdient hat.
Das ist ein Antwortversuch, der ausschließen will, dass es eine Sündenlogik gibt, dass alles Schlimme Strafe ist. Das Hiobbuch wagt die Ungeheuerlichkeit, bei Gott nach der Ursache des Bösen zu suchen - nicht bei den schwachen, selbstsüchtigen und unvollkommenen Menschen.
Die Verfasser des Hiobbuches muten uns zu:
Wenn Gott in seiner Wette auf Hiob setzt, darauf dass der seinen Glauben und sein Vertrauen in Gott nicht aufgibt - auch wenn ihm alles Unglück dieser Erde zustößt - dann braucht Gott diesen Menschen, um dem Bösen zu widerstehen. Dann schafft er es nicht allein!
Und Hiob steht es durch! Das Sterben seiner Kinder, den Bankrott, die entsetzliche Krankheit, die Einsamkeit, den Streit, den Zweifel.
Er gibt nicht auf. Er kann nicht aufgeben.
Denn Gott lässt ihn nicht sterben.
Im Gegenteil. Er belohnt ihn überreich. Und so scheitert auch diese Erklärung. Es ist nicht zu begreifen. Gut und Böse folgen keiner Logik, die wir in Gesetze packen könnten.
So bleibt es.
Bis heute.
Heute, an Karfreitag gibt Gott selbst die Antwort - ein für alle Mal. Und sie klingt - mit dem Kolosserhymnus - so:
Weil ER der große Schöpfer ist, DERSELBE, der ER immer war und ist und bleibt, ist Karfreitag keine Geschichte von Ohnmacht und Chaos, menschlicher Willkür und menschlicher Schuld. Sie spiegelt das alles: im Geschrei der Menge, in Verrat und Lüge, in der Inkonsequenz des Pilatus, in der Lust am Foltern und Quälen und Töten.
Dieser scheint wieder Hiob zu sein.
Aber diesen Menschen lässt Gott sterben!
Und mit ihm stirbt Gott den Tod, bricht damit seine Macht und zeigt:
Karfreitag ist kein Unfall der Geschichte. Er offenbart Gottes Ordnung.
Karfreitag ist auch kein Ausrutscher, sondern eine Möglichkeit gelingenden Lebens, weil es hinter allem Leid, noch ein Dahinter gibt:
Unseren Gott, der derselbe ist vom Anbeginn der Welt, der Leben schenkt und seine Menschen segnet, der Licht und Finsternis scheidet und alles in allem ist.
Er wirkt auch heute einen Anfang - wie am ersten Tag der Schöpfung.
Das erzählt der Kolosserhymnus.
Dieses Bekenntnis kann kein Traktat sein. Es muss ein Hymnus sein. Große Verskunst.
Designer würden sagen: Form follows function.
Weil Gott Schönheit und Struktur die Fülle selbst IST, kann das das Böse keine chaotische Gegenmacht sein, sondern ist nicht mehr als eine Herausforderung, die erlöst und geordnet werden wird, von dem der vor allem WAR und in allem IST.
Heute ist der Schöpfergott am Werk.
Derselbe.
„ER ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung;
denn in IHM wurde alles geschaffen, im Himmel
und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare;
durch IHN und auf IHN hin ist alles geschaffen.
Und ER ist vor allem,
und alles findet in ihm seinen Zusammenhalt,
und ER ist das Haupt des Leibes (nämlich der Kirche).
ER ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten;
denn in IHM gefiel es aller Fülle Wohnung zu nehmen,
und durch IHN und auf IHN hin alles zu versöhnen,
Frieden schaffend sei es dem auf der Erde,
sei es dem im Himmel.“
Zuletzt: dieser Hymnus ist ein großes Lied. Es kann nicht durcheinander gesungen werden - nur unisono. Uns wird es zugesungen. Heute. Und wir stimmen ein. So werden wir Gemeinde. Heilige. Erlöste. Übermorgen und vor aller Zeit.


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  Palmarum

Palmarum

Cornelia Götz, Dompredigerin - 02.04.2023

Wenn ein König kommt - egal ob gekrönt oder nicht - dann wird ein roter Teppich ausgerollt und das Lieblingsessen recherchiert,
dann gibt es ein Empfangskomitee und jubelnde Menschen am Straßenrand, vielleicht sogar militärische Ehren vorm Brandenburger Tor,
dann gibt es einen Gabentisch und ein Festbankett und alle freuen sich, wenn in der Rede des Gastes jeder ein bisschen zum Zuge kommt und der König allgemeines Wohlgefühl verbreitet. Manches Problem wirkt im sanften Licht seiner Anwesenheit nicht mehr gar so scharfkantig und irgendwann reist er ja auch wieder ab und dann kann man seinen Enkeln davon erzählen und: that’s it.
An Palmarum erzählen wir uns eine ganz ähnliche Geschichte und doch kommt sie sehr anders daher. Auch hier kommt in ein König und reitet durch’s Tor in die Hauptstadt. Aber er hat kein richtiges Reittier und für die Deko müssen Zweige von den Bäumen gerissen werden. Manche erzählen sogar, dass die Menschen ihre Mäntel und Jacken als Polsterung für Sattel und Weg hergegeben hätten, damit er es wenigstens bisschen bequem hat.
Undenkbar in Berlin: der Protokollchef wäre gefeuert worden, wenn König Charles hätte unpassend und unbequem anreisen müssen oder gar Unklarheit geherrscht hätte, wer da eigentlich kommt.
Vor 2000 Jahren waren diesbezüglich erstaunliche Geschichten im Umlauf.
Man hörte, dass zu dem der kommt, Vieles passt, was in alter Zeit über einen neuen Herrscher erzählt wurde. Er scheint also tatsächlich ein König zu sein; zwar ist auch er ohne Krone - aber er kommt aus einer königlichen Familie obwohl er wahrlich nicht mit goldenem Löffel im Munde geboren wurde.
Auch dieser König trägt keinen Hermelin, nicht mal einen ordentlichen Straßenanzug.
Aber er riecht gut! Von König Charles wird diesbezüglich nichts berichtet. Von Jesus hingegen wird erzählt, dass ihm eine Frau Füße und Haar mit unverschämt kostbaren Öl gesalbt hat. Der Duft lag noch immer in der Luft. Der Preis des Öls hatte die Fantasie der Menschen angeregt. Was hätte man alles damit machen können…
Dieser seltsame König hatte das duftende Öl genossen und er hatte die Menschen um sich herum irritiert, weil er sagte, das wäre seine letzte Ölung, weil er demnächst sterben würde.
Dabei war er noch jung. Sehr jung.
Und begabt!
Wenn er redete strömten die Menschen zusammen und schrieben seine Worte auf, lernten sie auswendig. Wenn Not war und den Menschen das Nötigste fehlte, fand er Wege der Umverteilung, mit der alle zufrieden waren. Wenn das Wetter verrücktspielte, brachte er es mit einer einzigen Handbewegung in Ordnung. Und alle Krankheiten konnte er heilen! Letztlich hatte er sogar einen Toten wieder lebendig gemacht.
Wie ein Lauffeuer hatte sich das verbreitet. Und jetzt kommt er also in die Stadt! Das muss er doch sein! Sollte man so einen nicht unbedingt als Staatschef haben wollen? Würde es dem womöglich sogar gelingen, der Besatzungsmacht beizukommen und mit den mächtigen Nachbarn Frieden zu halten?
Oder ist er doch nur ein Verrückter?
Jedenfalls: das alles ist spannend genug, um zahllose Menschen auf die Straße zu bringen, Spalier zu stehen, stundenlang zu warten und dann zu winken oder zu rufen, vielleicht sogar zu singen. Sind es im Wortsinne Begeisterte oder solche, die verzweifelt genug sind, um auf so einen zu bauen?
In Berlin sind es wahrscheinlich Menschen, die Geschichten aus Königshäusern lieben, royale Hochzeiten verfolgen und Serienexperten sind - und auch solche, die England lieben oder da Wurzeln haben. Vielleicht waren auch ein paar Touristen dabei, die eigentlich nur das Herz der einst geteilten Stadt angucken wollten und dann in die Straßensperrung gerieten.
In Jerusalem waren es Menschen, die ohnehin zum Feiern in die Stadt und vor allem in den Tempel gekommen waren. Es waren Menschen, für die es selbstverständlich war, dass sie ihren Glauben mit allen anderen teilten und dass man gemeinsam betet und feiert. Es waren Menschen, für die Religion nicht etwas komisch Gestriges ist, sondern Fundament und Horizont ihres Lebens.
Wir sind heute aus vermutlich hier, weil der Kalender des Kirchenjahres auf Palmsonntag steht und wir in die Karwoche und auf Ostern zugehen, weil es uns gut tut, diesen Weg durch das Dunkel hindurch bewusst und nicht allein zu gehen.
Allerdings: es macht nicht die ganze Stadt mit. Wir müssen schon selber auf dem Burglatz „Hosianna“ singen, damit man es hört oder damit sich unser „Hosianna“ mit den Tönen aus anderen Kirchen verbindet und es gemeinsam zum Himmel schallt. Ein Grund zum Klagen ist das trotzdem nicht, sondern im Gegenteil ein Privileg, das uns heiligt und leben hilft.
Es ist gut, dass wir singen und warten wie die vor 2000 Jahren.
Nur wann, wann wird er kommen?
In Berlin wurde monatelang daran getüftelt, gearbeitet und gefeilt, wann und wie genau der König ankommen soll. Und genau heißt genau. Als ich noch persönliche Referentin des Landesbischofs war, habe ich bei einer Fortbildung mit den Protokollchefs des Bundespräsidialamtes und des Bundeskanzleramtes gelernt, dass man sich notfalls der Limousine des Gastes in den Weg zu werfen hat - falls Gefahr ist, dass der zu früh kommt. Auch wenn es ein König ist. Man mag mit Terroristen verhandeln können - mit Protokollchefs nicht.
Und wenn er zu spät, dann muss man die Wartenden bei Laune halten und die Sicherheit beruhigen. Ewig kann es ja nicht dauern.
Bei Jesus Christus ist das anders.
Bei ihm kennt Tag und Stunde keiner.
Es muss gewartet werden.
Bis die Zeit reif ist.
Bis sich vollendet, was passieren muss.
Als er endlich kommt, geschieht es nicht unbemerkt.
Es liegt was in der Luft, würden die einen sagen.
Gottes Geist bewegt die Menschen - die anderen.
Jedenfalls finden Füße die Richtung. Gott lenkt. Und so gehen sie diesem König entgegen und finden die richtigen Worte. „Hosianna!!! rufen sie. „Gelobt sei, der da kommt!" Eigentlich heißt das direkt übersetzt: „Hilf doch!“ Aber weil das Rufen der Menschen nicht wie ein Angstschrei klingt, sondern wie ein Vertrauensbeweis, hören wir „Hosianna“ eher wie „Hoch soll er leben!“
Daran merkt man, dass die vielen auf der Straße, die ganz normalen Leute, Kleine und Große, genau verstanden haben, was passiert und dass es wunderbar ist, dass dieser König jetzt kommt.
Bei den Profis ist es ein bisschen anders: die einen, die die ganze Zeit mit Jesus unterwegs waren, verstehen überhaupt nichts. Die anderen machen sich Sorgen, weil sie ahnen, wie das enden wird und die Dritten erschrecken sich, denn die vielen sogenannten kleinen Leute haben Recht. Dieser ist der König.
Und wir? Wir haben es gut. Wir gehen in den Fußstapfen derer, die vor uns waren. Wir können es schon wissen. Und noch vielmehr: wir müssen uns nicht erschrecken und fürchten. Wir leben ja schon ein bisschen in seinem Reich.
Und auch:
Unser Leben ist vermutlich ziemlich gut gelaufen, wenn wir die ganze Zeit an der Straße stehen - auf ihn warten und dabei Gottesdienst feiern - denn vielleicht schützt das uns am besten davor, sich wenige Tage später unter denen wiederzufinden, die „kreuzige ihn“ rufen.
Amen

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  Ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine – Wie kann Frieden werden?

Ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine – Wie kann Frieden werden?

Arnd Henze - 07.02.2023

Wenn die Menschen in der Ukraine heute Abend zu Bett gehen, kann ihr Überleben wieder davon abhängen, dass das Smartphone genug Akku hat. Sie brauchen das Handy: für die App „AirAlert“. Fast jede Nacht schlägt diese App Alarm – manchmal nur einmal, manchmal drei oder vier Mal. Dann bleiben ein paar Minuten, um in die Luftschutzkeller zu laufen. Und wenn der Strom ausgefallen ist und der Aufzug nicht fährt, dann wissen die Menschen, welchem älteren Nachbarn sie noch helfen müssen, die acht oder zehn Stockwerke durch das Treppenhaus zu schaffen.
So sieht die Alarmkarte an vielen Tagen aus (Foto zeigen) – das Gebiet der Ukraine fast vollständig in rot gefärbt. Als ich die Grafik festgehalten haben, kamen die Luftangriffe nicht nachts, sondern in den Mittagsstunden. Am Abend konnten wir dann in der Tagesschau die Bilder von dem zerstörten Wohnhaus in Dnipro sehen – allein hier kamen fast 40 Menschen ums Leben. Und glauben Sie mir: zu den schwierigsten Aufgaben im Schneideraum gehört es oft, die Bilder auszuwählen, die abends um 20 Uhr für ein Millionenpublikum noch vertretbar sind.
Wie kann Frieden werden? Wenn Sie einen hoffnungsvollen Ausblick auf ein baldiges Ende der Gewalt und des Leidens erhofft haben, dann werde ich sie enttäuschen müssen. Ich werde Ihnen in der nächsten halben Stunde viel zumuten, weil die Realität uns – und den Menschen in der Ukraine noch unendlich viel mehr zumutet. Es ist gut, dass wir nach dem Vortrag Gelegenheit zum Gespräch haben werden – aber lassen Sie uns bei all dem nie in Frage stellen, dass uns die gleiche Frage bewegt: Wie kann Frieden werden?
Bei der Suche nach Antworten schauen viele auf Dietrich Bonhoeffer. Das hängt sicher damit zusammen, dass viele uns durch die Friedensbewegung der 1980er geprägt sind und Bonhoeffer unsere friedensethischen Debatten ganz entscheidend mitgeprägt hat. Aber was bedeutet das für die Situation heute?
In Veranstaltungen wie dieser heute Abend prallen dann häufig mit großer Entschiedenheit extrem gegensätzliche Antworten aufeinander. Fast immer jemand und zitiert aus der berühmten Morgenandacht von 1934, in der Bonhoeffer einen fundamentalen Gegensatz zwischen Sicherheit und Frieden behauptet: „Frieden als Wagnis“, Frieden, der sich niemals sichern lasse – daraus wird dann abgeleitet, dass man der Ukraine heute niemals Waffen liefern dürfe und auf die Kraft der Verständigung setzen müsse.
Mit der gleichen Erwartbarkeit meldet sich dann oft jemand, der ein anderes berühmtes Wort von Bonhoeffer zitiert: nämlich das von dem Rad, dem man in die Speichen greifen müsse – und deshalb müsse man der Ukraine heute Waffen liefern.
Wenn es gut läuft, einigen sich dann alle gut christlich auf ein drittes verkürztes Bonhoeffer-Zitat: dass wir nämlich alle irgendwie schuldig werden.
In der Regel schaue ich mir das Ganze eine Weile an – und beende diese ermüdenden Versuche, Bonhoeffer zu vereinnahmen, mit einem letzten Zitat: „Was „immer“ wahr ist, ist gerade heute nicht wahr“!

Liebe Schwestern und Brüder, diese ritualisierten Debatten, die jeweils einzelne Zitate absolut setzen, zeigen vor allem eines: Wenn Bonhoeffer für uns heute - und gerade jetzt! - wichtig sein soll, dann werden wir ihn vom Sockel holen müssen und seine Texte nicht in ihrer zeitlosen Gültigkeit, sondern in ihrem Ringen mit ganz konkreten Herausforderungen lesen müssen – und uns in unserer Realität heute mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Unbedingtheit herausfordern lassen, wie das Bonhoeffer in seiner Zeit getan hat.
Die Rede, die Dietrich Bonhoeffer am 28. August 1934 auf der ökumenischen Jugendkonferenz gehalten hat, war von einer sehr konkreten Sorge getragen: der Sorge, dass der Machtanspruch der Nationalsozialisten mit seinem imperialen Wahn zwangsläufig zu einem Angriffskrieg gegen die europäischen Nachbarn führen würde.
Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund, die offene Aufrüstung über die Begrenzungen des Versailler Vertrags hinaus, die entstehenden Allianzen mit Faschisten in anderen Ländern: das waren klare politische Signale. Und man spürt Bonhoeffers Verzweiflung, dass weder in Deutschland, noch in Europa die Bereitschaft da war, diese Zeichen an der Wand zu lesen und ernst zu nehmen.
Im Gegenteil: in manchen westlichen Ländern gab es eher die Versuchung, sich auf schmutzige Deals mit Hitler einzulassen, viele sahen in ihm und einem auch militärisch wieder erstarkten Deutschland gar so etwas wie ein vorgeschobenes Bollwerk gegen die Bedrohung durch die Sowjet-Union.
Dieser brandgefährliche Mix aus imperialer Kriegsvorbereitung in Deutschland und dem blinden Taktieren des Westens gegenüber diesem Deutschland: das ist der Kontext, in dem Bonhoeffer seinen scharfen Gegensatz zwischen Frieden und Sicherheit konstruiert. Bonhoeffers Leidenschaft, mit der er gegen die Illusion von Sicherheit polemisiert – sie gründet in dem scharfen analytischen Blick, dass das als Friedenspolitik verbrämte Taktieren der Welt gegenüber Deutschland am Ende in die Katastrophe des Krieges führen wird: „Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? d. h. durch die Großbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und läßt sich nie und nimmer sichern.“
Bonhoeffers Antwort auf die Kriegsgefahr durch das Hitlerregime war 1934 eine pazifistische – das Wagnis des Friedens, getragen von der Hoffnung, dass die Kirche Jesu Christi „ihren Söhnen im Namen Jesu Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt“.

Liebe Gemeinde, das war und das war kein Schönwetter-Pazifismus, dem es um das eigene ethische Reinheitsgebot ging. Das war die verzweifelte Hoffnung, die Kirchen der Welt auf eine Ächtung des Krieges zu verpflichten. Eine Ächtung, die vor allem eines bedeuten würde: dem am Horizont schon sichtbaren Angriffskrieg Hitlers den entschlossenen Widerstand der weltweiten Christenheit entgegenzusetzen. Nicht irgendwann, sondern hier und jetzt: „Wir können es heute noch tun. Das ökumenische Konzil ist versammelt. Es kann diesen radikalen Ruf zum Frieden an die Christusgläubigen ausgehen lassen.“
Bonhoeffer hätte diesen Ruf gerne mit nach Deutschland genommen, zurück in die Bekennende Kirche, die doch noch so tief im Militarismus des Kaiserreichs gefangen war - und für Hitlers Kriegspläne ebenso blind war, wie für die Verfolgung und sich abzeichnende Vernichtung der Juden. Bonhoeffer hatte beides im Blick. Und sein Ruf zur Ächtung des Kriegs und sein Appell, dem Rad in die Speichen zu greifen, wo Menschheitsverbrechen drohen, sind deshalb kein Gegensatz, sondern gehören untrennbar zusammen.
Wolf Biermann hat einmal gesungen: „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“. Bonhoeffer blieb sich gerade darin treu, dass er die Ächtung des Krieges weiter als eine ökumenische Aufgabe verfolgte – auch wenn die radikalpazifistische Perspektive immer weiter in den Hintergrund trat. An die Appeasement-Politik des Westens hat er jedenfalls ebenso wenig geglaubt wie Karl Barth. Der schrieb am Vorabend des Münchener Abkommens von 1938 an den Prager Theologen Hromadka:
„Das eigentlich Furchtbare ist ja nicht der Strom von Lüge und Brutalität, der von dem hitlerischen Deutschland ausgeht, sondern die Möglichkeit, dass in England, Frankreich Amerika – auch bei uns in der Schweiz – vergessen werden könnte: mit der Freiheit ihres Volkes (also Tschechien) steht heute nach menschlichem Ermessen die von Europa und vielleicht nicht nur von Europa. Ist denn die ganze Welt unter den Bann des bösen Blickes der Riesenschlange geraten? Und muss sich der Pazifismus der Nachkriegszeit nun wirklich in einer so schrecklichen Lähmung aller und jeder Entschlusskraft auswirken?“
Anders als Karl Barth hat sich Bonhoeffer selbst in dieser Zeit mit öffentlichen Äußerungen zurückgehalten, weil er da bereits im Kontakt mit dem politischen Widerstand gegen Hitler stand. Aber noch im Frühjahr 1939 ist er nach London gereist, um seine Gesprächspartner vor jeder Illusion mit Blick auf dessen Kriegspläne zu warnen. Und NEIN: er hat nicht dafür plädiert, eine drohende Annektion Polens um des lieben Friedens willen als vermeintlich geringeres Übel in Kauf zu nehmen!

Liebe Schwestern und Brüder, ich weiß: das ist nicht das, was sich manche von Ihnen von einer Rede „Wie kann Frieden werden?“ erwartet haben. Und ganz ehrlich: ich habe Bonhoeffers so kraftvolle Rede über das Wagnis Frieden auch viele Jahre anders gelesen – und sie schon vor 40 Jahren in der Begründung meiner Kriegsdienstverweigerung ausführlich zitiert.
Aber für mich bedeutete der Völkermord 1994 in Ruanda die „Zeitenwende“, in der manche meiner pazifistischen Überzeugungen der Realität nicht mehr standhielten. Ich erinnere mich an ein langes Interview, das ich damals mit Kofi Annan führen durfte – in der er mir von den vergeblichen Bemühungen erzählte, damals die nötigen Soldaten für eine robuste UN-Friedensmission zu bekommen. Die hätte vielleicht das Schlimmste verhindert - und den Menschen zwar sicher keinen Frieden, aber vielleicht vielen von ihnen die Sicherheit des Überlebens ermöglicht.
Dieser Erschütterung meiner Gewissheiten sind seitdem viele weitere gefolgt: auf dem Balkan und in Tschetschenien, in Afghanistan und Syrien, in Libyen und im Irak, im Südsudan und Mali – und schon lange vor dem 24. Februar auch in der Ukraine.
„Wie wird Frieden?“ Bonhoeffer ist dieser Frage treu geblieben, nicht obwohl, sondern weil er sie 1938 und 1939 ganz anders beantwortet hat, als in seiner großen Rede in Fanö 1934.
„Wie wird Frieden?“ Diese Frage nimmt uns auch heute niemand ab – und wenn wir etwas von Bonhoeffer lernen können, dann diese bedingungslose Bereitschaft, sich nicht mit ewig gültigen friedensethischen Wahrheiten oder mit ein paar aus dem Kontext gerissenen Bonhoeffer-Zitaten aus der eigenen Verantwortung zu stehlen - sondern uns mitten hinein zu begeben in die Dilemmata und Aporien dieses Krieges, der gerade die fundamentalen Prinzipien des Völkerrechts, vom Westfälischen Frieden bis zur Charta von Paris mitzertrümmert.
Zur Wahrheit gehört aber auch: je genauer wir in diesem furchtbaren Krieg hinsehen, desto schmerzhafter werden die Abwägungen. Und Abwägungen - das meine ich ganz wörtlich. Um mir ein Urteil zu bilden, versuche ich mir immer das Bild einer Waage vorzustellen, auf der sich auf beiden Seiten die Schalen bleischwer füllen. Da gibt es nur selten ein einfaches Richtig oder Falsch – und trotzdem kann die Waage nicht in der Schwebe bleiben. Am Ende werden wir Entscheidungen treffen müssen – und diese Entscheidungen haben Folgen, für die wir Verantwortung übernehmen müssen und darin nicht irgendwie, sondern sehr konkret schuldig werden.
Ich möchte versuchen, das an einem Beispiel anschaulich zu machen: in den ersten Wochen des Krieges gab es von Seiten der Ukraine den verzweifelten Hilferuf, die Menschen in den Städten und Orten mit einer Flugverbotszone zu schützen. Nichts war aus ukrainischer Sicht verständlicher und legitimer, als dieser Wunsch, vor den tödlichen Luftschlägen der Cruise Missile und Iskander-Raketen geschützt zu werden. Aber es gab mindestens ebenso gute Gründe, diese Bitte nicht zu erfüllen.
Ich erinnere mich gleich in den ersten Kriegswochen an eine große Veranstaltung im Sauerland, als ich auf dem Podium saß und diese Argumente gegen einen Flugverbotszone so gut ich konnte vertreten habe. Und ich glaube, es ist mir auch einigermaßen gelungen zu erklären, welche unkalkulierbaren Risiken und Eskalationsgefahren eine solche Flugverbotszone bedeuten würde.
Auf der Rückfahrt saß ich dann im Regionalexpress und sah auf Twitter ein Video, in dem Opernchor und Opernorchester von Odessa auf dem Vorplatz der Oper den berühmten Gefangenenchor von Odessa aufgeführt haben - und dann ein Musiker nach dem anderen an die Welt appellierte, ihre Stadt gegen die Angriffe aus der Luft zu schützen: also genau das, wogegen ich gerade mit vielen guten Argumenten gesprochen hatte. Ich hatte dazu noch die Musik im Ohr - und in dem Moment konnte ich einfach nur noch heulen.
Und noch mehr habe ich geweint, als ein Tag später das Stadttheater von Mariupol von einer Rakete getroffen wurde, wo mehr als 1000 Menschen Zuflucht gesucht hatten – in der vergeblichen Hoffnung, zumindest an diesem Ort der Kultur einigermaßen sicher vor dem russischen Bombenterror zu sein.
Die politische Vernunft sagt mir immer noch, dass eine Flugverbotszone auch dieses Kriegsverbrechen nicht verhindert hätte. Aber mein Herz hadert bis heute! So, wie es Matthias Claudius in seinem Kriegslied schreibt:
„Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß
Die Geister der Erschlagenen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?“
Gerade, weil wir der Ukraine im Frühjahr mit guten Gründen nicht geben konnten, worum uns die Menschen dort angefleht haben: sollte ich heute nicht dankbar sein über jeden einzelnen Menschen, jede Rentnerin und jedes Kind, die nach einer bangen Nacht im Luftschutzkeller lebendig in ihre unzerstörte Wohnung zurückkehren kann - weil Luftabwehrsysteme auch aus Deutschland inzwischen zumindest jeden zweiten Marschflugkörper, jede zweite Iskanderrakete oder iranische Drohne unschädlich machen, bevor sie ganz gezielt in Wohn- und Krankenhäuser von Kiew, Odessa oder Charkiw einschlagen – weit ab der Front? Jeder einzelne dieser Angriffe ein Kriegsverbrechen, in ihrer Summe ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit! Für all diese Menschen bedeutet das „Wagnis Frieden“ heute ganz sicher etwas anderes, als für jene, die der Ukraine in Talkshows, offenen Briefen und mitunter auch in kirchlichen Gemeindehäusern empfehlen, sich der russischen Aggression zu ergeben.
Und deshalb ein notwendiges Wort zum Ruf nach Verhandlungen und einer diplomatischen Lösung. Alle Zeichen deuten auf eine große russische Offensive – spätestens im Frühjahr, möglicherweise schon in ein paar Tagen oder Wochen. Ich verstehe jede und jeden, der fragt: gibt es nicht einen Weg, diese neue Phase von noch mehr Leiden und Blutvergießen zu verhindern. Die bittere Wahrheit ist: Nichts deutet darauf hin, dass Russland von seinen aggressiven Zielen ablassen wird. Putin scheint fest entschlossen, zumindest Städte wie Cherson und Charkiw erneut erobern zu wollen – und je weniger Widerstand er dabei vermutet, desto größer die Gefahr, dass er einen weiteren Versuch unternimmt, am Ende doch das ganze Land unter seine Gewalt zu bringen. So schwer es mir selber fällt, es auszusprechen: Nach allem, was ich erkennen kann, wird es für die Ukraine die einzige Möglichkeit sein, sich dieser Aggression mit dem eigenen Militär so erfolgreich entgegenzustellen, dass Putin überhaupt einen Sinn darin erkennen könnte, ernsthaft zu verhandeln. Und ernsthaft heißt: ein Ergebnis, dass dem Völkerrecht wieder Geltung verschafft und seinen Bruch durch Russland nicht belohnt.
Das verlangt aber umso mehr, auch auf diplomatischer Seite schon jetzt alles zu tun, was diesen Moment für Verhandlungen vorbereitet und unterstützt. Und dazu gehören eben auch die engen Kontakte zu den Ländern, die sich in diesem Konflikt neutral verhalten - und die natürlich eigene Interessen verfolgen, sei es China oder Brasilien oder die Türkei. Diplomatie hat es nicht nur mit edlen Motiven zu tun. Und auch hier gilt: in einem schmutzigen Krieg gibt es keine saubere Ethik, sondern immer nur das Abwägen in furchtbaren Dilemmata.
Wie wird Frieden? Bonhoeffers Frage holt uns mitten hinein in die unfriedliche Realität dieser Welt. Und unsere Antworten müssen dieser Realität standhalten. Aber die Frage führt uns zugleich darüber hinaus und verweist uns darauf, was gerade die Kirchen dieser Welt heute Unverwechselbares zu sagen haben: Wir sind es unseren Kindern und Enkeln heute mehr denn je schuldig, dass sie nicht in einer Welt aufwachsen müssen, die in den kommenden 30 oder 50 Jahren allein durch Konfrontation und die Angst vor einem Atomkrieg bestimmt ist. Damit dürfen wir uns nie und nimmer abfinden und wo immer das als alternativlos dargestellt wird, lasst uns laut und entschieden widersprechen. Lassen wir uns nicht einreden, dass die Hoffnung auf einen gerechten Frieden eine Illusion war und auf ewig an der politischen Realität gescheitert ist!
Wie wird Frieden? Wie wagen wir heute Frieden? Bonhoeffer mutet in seiner Friedensrede in Fanö den Kirchen doch gerade deshalb so viel zu, weil Christinnen und Christen nicht in der trostlosen Realität des Unfriedens gefangen bleiben dürfen, sondern den Horizont weiten können im Vertrauen auf den „Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft.“ Wohlgemerkt: HÖHER als alle Vernunft – nicht GEGEN alle Vernunft.
Weil wir dem Frieden Gottes etwas zutrauen, werden wir uns nicht damit abfinden, dass die beste aller möglichen Welten für die kommenden 30 Jahre eine neue waffenstarrende Form des Kalten Krieges sein wird – nur ungleich fragiler und gefährlicher, als im vorigen Jahrhundert.
Weil wir dem Frieden Gottes etwas zutrauen, können und müssen wir schon heute mit unserem Herzen und unserer Vernunft nach Bausteinen einer Friedensordnung suchen, die der Ukraine und allen anderen Staaten ihren Frieden und ihre Souveränität garantiert und Europa wieder zu einem sicheren Raum des Rechts werden lässt – und auch einem veränderten Russland die Tür zu diesem Raum des Rechts offenhält.
Weil wir dem Frieden Gottes etwas zutrauen, schauen wir in Russland schon heute nicht nur auf den Menschheitsverbrecher Putin und seinen Mittäter und Kriegspropagandisten Patriarch Kirill. Wir stellen uns an die Seite der verzweifelten und immer wütender werdenden Mütter und Großmütter, der Ehefrauen und Schwestern, die um ihre zwangsrekrutierten Söhne, Brüder und Ehemänner bangen.
Schon vor dreißig Jahren waren es die Soldatenmütter, die dem Rad des ersten Tschetschenienkrieg erfolgreich in die Speichen gegriffen haben. Und wenn es heute schon – Gott sei´s geklagt - nicht die Kirche Jesu Christi ist, die „ihren Söhnen die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden ausruft über die rasende Welt“ dann vielleicht erneut die Liebe der Mütter, die ihre Söhne nicht in einem verbrecherischen Krieg elendig töten und sterben lassen wollen.
Und wo immer das geschieht, werden hoffentlich auch die Popen überall in Russland diesem Ruf folgen und der Kriegspropaganda ihres Patriarchen die Gefolgschaft verweigern.
Liebe Schwestern und Brüder, Wie wird Frieden?
Vielleicht haben wir auch als Christinnen und Christen die Zeichen der Zeit zu lange übersehen, weil wir den Krieg in Europa für so undenkbar hielten, dass wir ihm nichts mehr entgegenzusetzen hatten.
Aber bitte lasst uns heute nicht den umgekehrten Fehler machen: lassen wir nicht zu, dass der Frieden so undenkbar wird, dass wir uns nur noch in der Logik tödlicher Konfrontation einrichten können. Wir werden die Gottes Verheißung nicht aufgeben, dass auch in dieser Welt und auf diesem Kontinent wieder Schwerter in Pflugscharen und Panzer zu Mähdreschern verwandelt werden können.
In dieser Hoffnung bewahre uns der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft – der aber unsere Vernunft, unsere Herzen und unsere Stimmen braucht, um diesen Frieden auszurichten über der rasenden Welt. Amen!

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  Jahreslosung 2023

Jahreslosung 2023

Cornelia Götz, Dompredigerin - 01.01.2023

Als unser erstes Kind allmählich soweit war, dass es nicht nur einschlief und durchschlief, sondern auch verstand, dass wir immer wiederkommen, wenn wir im Kindergarten oder bei den Großeltern „tschüss“ gesagt hatten, verabredeten wir uns mit unseren Nachbarn zum Doppelkopfspielen. Es Aber eines Tages sagte das noch immer ziemlich kleine Kind, dass nicht stimmen würde, was wir ihm erzählen: Gott sieht uns alle und hilft uns. Ihn hätte er jedenfalls nicht gesehen, als er unter der Decke geweint und sich gefürchtet habe…
Kinderglaube. Gott sieht dich und er behütet dich. Hoffentlich.
Später, größer werdend, ist es gar keine so erquickliche Vorstellung mehr, immer und überall gesehen zu werden. Darf ich nichts für mich selber haben? Gibt es kein Geheimnis, das Gott nicht kennt? Bin ich durchsichtig? Wohlgemerkt: das ist eine Frage jenseits dessen, sich selbst in digitalen Welten so zu bebildern, dass man kaum noch selber weiß, wen man da sieht und ob noch irgendwas privat ist.
Hat man dies einmal wahrgenommen, ist der Schritt zur ganz großen Einsamkeit nicht weit:
Gibt es überhaupt jemanden, der mich wirklich kennt und sieht?
Gibt es überhaupt jemanden, der hinter die Fassade und in mein Herz sieht?
Und wird er mit dem Wissen gut umgehen?
Wird sein Wissen mir leben helfen?
Und dann sind da noch die Dinge, die in uns Menschen tief vergraben sind und vielleicht bleiben sollten, die endlich zur Ruhe gekommen sind, wenigstens nach außen hin, die wir mitnehmen ins Grab oder vor Gottes Richtertstuhl.
Und dann wird ER es eh alles schon wissen.
Denn so steht es über diesem Jahr: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Es ist keine Möglichkeit, vielleicht auch keine Hoffnung. Es ist eine Feststellung.
Hagar sagt es.
Sie ist keine Jüngerin, die mitgegangen ist, Heilung erlebt oder gesehen hat, wie Stürme sich beruhigen. Sie ist keine, die auf dem Weg sich selbst oder doch eine Bestimmung gefunden hätte und im Frieden mit sich und ihrem Leben wäre. Im Gegenteil: soweit es die alte Geschichte erzählt, ist Hagar eine Magd, schwanger und in Ungnade gefallen, auf der Flucht, in der Wüste.
Endstation könnte man sagen.
Oder Kipppunkt?
Lebenswende vielleicht.
Da sitzt Hagar - an einer Wasserquelle und am Weg nach Schur in Ägypten. Immerhin. Es ist nicht ganz aus mit ihr. Es gibt einen Weg und es gibt Wasser. Sie kann es irgendwohin schaffen und dann das Kind auf die Welt bringen und es wird irgendwie weitergehen.
Mithin: die Situation ist nicht ideal - aber sie steht auch nicht kurz vor der Katastrophe.
Es wird nichts von tödlicher Erschöpfung erzählt.
Es geht noch was.
Vielleicht brütet Hagar vor sich hin und versucht zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Sie war noch jung, aber schon lange bei Abraham und seiner schönen Frau. Sie hat sie bewundert und bestaunt, manchmal beneidet. Was für ein Leben, das hätte sie auch gern. Nur, dass Sarah keine Kinder hatte, war daran bitter und schwer. Sehr schwer. Hagar hatte dieses Leid aus der Nähe erlebt und manchmal mitgelitten. Aber es hatte auch andere Momente gegeben: heimliche Genugtuung und stolz auf den eigenen jungen Körper. Sie könnte wahrscheinlich….
Hat Abraham das zuerst bemerkt? Oder Sarah? Irgendwann war eine Idee entstanden. Unheimlich und naheliegend zugleich. Sie wird das Kind bekommen. Sie wird Abrahams und Sarahs größten Wunsch…
Ihr Leben wird sich ändern. Richtig und falsch verschwimmen, gut und böse auch.
Nun ist sie hier.
Auch wir sind heute Abend hier. Mit unseren eigenen Geschichten und Wegscheiden. Auch wir leben in komplexen Beziehungen. Auch wir sind anderen etwas schuldig geblieben. Auch wir haben gehofft und geträumt…
Nun sitzen wir am Weg, neben der Quelle und das Jahr liegt vor uns.
Unbeschrieben.
Die Situation ist nicht ideal. Aber es geht noch was.
Da schickt Gott seinen Engel und fragt:
„Wo kommst du her, wo willst Du hin?“
Wenn sich das so leicht sagen ließe.
Hagar bleibt bei schmalen Fakten: sie ist weggegangen von Sarah und Abraham.
Sie sagt nichts von einem Ziel. Sie weiß keins.
Wie fällt unsere Antwort aus?
Wo kommen wir her?
Wo wollen wir hin?

• Pause -

Antwortversuche werden davon abhängen, wie ehrlich wir mit uns selbst sind, welche Sorgen wir haben, wen wir lieben.
Für Hagar heißt das:
Sie steckt in einem Konflikt und bekommt ein Kind.
Sie braucht Befriedung und Perspektive, Geborgenheit.
Wegrennen hilft nicht.
Sich verkriechen hilft nicht.
Sitzenbleiben und warten auch nicht.
Sie wird sich der Situation stellen müssen, den Konsequenzen, die angelegt sind in allem, was war.
Ob sie realisiert hat, dass da gerade ein Engel vor ihr steht, der vielleicht…
Aber das Leben ist kein Wunschkonzert und auch Neujahr trotz Witolld Dulskis Orgelfeuerwerk eine irdische Angelegenheit mit eher nüchternen Möglichkeiten:
„Geh zurück“, sagt der Engel „und füge Dich. Du wirst ein Kind bekommen und Enkelkinder.“ und dann malt er noch ein bisschen aus, wie es sein wird.
Ihr Kind und ihre Zukunft werden Teil der Welt sein, aus der sie kommen.
Der Weg führt nicht weg, bricht nicht ab oder endet hier.
Es geht dort weiter, wo wir gestern - im alten Jahr ausgestiegen sind: mit denselben Menschen, in denselben Situationen…
Hagar könnte einknicken, jammern. bitten, ob sie sich nicht rausziehen darf. Es ist zu übel und es geht ihr nicht gut.
Aber das tut sie nicht.
Sie sagt:
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Und dann ergänzt sie: „Gewiss habe ich hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“
Ob sie weiß, dass sie mit diesen Worten eine lange Reihe aufmacht? Mose wird Gott hinterhersehen, die blutflüssige Frau wird Jesus hinterherrufen, Maria wird sagen: „Mir geschehe, wie Du gesagt hast.“
Sie alle kämpfen sich durch ein sehr konkretes Leben.
Sie alle kennen Wüstenerfahrungen.
Sie alle erleben Gottes Zuwendung, seine Nähe, sein Geleit, seine Bestärkung, seinen Schutz.
Weil er uns sieht und ansieht.
Weil Gnade etwas damit zu tun hat, dass einer genau hinguckt.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Keiner, der uns ausspionieren und unsere Schwächen ausnutzen will, keiner der unsere Sorgen und Nöte missbraucht, um Macht über uns zu gewinnen - sondern einer, der sieht, wer ich bin, was ich schaffen und wie ich leben kann. Einer, der mich gebrauchen kann für eine erfüllte Zukunft.
Hagar wird ihm vertrauen.
Die Quelle, an der sie saß, heißt „Brunnen des Lebendigen“.
Wir sitzen da auch. Gott sieht uns und schickt uns in unser Leben - in all die komplizierten Umstände unserer Zeit. Wir werden nicht untergehen. Wir sind nicht hilflos. Wir können tun, was ansteht.
Es geht etwas.
Mit uns. Mit unserem Leben. Mit unserer Welt. Unter Gottes Schutz und seinen Segen.

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  Christnacht

Christnacht

Cornelia Götz, Dompredigerin - 24.12.2022

In seinem Kriegstagebuch schreibt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow am 12. April:
„Heute haben sie begonnen, Kirchen zu zerstören… die erste, von der ich weiß, war eine Holzkirche in Isjum … die nächste war die Kirche des Heiligen Nikolaus in Wolnowacha. … Es war das erste Mail, dass ich eine durch eine Bombe zerstörte Kirchenkuppel gesehen habe. Sie ist tatsächlich sehr dünn und zerbrechlich wie eine Eierschale, und selbst wenn sie zerbrochen ist, leuchtet ihre vergoldete Oberfläche noch in der Sonne wie eine kleine Lampe.“
Jetzt ist die Sonne weg. Die Tage sind kurz und bitterkalt. Aber der Stern von Bethlehem leuchtet. Ich weiß - orthodoxe Christen feiern Weihnachten erst am 6. Januar - aber lassen wir diese Kleinigkeit einen Moment beiseite und stellen uns vor:
Der Priester würde mit seinem Handy in die Ruine seiner kleinen Kirche hinübergehen. Es würde keine Christnacht mit Kerzenlicht und schimmernden Ikonen werden; er würde keinen Weyrauch schwenken und auch nicht das Evangelium singen. Es war alles kaputt.
Der Schnee knirscht unter seinen Schuhen. Dann hält er inne. Es ist nicht der Schnee. Es sind Glassplitter von den kaputten Fenstern.
Was für ein trauriger Anblick.
Er hebt den Kopf. Es ist eine sternenklare Nacht und wird noch kälter werden. Und da sieht er das Schimmern der zerstörten Kuppelreste im Schein des Sternes. Fast werden ihm die Knie weich. Das ist sein Weihnachtsbild! Er fotografiert es und dann stellt das Bild ins Netz und dann schreibt er darunter:
„Wir wollen der Welt sagen, dass wir heute, da Christus in unseren Herzen geboren ist, versuchen, so schwer es auch sein mag, alle Gedanken an Rache zu verbannen .. Wir werden versuchen, in den Tagen nach diesem Streit eine gütigere, einfachere - eine christuskindlichere - Welt zu schaffen.“
Er hält inne. Seine Finger sind klamm und kalt.
Ja, das werden sie. Sie werden sich nicht mehr wehtun. Sie werden …
Seine kleine Stadt: 22 000 Menschen lebten dort im Osten der Ukraine. Jetzt ist sie ein Trümmerfeld. Es gibt keinen Strom und kein Wasser. Die Feuerpause wurde, wie auch in Mariupol, nicht eingehalten. Die Menschen sind verzweifelt.
Er schaut nochmal auf die Worte, die er da hingeschrieben hat.
Sie werden ihn nicht verstehen.
Sie wollen sich verteidigen. Das geht nicht christuskindlich.
Stille Nacht, heilige Nacht - es ist leise, leiser, still.
Da steht er und hängt seinen Gedanken nach, während die Kälte ihm in die Knochen kriecht. Es hört nicht auf. Die Weltgeschichte wird durch Kriege beschrieben. Wir sind immer davor oder danach.
Er hat das alles schon mal erlebt.
„Vater vergib“ denkt es, betet es in ihm.

Stille Nacht. Heilige Nacht.
An einem anderen Ort sitzt eine junge Frau auf einer Matratze und wiegt ihr Kindchen. Es ist unruhig und wimmert. Es war ein schlimmer Tag für alle. Sie konnten nicht bleiben. Der Körper schmerzt noch von der Geburt. Sie ist wund und kann nicht gut sitzen. Ihre Brust fühlt sich hart und heiß an. Wenn sie jetzt eine Entzündung bekommt, kann sie nicht mehr stillen …
Was soll dann werden?! Sie muss sich entspannen und beruhigen. Das Kindchen muss saugen obwohl sie bei jedem Versuch zusammenzuckt. Ihre Brustwarze blutet und ist schrundig.
Tränen rollen ihr leise über die Wangen. Es ist niemand da, der ihr helfen kann. Keine Mutter, die ihr einen heißen Wickel macht, keine Großmutter, die ihr freundlich zunickt: Schuh, schuh... es wird wieder gut.
Nein, nichts ist gut. Sie sitzt hier ganz allein unter fremden Menschen. Wer weiß, ob sie den Vater ihres Kindes jemals wiedersieht. Der weiß ja kaum, wie man eine Waffe hält geschweige denn wie man sie benutzt …
Ihr fällt eine Gedichtzeile ein:
„Ich will dich gar nicht so mutig / Und auch nicht besonders schön, /
weil die allzu Kühnen und Schönen / So oft zugrunde gehn…“

Das Handy leuchtet und sie sieht ein verschwommenes Bild.
Eine Nachtaufnahme. Was soll das sein?
Ein kleiner goldener Schimmer und dann ein merkwürdiger Text. Wer schreibt da?
Oh, ein Weihnachtsgruß aus der verlorenen Heimat!
Sie schiebt ihr Kindchen ein bisschen zurecht um besser lesen zu können:
Was schreibt er da?
Sie kann es kaum glauben. Sie soll sich um eine einfache gütige Welt mühen? Ausgerechnet sie? Warum soll sie Menschen, die ihr solches Leid antun, so arglos und freundlich ansehen wie ihr Kindchen?
Sie soll alle Gedanken an Rache verbannen?
Nein, das kann sie nicht. Sie wünscht sich, dass die Russen endlich ….
Sie ist kein Übermensch. Es muss doch …
Das Kind hält inne und beginnt zu wimmern.
Gleich wird es schreien und dann spuckt es. Sie darf sich nicht in Rage denken, nicht aufregen. Sonst staut die Milch. Das Kind braucht sie. Es braucht Frieden.
Und dann beginnt sie zu summen.

Ein Wiegenlied.
„Lully, lullay, du kleines winziges Kind, Bye, Bye, lully, lullay…“
Sie ist auch in ein Schlaf gesungen worden. Meistens hat ihre Großmutter sie zu Bett gebracht. Ihre Mutter arbeitete irgendwo in Westeuropa. Abe die Großmutter nahm das kleine Mädchen in den Arm und sang. So wie überall auf der Welt, Kinder in den Schlaf gesungen werden. „Guten Abend, gute Nacht - morgen früh, wenn Gott will.“
Wer weiß, was passiert im Dunkel der Nacht. Wer weiß, was Gott will.

Ein Kind ist geboren. Der Himmel reißt auf. Hirten erzählen vom Wunder dieser Nacht. Bald wird Nachricht um die Welt gehen und auch die Mächtigen erreichen.
Die werden Angst kriegen: Vor einem Neugeborenen, vor seiner Friedfertigkeit, seiner Gewaltlosigkeit. Seiner Freundlichkeit.

Stille Nacht, heilige Nacht.
Der Priester ist wieder zu seinem Haus gegangen. Er wird sich einen heißen Tee kochen, immerhin den hat er und auf den Morgen warten.
Da brummt sein Handy. Eine Fremde schreibt ihm. Seine Worte haben sie über viele Stationen erreicht und an eine andere Kriegsweihnacht erinnert: 1940. die BBC sendet aus Coventry. Sie war damals noch ganz jung. Sie hatten am Radio gesessen und es nicht fassen können. Sie weiß noch, wie sich die Gemüter erhitzen.
Aber dann kamen andere Töne aus dem Radio….


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  Heiligabend

Heiligabend

Cornelia Götz, Dompredigerin - 24.12.2022

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging…“ … das klingt so vertraut, dass man die einzelnen Worte schon fast nicht mehr hört.
Aber Lukas weiß genau, warum er so beginnt. Er erzählt kein Märchen, sondern setzt in Szene, warum er das alles überhaupt aufschreibt: uns soll unmissverständlich klar werden, dass Frieden möglich ist – nicht erst am Ende der Zeit, sondern hier auf Erden, unter uns.
Darum beginnt seine Geschichte im Zentrum irdischer Macht,
dort wo die ganze beherrschte Welt bewegt wird,
dort wo ein Einzelner in seinem Wahn das Leben der Vielen beanspruchen kann.
Kaiser Augustus tut das, indem er zählen lässt. Er will wissen, wen er beherrscht.
„Überschaubarkeit“ ist keine Dimension gemütlichen Landlebens, sondern eine militärische Kategorie. Wer das weiß, zählt.
Aber Lukas und seine Leser wussten auch: nur Gott kann und darf sein Volk zählen. Menschen sollen sich weder auf ihre Überzahl verlassen noch sich von Zahlen beeindrucken und bestimmen lassen - weder mit Blick auf Soldaten noch auf Arbeitsplätze, weder hinsichtlich potentieller Wähler oder Steuerzahler.
Menschen sollen sich nicht auf Zahlen verlassen sondern auf Gott!
Darum lehnte man in Israel die Volkszählung ab.
Darum war es Unterwerfung unter den Kaiser und Verrat an dem einzigen Gott, den die Menschen bekannten, an der Volkszählung teilzunehmen. Sie taten es alle. Sie waren nicht besser, nicht mutiger, nicht begabter als wir.
Weihnachten wurde trotzdem – oder erst recht.
Lukas wusste, im Kontrast von Heilsgeschichte und Weltgeschichte, menschlichem Irrsinn und göttlicher Klarheit wird Weihnachten.
Heute klingt das so:
Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem russischen Präsidenten ausging, die Ukraine zu überfallen. Und dieser Krieg war der erste in unserer Nähe und geschah zur Zeit, da Joe Biden Präsident von Amerika und Olaf Scholz Kanzler in Deutschland war. Und jedermann zählte, ob Gas und Paracetamol und Diesel noch reichen würden, sein gutes Leben fortzusetzen.
Da gerieten viele in Angst und Not, denn das Getreide wurde teuer und die Ernte verdarb und der Krieg verwüstete das Land. Da machten sich die Menschen auf und verließen die Städte, in denen sie Zuhause waren und die Dörfer, in denen ihre Eltern begraben lagen und gingen los. Andere ließen ihre Wohnungen kalt und fürchteten sich vor schweren Zeiten. Aber zwischen ihnen allen war ein Mädchen, das schwanger war und ausgerechnet in diese Welt ein Kind setzen wollte als wäre es nicht drei Sekunden vor zwölf.
„Und es kam die Zeit, dass sie gebären sollte und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum …“
Und das in der in der Stadt seiner Väter.
Darüber kann man sich wundern. Immerhin war Josef der Spross einer alten bethlehemitischen Familie. Ausgerechnet er soll keinen Unterschlupf für die hochschwangere Maria gefunden? Ausgerechnet ihm, dem Spross Davids, soll Gastfreundschaft, die den Menschen doch heilig war, verwehrt worden sein?
Sollte er, der Namhafte, auf einmal das Schicksal der Namenlosen erleiden?
Wir haben keinen Platz für Dich und dein Problem. Geh weiter!
Das Zählwerk des Kaiser rattert: auf die Besitzstandsangst ist Verlass.
Aber die Zeit ist reif.
Das Kind will geboren werden.
Darum stellt Lukas mit der dürftigen Krippe klar: unsere Welt wird nicht durch Gebote aus den Zentren der Macht verändert, sondern dort, wo Menschlichkeit dringend gebraucht wird, dort wo sich nicht nur Zeitansagen erfüllen, sondern auch die Uhr der Natur läuft.
Ich habe eine Auslegung gelesen, wonach Maria und Josef ursprünglich gar nicht in diese Geschichte gehörten, sondern das Gotteskind elternlos war, am Rastplatz abgelegt, der Fürsorge Fremder anvertraut, von Menschen aufgezogen, die Hirten waren und ihren Gott einen Hirten nannten. Wie sonst hätte sich die denkbar größte Nähe zwischen Gott und Menschen ereignen sollen als so?
Das klingt nicht abwegig.
Aber Lukas entscheidet sich anders.
Er braucht Menscheneltern in seiner Geschichte. Er will damit schockieren, dass eine schutzlose schwangere Frau zwischen allen anderen durch die Welt irrt und das keinen schert. Es gibt kein Wunder, um Maria die Geburt zu erleichtern.
Dass Gott Mensch wird, geschieht unter denkbar realistischen Umständen:
Es tut entsetzlich weh.
Und es geschieht in finsterster Zeit, im Dunkel der Nacht. Mehr wird nicht erzählt. Vermutlich, weil uns nicht genug interessiert oder wir uns nicht vorstellen können, was an den Rändern der Gesellschaft passiert, wie Not sich in Menschen einschreibt, wir dringend es ist, dass sich endlich was ändert. Wir fürchten uns nur.
Deshalb haben wir auch keine Deutungshoheit über diese Geschichte.
Genauso wenig wie der Kaiser.
Festgefahrenen in den unbarmherzigen Zuständen unserer Welt stolpern wir durchs Dunkel.
Aber Gott deutet. Er lässt seine Herrlichkeit aufgehen – und es passiert etwas, was es in der langen Geschichte Gottes mit den Menschen noch nie gab: Nicht nur ein einzelner Engel kommt auf die Erde, sondern der ganze himmlische Hofstaat, die kompletten himmlischen Heerscharen finden sich ein für die wichtigste Nachricht schlechthin: „FRIEDEN AUF ERDEN bei den Menschen seines Wohlgefallens!“
Wirklich? Wie ???
Lukas erzählt auch das. Denn er schreibt:
„Und da die Engel gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen!“
Sie reden. Sie hören sich zu. Gott hat ihnen ein Zeichen gegeben und also nehmen sie das ernst. Sie beraten sich. Sie entscheiden sich.
Es mag platt und plakativ klingen: Aber das ist die Chance gelebter Demokratie!
Auf der einen Seite steht das Machtwort eines Herrschers, der Anspruch der Mächtigen, der alles durcheinanderbringt und Menschen zwingt zu glauben, dass es nur in eine Richtung gehen kann, rückwärts, dorthin wo sie herkommen.
Auf der anderen Seite öffnet sich der Himmel voller Licht und Freude, Gott kommt auf die Erde und es ist nicht zum Fürchten, sondern wunderbar. Die Menschen lassen sich in Bewegung setzen.
Sie werden nicht registriert und lassen sich nicht zählen, sie verlassen sich endlich auf Gott und werden verwandelt.
Sie verabreden sich und ziehen los - in Frieden.
Sie werden getrösten vom Mut einer Frau, die an die Zukunft geglaubt und ein Kind bekommen hat. Sie perlen über vor Freude und erzählen es allen weiter.
Und all das begab sich zu der Zeit, als Thorsten Kornblum Oberbürgermeister in Braunschweig war.

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  Heiligabend (16:30 Uhr)

Heiligabend (16:30 Uhr)

Dr. Christoph Meyns, Landesbischof - 24.12.2022

Liebe Gemeinde!
In meiner Zeit als Gemeindepastor kam einmal im Jahr eine Gruppe aus dem Kindergarten in die Kirche, um sie zu besichtigen. Ich habe ihnen dann immer erklärt, was es zu sehen gibt: Taufbecken, Altar, Kanzel, Chorgestühl, Epitaphien, Wandbilder. Sie durften in die Orgel hineinkrabbeln und sich die Orgelpfeifen anschauen. Wir sind auf den Turm gestiegen, haben die mächtigen Glocken aus nächster Nähe angeschaut und von ganz oben weit über das Land geblickt. In einem Jahr fragte mich ein Kind am Anfang der Führung ehrfurchtsvoll: „Wohnt hier Gott?“
Was hätten Sie gesagt? Wohnt Gott hier in dieser Kirche? Kaiser Augustus und Statthalter Quirinius hätten auf diese Frage wohl mit „Ja“ geantwortet. Sie waren fest davon überzeugt, dass die Götter in den Tempeln wohnten, die ihnen zu Ehren geweiht waren. Joseph und Maria hätten vielleicht geantwortet: „Ja und Nein.“ Denn nach jüdischer Vorstellung ist Gott unsichtbar und allgegenwärtig. Aber im Tempel in Jerusalem wurde er zu ihrer Zeit in besonderer Weise verehrt. Die Weihnachtsgeschichte antwortet mit „Nein“. Gott wohnt nicht in einer Kirche oder einem Tempel. Gott wohnt in einem neugeborenen Kind in einem Futtertrog. Er wohnt in einem Stall. Er wohnt auf dem Feld bei den Hürden, wo die Hirten ihre Schafe hüten.
Damit ist so ziemlich alles auf den Kopf gestellt, was wir Menschen von Gott zu wissen meinen. Ein Zimmermann und seine junge Frau, keine vornehme Familie; eine Futterkrippe, kein weiches Himmelbett; ein Stall, kein Palast; Hirten auf dem Feld, kein Kaiser und kein Statthalter, keine besondere Festzeit, sondern mitten im Alltag. Das göttliche Licht verborgen inmitten der Dunkelheit der Nacht in einem kleinen Ort am Rande des Römischen Reiches, nicht in der Mitte Tages, für alle Welt sichtbar in der Hauptstadt Rom.
Gewöhnlich suchen Menschen Gott irgendwo oben. Aber Gott setzt sich nicht auf den Thron, den wir ihm hinstellen. Er überrascht Menschen. Er kommt in die Nacht, in den Stall, in den Futtertrog, auf das Feld. Er kommt mitten in unseren Alltag. Er steht neben uns beim Zähneputzen, sitzt mit am Frühstückstisch, geht mit auf dem Weg zur Schule und zur Arbeit, er ist bei den Verliebten und auf der Intensivstation. Er schaut mit mir zusammen Nachrichten. Und … er ist auch in den Momenten bei mir, in denen ich mich von allen guten Geistern verlassen fühle.
Wie finde ich also Gott? Jedenfalls nicht, wenn ich nach oben schaue auf das Erhabende und Glänzende. Um Gott zu finden, muss ich mich bücken.
Ich stelle mir vor: Wir alle sitzen draußen mit den Hirten auf das Feld bei Schafen. Und plötzlich wird es taghell. Und aus dem Licht tritt ein Engel und der sagt: „Fürchtet euch nicht!“ Das ist genau der Satz, den ich brauche: „Fürchte dich nicht!“ Den habe ich schon letztes Jahr gebraucht. Aber ich brauche ihn auch dieses Jahr. Er nimmt mir die Angst. Er sagt mir: Lass dich nicht unterkriegen. Halte stand. Bewahre dir deine Zuversicht. Und hör nicht auf zu hoffen, dass Frieden und Gerechtigkeit siegen werden.
Und der Engel fährt fort: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geborgen.“ Worüber sollen wir uns freuen? Dass Gott Mensch geworden ist, dass Gott sich klein gemacht gemacht hat, dass ich vor Gott keine Angst zu haben brauche.
Im Stall von Bethlehem hat Gott die Menschen überrascht. Und als Erwachsener macht Jesus da weiter, wo er als neugeborenes Kind angefangen hat. Er folgt seinem Herzen. Er ist unglaublich frei. Und er macht andere frei: Kranke, Sünder, Zöllner, Prostituierte. Er überschreitet Grenzen. Er hält sich nicht an Gebote, wenn sie der Liebe im Weg stehen. Weihnachten feiern wir den Anfang dieser Liebe, eine Liebe, die den Menschen nicht festnagelt. Sie hält sich nicht damit auf, wer Schuld hat, sondern sie fragt danach, was helfen kann, dass Menschen aus der Situation herauskommen und ein neues Leben anfangen.
Diese Liebe verbindet uns Christen miteinander. An ihr halten wir fest und sagen: Wir geben die Welt nicht auf; wir setzen uns ein für das Gemeinwohl; im eigene Land und für Menschen in anderen Ländern; wir stehen den Opfern von Krieg und Gewalt bei; wir setzen uns ein für die Aussöhnung von Feinden; wir bekämpfen Armut und globale Ungerechtigkeiten; wir bewahren die Schöpfung.
Wie feiert man richtig Weihnachten? Vater Hoppenstedt schlägt vor bei Loriot: „Erst wird der Baum fertig geschmückt, dann sagt Dicki ein Gedicht auf, dann holen wir die Geschenke rein, dann sehen wir uns die Weihnachtssendung im Ersten Programm an, dann wird ausgepackt, und dann machen wir es uns gemütlich.“ Seine Frau widerspricht: „Nein Walter, erst holen wir die Geschenke rein, dann sagt Dicki ein Gedicht auf und wir packen die Geschenke aus, dann machen wir erstmal Ordnung und dabei schauen wir Fernsehen und dann machen wir es uns gemütlich.“
Darauf wieder ihr Ehemann: „Oder wir sehen uns erst die Weihnachtssendung im Dritten Programm an, packen dabei die Geschenke aus und machen es uns dann gemütlich.“ So könnte es klappen: Ein Fest braucht Rituale. Aber wäre schon schön, wenn ein Fest von Anfang an gemütlich ist.
Dabei kann man auch zu viel planen. Wie der amerikanische Autor John Steinbeck schreibt: „Was Feste ihrem Wesen nach ausmacht, ist bis jetzt noch nicht komplett erforscht. Aber so viel ist klar: Feste sind unnormal. Und jedes Fest ist auf seine eigene, höchst individuelle Weise abgedreht. Auch verläuft kein Fest so, wie es von denen geplant oder beabsichtigt war, die dazu eingeladen haben. Die Ausnahme bilden Feste, die Gastgeber bis ins Letzte durchorganisieren und sklavisch kontrollieren. Dabei kommt am Ende eine Veranstaltung heraus, die so lebendig ist wie eine Verstopfung.“
Solche Feste habe ich auch schon erlebt. Aber Weihnachten wird gerade schön, wenn nicht alles perfekt ist, wenn Raum ist für Tradition und Rituale, aber auch für Ungeplantes und Unerwartetes. Denn auch Gott ist mit seiner Liebe überraschend in unsere Welt gekommen. Daran lassen wir uns mit der Weihnachtsgeschichte erinnern. Dafür versammeln wir uns in unseren Kirchen zum Gottesdienst. Dafür danken wir Gott in Liedern und Gebeten. Darum dürfen wir um seinen Segen für unser Leben bitten, dass er es umfange mit seiner Liebe auch und gerade dort, wo wir ihn am wenigsten erwarten.
Ihnen allen von Herzen ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Amen.

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  Totensonntag

Totensonntag

Cornelia Götz, Dompredigerin - 20.11.2022

Nachher werden wir an Menschen erinnern, von denen wir hier Abschied genommen haben und während wir das tun, wird wohl jede und jeder von uns noch andere mitdenken - Menschen die zu unserem Leben gehört haben, die wir geliebt, zu spät getroffen haben, die wir noch ganz anders hätten kennenlernen wollen …
Sie sind gestorben und vorangegangen in Gottes Ewigkeit, sie haben uns eine zutiefst existentielle Erfahrung voraus, sie wissen nun, wie es ist.
Ist es so, wie sie geglaubt haben?
Was haben sie denn geglaubt?
Wenn ich in Trauerhäuser komme, um mir erzählen zu lassen von dem Menschen, den ich beerdigen werde, dann wundere ich mich manchmal, wie wenig die Nächsten voneinander wissen (auch wenn sie in großer Liebe miteinander und nicht nebeneinander gelebt haben). Allermeist ist es ein inneres Fotoalbum, das sich nur langsam öffnet und manchmal wird daraus unter Tränen und Lächeln ein bewegtes Bild. Es ist uns Menschen ja eigen, dass wir rückblickend eine Lebensgeschichte erzählen als wäre sie eine logische Folge von bewussten Entscheidungen; dabei haben wir das Wenigste in der Hand: wo und in welche Familie wir geboren wurden, welche Ereignisse in unserer Lebenszeit fallen und ob sie für uns selbst zu Zäsuren wurden, wen wir getroffen, bemerkt und in unser Leben gelassen haben…
Dabei hätte es auch anders kommen können. Einerseits. Und andererseits sagen wir uns ja, dass Gott etwas mit uns vorhat, dass unsere Wege bei ihm längst beschlossen sind.
Aber glauben wir das auch?
Schwere Frage, denn wir reden zu wenig darüber. Erst recht, wenn es um Tod und Sterben geht. Dann ahnen wir vielleicht noch, ob einer Angst vorm Sterben gehabt hat, aber ob es eine Hoffnung gab für das danach???
Totensonntag.
Christian Lehnert, Theologe, Dichter, schreibt: „Jedes Denken beginnt im Leib. Die Vergänglichkeit ist ihm eingeschrieben… Und trotzdem können wir vom Sterben mit Gewissheit in der ersten Person nur im Futur reden, von all dem was danach sein mag, überhaupt nicht. .. Denn wo der Tod ist, sind wir nicht.“
Dennoch haben wir da keine Leerstelle.
Irgendetwas glaubt jeder: je nachdem, was uns am ehesten tröstet oder was wir mit rationalem Denken erklären können, was uns eingeschrieben ist von Kindesbeinen an.
Aber ob wahr ist, dass wir einfach wieder zu Erde werden oder doch wiedergeboren als ein anderes Wesen, ob es wahr ist, dass unsere Seele weiterlebt oder wir doch mit Fleisch und Knochen auferstehen, keiner kann es wissen.
Dabei ist es nicht egal.
Es macht etwas mit unserer Hoffnung, es macht etwas mit unserer Demut und auch mit dem Wert, den wir einem Menschenleben zurechnen.
Als Christen sagen wir, dass Gottes unseren Ausgang und Eingang aus seiner Herrlichkeit segnet, wir bekennen wir die Auferstehung von den Toten und das ewige Leben.
Aber glauben wir es auch?
Jesus Christus rechnet offenbar nicht damit.
So erzählt es jedenfalls der Evangelist Johannes. Denn unmittelbar bevor er mit der Rede anhebt, die über diesem Tag steht sagt er: „Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht.“
Mithin: wenn das nicht genügt; wer wollte dann annehmen, dass ihr etwas glaubt, was ihr nicht seht oder denken könnt? Und dann scheint er doch etwas erklären, denkbar machen zu wollen:
„Alles, was mir der Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich’s auferwecke am Jüngsten Tage.“
Es geht schon verquer los. „Alles was…“ - das klingt, als seien wir eine undefinable Masse. Vielleicht ist das nur Gehakel im Weitergeben und Abschreiben alter Worte. Vielleicht ist es aber auch ein kleiner Verweis auf etwas Existentielles: ganz wir selbst, gekannt, beim Namen genannt, ich und du, werden wir, weil Gott weil es eine Beziehung gibt zwischen Gott und uns, durch die wir überhaupt erst ein Du und „wer“ werden.
Wenn wir als solche kommen, sagt Jesus Christus über seinen Vater, unseren Gott, dann wird er uns nicht hinauswerfen.
Kommen genügt.
Das habe ich in diesem Frühjahr bei den Benediktinerinnen gelernt: Wir müssen nichts wissen oder glauben können, mögen voller Zweifel und Vorbehalte sein: Kommen genügt.
In der uralten Regel des Benedikt von Nursia heißt das: Gott suchen zu wollen, ist das Einzige was Not tut, um eingelassen zu werden. Allerdings heißt es in der jahrhundertealten Regel auch, dass es die „älteren Brüder sein sollen, die an der Pforte Dienst tun.“
Vielleicht, weil die Alten lange genug durch Anfechtung und Zweifel hindurchgegangen sind, um noch in der verworrensten Not ein bisschen Gottsuche zu finden? Oder weil sie nach einem langen Leben gar nicht mehr wissen, was man glauben kann, aber die Sehnsucht derer, die klopfen kennen?
Und einmal angekommen, werden wir nicht mehr hinausgeworfen.
Und Jesus begründet diese übergroße Gastfreundschaft für alle, auch die Verirrten, Zornigen und Stumpfen: „Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. „
Das klingt fast, als wollte sich der Mensch Jesus distanzieren von Gottes unbegreiflicher Langmut. Denn er kommt dort an, wo er am Anfang war, nur apodiktischer:
„Denn das ist der Wille meines Vaters, dass, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, das ewige Leben habe; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.“
Jesus ringt mit Gottes Menschen, seinen Geschwistern. Wohl wissend, dass „Ihr nicht glaubt, obwohl ihr mich seht“, scheint doch Glauben möglich, wenn wir ihn sehen…
Es geht im Kreis, ist so mühselig und vielleicht auch so müßig.
Aber was dann an den Gräbern tun…?
Reden wider den Augenschein.
Trotz allem.
Denn das ist die Suchbewegung, die die Richtung weist oder mit Friedrich Hölderlin: „Dem Sehnenden war / der Wink genug, und Winke sind von altersher die Sprache der Götter.“

Nachher werden wir an Menschen erinnern, die zu unserem Leben gehört haben, die wir geliebt, zu spät getroffen haben, die wir noch ganz anders hätten kennenlernen wollen …
Sie sind gestorben und vorangegangen in Gottes Ewigkeit, sie weisen einen Weg, den wir alle auch gehen werden.
Schritt für Schritt.
Es ist ein Weg, den wir nicht denken können.
Es ist ein Weg, den wir nicht verstehen und der nicht unserem Willen folgt.
Es ist ein Weg, der vorher nicht zu sehen war.
Es gibt nichts zu wissen.
Aber Wahrheit kann sich erweisen im Suchen und Ankommen.
Amen

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  Volkstrauertag

Volkstrauertag

Cornelia Götz, Dompredigerin - 13.11.2022

wir befinden uns in der Friedensdekade - zehn Tage lang sind wir aufgefordert für den Frieden zu beten, immer wieder und wieder. Zehn Tage lang müssen wir einmal mehr aushalten, dass auf unser Gebet hin offenbar nichts passiert, dass infrage steht, ob es überhaupt etwas bewirken kann.

Wir befinden uns am Ende des Kirchenjahres und es geht um die vorletzten Dinge: Tod und Gericht, Buße. Der Wochenspruch entlässt uns nicht in harmlosen Novembertrübsinn, denn es heißt (aus dem zweiten Korintherbrief): „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“

Am Ende dieser Zeit, in der wir scheinbar so wenig ausrichten können, werden wir uns verantworten müssen für das, was wir getan und gelassen haben. Mag uns dieser der Gerichtsgedanke auch fremd sein, diese letzte Instanz haben wir dringend nötig.

Wir brauchen Instanzen, die uns mahnen und beunruhigen.

Wir brauchen Instanzen, die uns nötigen, uns zu erklären.

Wir brauchen Instanzen, vor denen wir um Wahrheit und Gerechtigkeit ringen können, damit sich etwas bewegt, damit wir ins Handeln finden.



Der Predigttext heute - zugleich Evangelium - erzählt von einer solchen Instanz und sprengt doch alles, was wir erwarten. Sie haben es gehört:

„Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen.“

Was immer das für einer war: wer sich vor Gott und den Menschen nicht fürchtet, vor dem sollten wir uns in acht nehmen. Wer sich selbst genug ist, wer sich selbst zum personifizierten Recht des Stärkeren macht, dem ist vermutlich nichts heilig, der bricht das Doppelgebot der Liebe, das sich auf Gott und den Nächsten richtet - der liebt sich nur selbst.

Wenn so einer in der Welt, in Stadt und Land, für Gerechtigkeit sorgen soll, dann Gnade uns Gott!

Allerdings: was tue ich, wenn ich den Richter so beschreibe? Ist das womöglich nur Ausdruck von Verletzung, vorurteilsbeladen, unfair und ungerecht? Könnte es nicht auch so sein:

Wer Gott nicht fürchtet und die Menschen nicht scheut, der weiß sich sicher, denn der rechnet nicht mit dem unbarmherzigen willkürlichen Gott, der hat sich ihm anvertraut. So kann er Mensch unter Menschen sein, weil er weiß, dass Gnade bedeutet, wirklich angesehen zu werden.

Um so einen kann man jede Stadt beneiden.

Wir wissen es nicht. Wir schauen nicht in ihn hinein. Aber wir wissen von einer Begegnung: denn

„es war eine Witwe in derselben Stadt, die kam immer wieder zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!“

Eine Witwe…

eine, die keine Lobby, keinen Anwalt hat
eine, die darauf angewiesen ist, von den Instanzen einer Stadt nicht vergessen zu werden
eine, die nichts zu verlieren hat
eine, die lernt für sich selbst einzustehen
eine, die endlich gehört werden will
eine, die nervt
Sie kann nicht weiterleben, ohne dass ihr endlich Gerechtigkeit widerfährt.

Aber sie kommt nicht weiter.

Sie ist wie wir mitten in der Friedensdekade 2022 während des Ukrainekrieges, der dort tobt, wo zahllose Soldaten und Zivilisten des letzten Krieges noch immer unbestattet vermodern, der tobt, obwohl wir alle wissen, wieviele Generationen es braucht, bis die Wunden eines Krieges verheilen und die Narben nicht mehr schmerzen, bis ein Land wieder aufgebaut und Schuld abgetragen ist.

Es ist ein Krieg, der etwas mit der Nachkriegsordnung zu tun hat, die keinen gerechten Frieden brachte - aber Taubheit auf vielen Ohren.

Wir sind in dieser Friedensdekade wie die Witwe, erleben uns ohnmächtig und ohne Handhabe aber erfüllt von einer sehr klaren Hoffnung: es möge endlich Frieden geben und zu Ende sein mit diesem Widersacher.

Aber es passiert nichts. Im Gegenteil: Woche für Woche, Monat für Monat geht ins Land.

Die Witwe und wir werden nicht erhört. Lukas erzählt in seiner Parabel:

„Er - der Richter - wollte lange nicht.“

Er könnte. Aber er will nicht.

Das weiß die Witwe, darum gibt sie nicht auf - will ihn erweichen und zermürben, dahin bringen, ihre Sicht zu teilen, ihr helfen zu wollen.

Es ist eine machtförmige Konstellation.

Wer dagegen anrennt, tut es, weil es das Einzige ist, was man überhaupt tun kann: so wie die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo in Argentinien immer und immer wieder fragen, was aus ihren verschwundenen Kindern geworden ist, so wie die Frauen in weißen Kleidern seit dem Wahltag 2020 in Belarus immer und immer wieder auf die Straße gegangen sind, so wie es in Ostdeutschland Friedensgebet gab - jahrzehntelang.

All diese Bitten sind wie Wolken über unseren Köpfen.

Erbarme dich. Schaff Recht!

Aber ER will lange nicht.

Keine Erklärung. Keine Begründung.

Warum??? Dieser Richter ist kein Stein. Leuchtet ihm schlicht nicht ein, was die Witwe will. Vielleicht ist die Zeit nicht reif. Vielleicht muss es ein so zähes Ringen sein???

Jedenfalls wird erzählt:

„Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.“

Es ist bitter - aber es geht nicht um die Sache. Die Frau wird nicht erhört, weil sie ein Mensch mit eigener Würde und dem Recht, gehört zu werden ist, sondern weil sie anstrengend ist, weil sie keine Ruhe gibt, weil dem Richter schwant, dass er ihr nicht entkommt, weil er sich doch fürchtet.

Spürt auch er, dass er sich verantworten muss? Offenbar kommt er janins Nachdenken…

Das Gleichnis bricht hier ab und es folgt eine Deutung, von der ein Kommentator schreibt, dass „man sie nicht ohne Zittern“ realisieren kann:

„Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte aber Gott nicht Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er bei ihnen lange warten? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, wird er dann Glauben finden auf Erden?“

Sollte das das ein Gottesbild sein? Sollen wir uns Gott wie diesen Richter denken???

Widerspricht dies nicht allem, was wir glauben wollen, die wir doch „unser Vater“ sagen dürfen.

Sollte Gott ungerecht und gleichgültig sein?

Vorsicht! Wir sollten uns nicht versteigen! Es ist nur ein Bild. Wir sehen mit unseren Augen und aus der Erschöpfung derer, die Gottes Wirken suchen.

Erkennen können wir ihn in Jesus Christus, dem Menschenkind, dem Menschensohn. Er ist nahe. Es wird Advent. Aber was wird dann sein?

Wird Gott, der in unsere Welt kommt - jetzt 2022 - Glauben finden, zähes Vertrauen, dass es nützt ihn zu bitten, dass der Moment kommt, an dem er Recht schafft?



Zurück zum Anfang. Es ist ein Gleichnis. Ein Bild. Nicht für die irdische Gerechtigkeit, schon gar nicht für die himmlische, sondern - so heißt es: ein „Gleichnis davon, dass man allezeit beten und nicht nachlassen sollte“.

Am Ende des Kirchenjahres geht es um das ,was wir tun können und was von uns erwartet wird. Alles wird möglich durch das Gebet. Oder mit Karl Barth: „Hände zum Gebet falten - ist der Anfang eines Aufstandes gegen die Unordnung der Welt.“

Wir sind mitten in der Friedensdekade, am Volkstrauertag.

Es scheint, als könnten wir nichts tun und würden nicht gehört. Das ist ein Irrtum.

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  Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein – Gerechter Frieden ?! – Gerechter Krieg?!

Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein – Gerechter Frieden ?! – Gerechter Krieg?!

Renke Brahms, Friedenbeauftragter EKD 2008-2021 - 08.11.2022

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich bedanke mich herzlich für die Einladung zu dieser politischen Abendandacht und freue mich, dass mein Beitrag zum heutigen Thema in diesem Rahmen stattfindet. Die aktuelle Situation mit dem völkerrechtswidrigen und immer brutaler werdenden Krieg Russlands gegen die Ukraine macht mich auch nach Monaten immer noch und immer stärker fassungslos. Wie im 21. Jahrhundert noch ein solcher Krieg geführt werden kann, löst bei mir – und ich gehe davon aus, dass es nicht nur mir so geht – eine Gefühlsmischung von Empörung, Enttäuschung und tiefem Nachdenken über das, was jetzt eigentlich getan werden kann, aus – und auch ein Nachdenken über meine Grundüberzeugungen eines friedensbewegten Engagements.
In dieser Situation ist es für uns als Christenmenschen und als Kirche sehr angemessen, alles Nachdenken über Krieg und Frieden in das Gebet um den Frieden einzuordnen. Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur eine friedenspolitische und friedensethische Herausforderung, sondern auch eine geistliche Herausforderung. Ich orientiere mich dabei an Dietrich Bonhoeffer: „…aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten.“ Diesen Dreiklang hat Dietrich Bonhoeffer als Aufgabe der Kirche in seinem Brief aus dem Gefängnis im Mai 1944 beschrieben. Dieser Dreiklang sollte auch das kirchliche Reden und Handeln prägen.

Buße tun und zur Buße rufen
Der Krieg, das Leid der dort gebliebenen Menschen und der Flüchtenden und die scheinbare Ausweglosigkeit aus der Gewalt stellt mich als Christenmenschen und uns als Kirche zuallererst vor die Frage, ob wir die Zeichen der Zeit (Lukas 24,54ff) richtig wahrgenommen und gedeutet haben, ob wir genug getan haben und tun, um den Krieg oder weitere Gewalt zu verhindern. Wir Christenmenschen und Verantwortliche in der Evangelischen Kirche in Deutschland - für meine Person muss ich es jedenfalls so sagen – müssen einsehen und bekennen, dass wir wie viele andere auch die Situation falsch eingeschätzt haben. Wir müssen einsehen und bekennen, dass wir nicht genug auf Schwestern und Brüder gehört haben, die uns auf die Gefahr eines Krieges hingewiesen und uns vor Russland unter Putins Herrschaft gewarnt haben. Wir müssen einsehen und bekennen, dass wir uns in den vergangenen Jahren sehr stark mit den Kriegen in Afghanistan und Mali, in Libyen und Syrien beschäftigt haben, die gewalttätigen Konflikte und Kriege in Tschetschenien, Georgien, der Ukraine und anderen Ländern des Ostens und ihre Folgen nicht genug wahrgenommen und daraus Konsequenzen gezogen haben.
Wir müssen einsehen und bekennen, dass wir an dem Tanz um das goldene Kalb der wirtschaftlichen Vorteile teilgenommen und davon profitiert haben und nicht vehement genug widersprochen haben, als es immer nur um wirtschaftliche Interessen und den eigenen Wohlstand ging, der nicht gefährdet werden durfte – und so gerade in Deutschland in eine besondere Abhängigkeit von Russland gekommen sind.
Jesus Christus ruft uns und die Kirchen in der Ökumene zur Umkehr. Wir müssen einsehen und bekennen, dass es uns nicht gelungen ist, in der Ökumene die Grenzen zu überwinden und ein gemeinsames Zeugnis für den Frieden zu geben. Besonders schmerzlich ist die Haltung des russischen Teils der Russisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriachats und ihres Patriarchen, die in einer unheilvollen Vermischung des Geistlichen und Politischen die Narrative des russischen Präsidenten unterstützt und verstärkt.
Jesus Christus ruft zur Umkehr auch der politisch Verantwortlichen auf, zuallererst den russischen Präsidenten und seiner Regierung. Das wäre die Aufgabe der russisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriachats in diesen Tagen.

Beten
In der Ökumene machen wir die Erfahrung, wie wichtig den Schwestern und Brüder unser Gebet ist. Es hält die Solidarität mit den Leidenden wach, schärft die Aufmerksamkeit für ihre Situation und bringt sie vor Gott. Indem wir im Gebet eine Sprache für das Leid der Betroffenen und auch für unsere eigenen Ängste und die eigene Ohnmacht finden, können wir die Schrecknisse aussprechen, ohne daran zu zerbrechen, zu resignieren oder in Feindbilder verfallen. Die Kraft des Gebetes ist eine Kraft des Widerstands und der Resilienz in schweren Zeiten. Deshalb gilt in diesen Zeiten der Ruf, nicht vom Gebet abzulassen (Epheser 6,18) . In dieses Gebet sind auch diejenigen eingeschlossen, die z.B. in Russland oder in Belarus gegen die Machthaber und ihre Politik demonstrieren und arbeiten.

Tun
Mit dem Gebet geht das konkrete Tun einher. Humanitäre Hilfe für die Menschen in der Ukraine in jeglicher Form gehört genauso dazu wie die Unterstützung der Flüchtenden. Die Spendenbereitschaft ist groß und Organisationen und einzelne Menschen setzen sich in vorbildlicher und selbstloser Weise ein. Die Zahl der Flüchtenden und die Geschwindigkeit der Fluchtbewegung aus der Ukraine, die selbst die Situation im 2. Weltkrieg übersteigt, stellt eine enorme Herausforderung dar. Dabei geht es in der Langzeitperspektive um eine dauerhafte und nachhaltige Aufnahme und Unterstützung der Flüchtenden. Es geht in der Folge um Kita- und Schulplätze, Arbeitsmöglichkeiten und Wohnungen. Wachsam müssen wir bleiben für mögliche Auseinandersetzungen in der eigenen Gesellschaft, dürfen nicht zulassen, dass extremistische Gruppen darauf ihr Süppchen kochen und auch nicht, dass Spaltungen zwischen Menschen aus der Ukraine und Russland in unserem Land verschärft werden.

Friedensethisch orientieren
Was ist das „Gerechte“ in dieser konkreten Situation des Krieges in der Ukraine? Diese Frage führt uns in die friedensethische Auseinandersetzung auf dem Hintergrund des Leitbilds des „Gerechten Friedens“, wie es in der Evangelischen Kirche in Deutschland formuliert worden ist.
Dabei geht es nicht darum, vermeintlich gewohnte Positionen der Friedensethik grundsätzlich zu überdenken, eine grundlegende Reform der Friedensethik anzustreben oder gar eine neue Friedensethik zu entwickeln. Es geht darum, die Friedensethik des gerechten Friedens auf die konkrete Situation zu beziehen und dabei entstehende Fragen zu identifizieren und zu bearbeiten. Aus der Zeit gefallen ist nicht die Friedensethik, die sich am Vorrang von Gewaltfreiheit orientiert und auf eine regelbasierte internationale Ordnung setzt. Aus der Zeit gefallen ist eine Politik, die auf militärische Stärke und das Recht des Stärkeren setzt und eine Weltordnung aus dem 19. und 20. Jahrhundert verfolgt, wie es die russische Führung zurzeit tut.
Das Leitbild des gerechten Friedens mit seinen Dimensionen der Vermeidung von Gewaltanwendung, der Förderung von Freiheit zu einem Leben in Würde durch Recht, den Abbau von Not und die Förderung von kultureller Vielfalt bietet auch heute einen umfassenden Rahmen für konkrete Friedensethik. Der Vorrang (prima ratio) der Gewaltfreiheit und der Prävention, die Bedeutung der Friedensbildung und die Betonung des internationalen Rechts haben nichts an Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Die kriegerischen und gewaltförmigen Konflikte der vergangenen Jahre von Afghanistan über Irak, Syrien, Tschetschenien, Mali bis zum Jemen zeigen die zerstörerischen Wirkungen der Gewalt, zeitigen keine Sieger, sondern nur Verlierer und mahnen deshalb erst recht dazu, die Gewalt und den Krieg zu überwinden und andere Wege der Konflikttransformation zu entwickeln. Die Erkenntnis, dass es für Konflikte keine militärische Lösung gibt und Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg ist, ist offensichtlich. Der Satz: „Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten“ hat sich eher bestätigt. Militärische Gewalt bringt keinen Frieden. Sie kann im Sinne der rechtserhaltenden Gewalt höchstens zeitlich begrenzt Menschen vor noch höherer Gewalt schützen und einen Raum für den Frieden schaffen.
Sie haben den Abend überschrieben: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Gerechter Frieden?! Gerechter Krieg!?“
Dieser Satz „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ von der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen aus dem Jahr 1948 klingt so programmatisch wie eindeutig. Aber ganz so eindeutig war er damals nicht. Denn in dem Bericht der vierten Sektion der Vollversammlung folgt auf diese Überschrift unmittelbar die Beschreibung der verschiedenen Positionen im ÖRK – derjenigen, die sagen, dass – auch wenn der Christ in einen Krieg ziehen muss – ein Krieg niemals gerecht sein kann; derjenigen, die einen Krieg für die ultima ratio halten, um das Recht zu schützen; und derjenigen, die jeglichen Kriegsdienst ablehnen.
Diese verschiedenen Positionen ziehen sich im Grunde durch die friedensethischen Debatten bis heute.
Was ich heute hier tun kann, ist, die verschiedenen Positionen, wie sie sich aktuell auch in der EKD darstellen, zu skizzieren und Argumente an die Hand zu geben, die helfen können, den eigenen Abwägungsprozess zu schärfen.

Gerechter Frieden und rechtserhaltende Gewalt
Der folgende Abschnitt betrachtet die friedensethisch relevanten Fragen im Rahmen der Argumentation der Denkschrift der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ aus dem Jahr 2007. So heißt es in der Friedensdenkschrift der EKD: „Recht ist auf Durchsetzbarkeit angelegt. In der Perspektive einer auf Recht gegründeten Friedensordnung sind Grenzsituationen nicht auszuschließen, in denen sich die Frage nach einem (wenn nicht gebotenen, so doch zumindest) erlaubten Gewaltgebrauch und den ethischen Kriterien dafür stellt.“
Zu den Kriterien werden hier einerseits die Regelungen des Völkerrechts und anderseits die nun in den Rahmen des gerechten Friedens eingeordneten Kriterien des sogenannten „gerechten Krieges“ (Erlaubnisgrund, Autorisierung, Richtige Absicht, äußerstes Mittel, Verhältnismäßigkeit der Folgen, Verhältnismäßigkeit der Mittel, Unterscheidungsprinzip) hinzugezogen, die durch weitere Kriterien ergänzt werden (z.B. Überprüfbarkeit durch den Internationalen Gerichtshof, Exitstrategie, Evaluation). Zu betonen ist, dass die Lehre des sogenannten „Gerechten Krieges“ immer der Begrenzung und Abwehr eines Kriegs dienen sollten.
Nur unter diesen eng gesetzten Kriterien kann der Gebrauch von Gewalt im Sinne rechtserhaltender Gewalt friedensethisch erlaubt sein: „Bei schwersten, menschliches Leben und gemeinsam anerkanntes Recht bedrohenden Übergriffen eines Gewalttäters kann die Anwendung von Gegengewalt erlaubt sein, denn der Schutz des Lebens und die Stärke des gemeinsamen Rechts darf gegenüber dem »Recht des Stärkeren« nicht wehrlos bleiben.“
Angesichts der Eindeutigkeit der Situation in der Ukraine, des einseitigen Angriffs Russlands auf das Land, dem Tod vieler Zivilisten, der Zerstörung ganzer Städte und der starken Indizien für Kriegsverbrechen durch Russland muss konstatiert werden, dass in diesem Fall viele Kriterien für den Gebrauch rechtserhaltender Gewalt nach der Denkschrift der EKD erfüllt sind – aber eben nicht alle, wie es die Denkschrift fordert. Es bleiben offene Fragen:
Angesichts der Blockade im UN–Sicherheitsrat ist eine Mandatierung durch denselben nicht zu erwarten. Die Resolution A/RES/ES-11/1 der UN-Generalversammlung vom 2. März 2022 ist mit ihren 141 Stimmen zwar ein starkes Zeichen für die Verurteilung des Russischen Angriffs auf die Ukraine, aber keine Mandatierung irgendeines Einsatzes.
Insofern ist friedensethisch nach den Kriterien der Denkschrift eine Begründung rechtserzwingender und rechtserhaltender Maßnahmen nur unter dem Gesichtspunkt der „Nothilfe“ zu betrachten möglich: „Sollte der rechtmäßige kollektive Sicherheitsmechanismus durch eine Blockierung des UN-Sicherheitsrats versagen (wie 1998 im Blick auf Kosovo, wo sich das Problem der Spannung zwischen Recht und Moral stellte), so wären militärische Nothilfemaßnahmen zumindest streng daraufhin zu prüfen, ob sie in der Folgewirkung das Kriegsächtungsprinzip der UN-Charta und die transnationale Rechtsdurchsetzung durch die Weltorganisation eher stärken oder schwächen.“
Angesichts der schon vorhandenen Schwächung der transnationalen Sicherheit und damit der der UN ist die Frage nicht leicht zu beantworten, ob die schon vorgenommenen Maßnahmen oder gar weitere Schritte das Kriegsächtungsprinzip und die UN stärken oder schwächen. Allerdings muss auch bedacht werden, dass Russland mit dem Angriff beides in eklatanter Weise geschwächt hat und die Folgen dieses Vorgehens von gravierender Bedeutung sein können, wenn wir auf andere Konflikte sehen – wie z.B. den zwischen China und Taiwan.
Zu bedenken ist weiterhin, dass nicht erst der Gebrauch militärischer Gewalt unter den oben genannten Kriterien stehen kann. Auch die Frage von Sanktionen und Waffenlieferungen müssen unter diesen Gesichtspunkten betrachtet werden. Insofern ist die Figur der „rechtserhaltenden Gewalt“ friedensethisch noch einmal präziser zu fassen und im Sinne „rechtserzwingender Gewalt“ zu erweitern. Denn auch Sanktionen sind ein Mittel der Erzwingung von Recht und führen zu leidvollen Situationen nicht nur für die jeweils Herrschenden, sondern auch für die gesamte Bevölkerung . Insofern sind auch hier die verschiedenen Maßnahmen gerade unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Folgen für eine unbeteiligte Zivilbevölkerung zu betrachten. Auf jeden Fall sind Waffenlieferungen in die Ukraine unter diesen Gesichtspunkten zu prüfen. Zurzeit werden Sanktionen und Waffenlieferungen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit als „sanftere“ Mittel des Eingreifens zu betrachten sein. Damit wird zugleich eine Grenze markiert, da ein direktes Eingreifen der NATO zurecht als Kriegseintritt betrachtet werden muss, der massive Folgen hätte.

Waffenlieferungen
Speziell die Frage der Waffenlieferungen werden in der friedensethischen Debatte innerhalb der EKD diskutiert. Dazu sind folgende Aspekte zu betrachten:
Erstens: Ob das Völkerrecht in der konkreten Situation Waffenlieferungen an die Ukraine erlaubt, ist genau zu betrachten . Das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta steht der Ukraine unbestritten zu. Die Ukraine ist kein NATO-Mitglied, insofern nicht Mitglied eines Bündnisses der kollektiven Sicherheit, das verpflichtet wäre, auch militärisch zu unterstützen. Sie darf aber im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung um Unterstützung ersuchen. Im Rahmen des Neutralitätsgebotes des 1907 beschriebenen Haager Abkommens zum Kriegsrecht müsste eine strikte Neutralität gegenüber beiden Ländern gelten – sowohl Russland als auch der Ukraine. Aus dem 1928 verabschiedeten und nach wie vor gültigen Kriegsächtungspakt oder Briand-Kellog-Pakt und dem aus ihm entstandene Prinzip der Nichtkriegsführung kann geschlossen werden, dass der Einsatz unterstützender Mittel unter der Voraussetzung der eindeutigen Feststellung des Aggressors und des Opfers völkerrechtlich erlaubt ist. Auch wenn der Weltsicherheitsrat durch das Votum Russlands blockiert wurde, hat die Vollversammlung der UN mit überwältigender Mehrheit die Aggression Russlands festgestellt und verurteilt.
Zweitens: Politisch ist zu beachten, dass die politischen Entscheidungen der Bundesregierung in den vergangenen Jahren ausgesprochen widersprüchlich waren. Einerseits wurde eine restriktivere Rüstungsexportpolitik verkündet, andererseits sind Waffen in großem Maße auch in Krisenregionen geliefert worden, z.B. an Ägypten, das als Kriegspartei im Jemen direkt beteiligt ist. Die ersten Entscheidungen, keine Waffen an die Ukraine liefern zu wollen, stehen dazu in einem unerklärlichen Widerspruch. Eine kohärente Politik sieht anders aus. Waffenlieferungen in einem völkerrechtlich eindeutigen Fall wie dem Krieg in der Ukraine liefern allerdings keine Legitimität für Waffenexporte an Konfliktparteien in anderen Regionen. Das gilt es sorgfältig zu unterscheiden.
Drittens: „Rüstungsexporte tragen zur Friedensgefährdung bei. In exportierenden Ländern stärken sie eigenständige wirtschaftliche Interessenlagen an Rüstungsproduktion. In den importierenden Ländern können Waffeneinfuhren Konflikte verschärfen.“ Deshalb vertritt die Gemeinsame Konferenz für Kirche und Entwicklung (GKKE) seit Jahren die Forderung einer restriktiven Rüstungsexportpolitik – vor allem in Krisengebiete. Waffenlieferungen in die Ukraine stellen genau das dar, sind deshalb friedensethisch problematisch und können höchstens im Rahmen der oben genannten Nothilfe als legitim betrachtet werden. Das heißt aber keineswegs, dass Rüstungsexporte in andere Länder in Krisenregionen dadurch ebenfalls an Legitimität gewonnen haben. Die Bundesregierung ist weiterhin aufgefordert, die Rüstungsexporte deutlich restriktiver zu handhaben, vor allem in Krisengebiete und an Staaten, die an Kampfhandlungen und Konflikten beteiligt sind. Und es ist Aufgabe der Kirche, weiterhin für eine sehr restriktive Rüstungsexportpolitik einzutreten.
Als Fazit dieser Überlegungen kann festgehalten werden, dass viele der Kriterien der Denkschrift für Maßnahmen im Rahmen der rechtserhaltenden Gewalt erfüllt sind, eine friedensethische Beurteilung aber keineswegs eindeutig ist – vielmehr oben angesprochene Fragen und Unsicherheiten bleiben. Eine Ermäßigung der Kriterien der rechtserhaltenden Gewalt nach der Denkschrift der EKD aus dem Jahr 2007 stellen keine Alternative dar, würden sie so ihrerseits internationales Recht aushöhlen. Es bleibt also bei einer friedensethischen Abwägung, die nicht ohne Dilemmata bleibt.

Die Option des gewaltfreien Widerstands
Ist die friedensethische Positionierung der Denkschrift auch ein weitgehender Konsens in der EKD, so gibt es doch auch prominente Stimmen eines prinzipiellen oder unbedingten Pazifismus, der die Figur der rechtserhaltenden Gewalt und im konkreten Fall der Ukraine auch Waffenlieferungen ablehnt. Angesichts der oben genannten offenen Fragen, Abwägungen und Unsicherheiten ist dieser Pazifismus keineswegs als naiv zu bezeichnen oder einfach zu verneinen, macht er doch auf die weitreichenden Folgen von Maßnahmen rechtserhaltender oder rechtserzwingender Gewalt und auf konkrete Alternativen gewaltfreien und zivilen Widerstands aufmerksam. Dabei geht es beim Krieg in der Ukraine offensichtlich zurzeit ausschließlich um die Frage der Waffenlieferungen. Die Sanktionen werden nicht abgelehnt.
Wichtig ist die Tatsache, dass auch in der gegenwärtigen Situation in der Ukraine ziviler Widerstand geleistet wird. Menschen blockieren Panzer auf der Straße oder Konvois bei der Durchfahrt durch ihre Städte. Sie demonstrieren mit Fahnen und dem Singen der ukrainischen Nationalhymne auch in von russischen Soldaten kontrollierten Gebieten; sie versorgen die Soldaten mit Nahrung und Arzneimitteln, verwirren die russischen Truppen mit Verkehrsschildern, auf denen alle Pfeile nach Den Haag zeigen. Hacker stören russische Webseiten, Menschen versorgen russische Deserteure oder weigern sich, russischen Patrouillen ihre Papiere zu zeigen. Sogar in Belarus und Russland selbst gibt es Widerstand. Belarussische Bahnarbeiter haben die Bahnlinie in die Ukraine sabotiert, damit der Nachschub für die russischen Truppen nicht vorankommt. Menschen demonstrieren bei allergrößter Gefahr in Russland und eine Journalistin zeigt im staatlichen Fernsehen ein Plakat gegen den Krieg. Alle diese Aktionen dürfen in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden und weisen auf die grundsätzliche Bedeutung gewaltfreien Widerstands, zivilen Ungehorsams und sozialer Verteidigung hin.

Durch die Studie von Erica Chenoweth and Maria J. Stephan „Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict“ ist auch in der evangelischen Friedensethik noch einmal eine breite Diskussion über die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands entstanden. Die Studie zeigt, dass bei allen untersuchten Konflikten zwischen 1900 und 2006 gewaltfreier Widerstand fast doppelt so erfolgreich und nachhaltiger war als bewaffnete Konflikte. In einer weiteren Untersuchung über Konflikte nach 2016 wurde deutlich, dass die Anzahl gewaltfreier Widerstandsbewegungen zwar deutlich zugenommen hatte, aber weniger erfolgreich waren als vorher. Das wird u.a. darauf zurückgeführt, dass sich gerade autokratische und diktatorische Regime auf diese Entwicklung eingestellt haben und die Zivilbevölkerung und zivilen Widerstand systematisch unterdrücken und ausschalten, wie wir in den vergangenen Jahren in Russland beobachten mussten. Dennoch bleibt gewaltfreier Widerstand auch nach der weitergehenden Studie erfolgreich.
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass nicht von Anfang an klar war, dass die Ukraine sich so zur Wehr setzt, wie sie es getan hat. Die USA hatten der Regierung Selensky angeboten, sie aus der Ukraine zu evakuieren. Die Überraschung dieses Krieges ist also nicht nur die Tatsache, dass Russland gegen alle Erwartungen das Land angegriffen hat, sondern auch der Widerstandswille und die Widerstandskraft der Ukraine. Hätte die Regierung der Ukraine aufgegeben und die russischen Panzer wären nach Kiev durchgefahren, wäre der Bevölkerung nichts anderes übriggeblieben als gewaltfreien und zivilen Widerstand zu organisieren und zu leisten.
Das Gleiche gilt im Übrigen auch für einen Angriff auf Moldawien, das kein nennenswertes Militär hat, das auszurüsten wäre. Würde Russland Moldawien angreifen und die NATO bei ihrer Linie bleiben, nicht direkt einzugreifen, wäre auch für Moldawien nur ein Weg des zivilen Widerstands möglich. Das Gleiche gälte wohl auch für Georgien. Für die Baltischen Staaten gilt, dass sie gewaltfreien und zivilen Widerstand in ihre Verteidigungskonzepte integrieren – möglicherweise, weil sie sich nicht darauf verlassen, dass die NATO eingreift. Es muss also auch darum gehen, die Staaten so zu unterstützen, dass eine resiliente Bevölkerung gestärkt wird, die im Notfall auch über die notwendigen Ressourcen für zivilen Ungehorsam und gewaltfreien Widerstand verfügt.
Auch hinsichtlich einer Option der Gewaltfreiheit bleiben Fragen offen. Es ist die Frage, ob die Ergebnisse der Studien auf die gegenwärtige Situation in der Ukraine zu übertragen sind, handelt es sich doch hier offensichtlich um mehr als einen regionalen Konflikt. Vielmehr geht es um eine geopolitische Entwicklung, die mit einem imperialistischen Anspruch daherkommt, der weit über die Ukraine hinausgeht. Insofern markiert der Ukraine-Krieg eine rote Linie für mögliche weitere imperialistische Großmachtphantasien der russischen Regierung.
Für die konkrete Situation in der Ukraine aber bleibt entscheidend, dass sich die ukrainische Regierung mit einer großen Unterstützung durch die Bevölkerung dafür entschieden hat, beides zu tun: militärisch und zivil Widerstand zu leisten. Es steht den Außenstehenden jedenfalls nicht zu, die Entscheidungen für die Ukraine zu treffen. Insofern kann die Position anerkannt werden, die Lieferung von Waffen zur Selbstverteidigung unter den gegebenen Umständen im Rahmen der rechtserhaltenden Gewalt friedensethisch als eine Option der Unterstützung zu betrachten. Genauso ist aber auch eine Positionierung anzuerkennen, die solches ablehnt und auf eine konsequente Gewaltfreiheit setzt. Vor allem muss die Zivilbevölkerung auch hinsichtlich des gewaltfreien Widerstands gewürdigt und unterstützt werden.
Niemand kann in Putins Kopf hineinsehen, aber alle Anzeichen deuten darauf hin, dass mit der Ukraine eine imperialistische Politik nicht beendet wäre. Das gilt es zu verhindern. Dabei müssen Waffenlieferungen und Sanktionen allerdings zwingend mit der bleibenden Bereitschaft zu Verhandlungen einhergehen. Dazu müssen auch Gespräche mit den Staaten dienen, die auf Russlands Politik Einfluss nehmen können, wie z.B. China. Die Szenarien für eine Beendigung des Krieges erscheinen zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Herbst 2022 entweder unrealistisch oder inakzeptabel. Die Eskalation des Krieges macht aber die Suche nach einem Ausweg dringend. Allerdings sind auch überraschende Entwicklungen wie sie sich gegenwärtig im Iran zeigen nicht auszuschließen – ebenfalls mit offenem Ende.
Die friedensethische Diskussion in der Evangelischen Kirche in Deutschland ist gelegentlich von starken Gegensätzen und einer gegenseitigen Verdachtshermeneutik geprägt. Der einen Seite wird unterstellt, das Evangelium zu verraten, wenn sie im Rahmen der rechtserhaltenden Gewalt auch den Einsatz von militärischen Mitteln vertreten kann. Der anderen Seite wird vorgeworfen, naiv zu sein und die Realitäten nicht anzuerkennen. Ich plädiere für eine wirklich offene Diskussion der vielen Fragen, die sich angesichts des Angriffs der russischen Regierung auf die Ukraine in der Tat noch einmal dringend und teilweise auch neu stellen. Die unterschiedlichen Positionen in der Friedensethik müssen dabei im gegenseitigen Respekt als gemeinsames Ringen um einen gerechten Frieden verstanden werden, das auch um die offenen Fragen, die Dilemmata und Ambiguitäten weiß.

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Literaturhinweise:

Zu den Verhandlungen zwischen Ukraine und Russland:
Michael Thumann: Lässt Putin mit sich verhandeln? In: Zeit Nr 45 vom 3.11.2022, S. 2
Sabine Fischer: Friedensverhandlungen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine: Mission impossible. In: SWP aktuell Nr. 66 Oktober 2022. https://www.swp-berlin.org/publikation/friedensverhandlungen-im-krieg-zwischen-russland-und-der-ukraine-mission-impossible

Zu Formen gewaltfreien Widerstands und zivilen Ungehorsams in der Ukraine:
Bund für zivile Verteidigung: https://www.soziale-verteidigung.de/artikel/ziviler-widerstand-gegen-krieg-ukraine

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1) Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. Von Eberhard Betghe, 1977, S. 328

2) Sobald ihr im Westen Wolken aufsteigen seht, sagt ihr: Es gibt Regen. Und es kommt so. Und wenn der Südwind weht, dann sagt ihr: Es wird heiß. Und es trifft ein. Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten, warum könnt Ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten? Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil? (Lk 12,54 ff.)

3) Betet allezeit mit allem Bitten und Flehen im Geist und wacht dazu mit Beharrlichkeit und Flehen für alle Heiligen. Epheser 6, 18

4) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2007. Referenzdokumente sind auch: Kirche auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens
Kundgebung der 12. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 6. Tagung oder auch die Reihe „Gerechter Frieden“ aus dem Konsultationsprozess zum gerechten Frieden: "Orientierungswissen zum gerechten Frieden - Im Spannungsfeld zwischen ziviler gewaltfreier Konfliktprävention und rechtserhaltender Gewalt", dokumentiert in „Gerechter Frieden“ 22 Jahrgänge, 2018 – 2022.

5) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Ziffer 98

6) Ebda Ziffer 102

7) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Ziffer 114

8) Vergleiche PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner (FEST): Russlands Angriff auf die Ukraine – die evangelische Friedensethik an einem Wendepunkt? Der gerechte Frieden – eine Orientierung im Krieg in der Ukraine? In: epd Dokumentation Nr. 12, 2022 S. 67ff

9) Vergl. die Diskussionen über die Sanktionen gegenüber dem Irak und deren Folgen für die Bevölkerung in den Jahren 1990 bis 2003

10) Siehe zu dem Folgenden: Stefan Talmon, https://verfassungsblog.de/waffenlieferungen-an-die-ukraine-als-ausdruck-eines-wertebasierten-volkerrechts/

11) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Ziffer 158

12) Hinweise z.B. bei www.wagingnonviolence.org

13) Erica Chenoweth and Maria J. Stephan „Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict“, Columbia University Press 2012; auch das amerikanische Militär forscht zu den Zusammenhängen: Will Irwin, How Civil Resistance Works (And Why it Matters to SOF), JSOU Report 19-4; Joint Special Operations University Press 2019

14) Siehe die Initiative „Sicherheit neu denken“, https://www.sicherheitneudenken.de/zivile-sicherheit-ist-wirksam. Längst vorher gab es aber Erfahrungen und Reflexionen zur Gewaltfreiheit auch im deutschsprachigen Raum.

15) Erica Chenoweth, Civil Resistance, What everyone needs to know, Oxford University Press, 2021, S. 227ff

16) Die baltischen Staaten verbinden in ihren Verteidigungsstrategien ausdrücklich beide Wege: den militärischen wie den des zivilen Widerstands. Siehe: Graþina Miniotaitë, Lithuanian Military Academy, Institute of Culture, Philosophy and Art: Civilian Resistance in the Security and Defense System of Lithuania: History and Prospects https://journals.lka.lt/journal/lasr/article/213/file/pdf; siehe auch: Civilian-Based Resistance in the Baltic States Historical Precedents and Current Capabilities by Anika Binnendijk, Marta Kepe, https://www.rand.org/pubs/research_reports/RRA198-3.html

17) Siehe Ines-Jacqueline Werkner, Wie kann der Krieg in der Ukraine enden? Sechs Szenarien. In: Werkner, Ines-Jacqueline, Krüger, Madlen und Mayer, Lotta (Hrsg): Wege aus dem Krieg in der Ukraine. Szenarien – Chancen – Risiken. FEST kompakt Band 5, 2022, Universitätsbibliothek Heidelberg, S. 11-27

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  Trinitatis

Trinitatis

Cornelia Götz, Dompredigerin - 12.06.2022

Die Gnade und die Gemeinschaft und die Liebe sei mit Euch allen.“
Ja bitte! Das möchten wir. Gnade, Gemeinschaft, Liebe. Also:
Gelingendes Leben.
Gutes Leben.
Glückliches Leben.
Ja bitte. Nichts sonst jagen wir dermaßen hinterher.
Wir glauben und hoffen mit ganzer Kraft, dass das Glück doch endlich mal kommen muss und dass endlich alles gut wird, erst recht weil wir uns angestrengt, Erwartungen runtergeschraubt und Erfahrungen durchgebürstet haben.
Und wir versuchen, realistisch zu sein, denn wir wissen:
Menschen starten unter sehr verschiedenen Bedingungen ins Leben, sind nicht gleichermaßen begabt zum Glücklichsein und finden sich keineswegs alle zur rechten Zeit am rechten Ort vor. Es ist eben nicht sicher, dass ich den Menschen oder den Job finde, mit dem ich glücklich werden kann. Ich kann nur darauf setzen, mich anständig zu benehmen und dem Glück nicht im Weg zu stehen, mich zu bescheiden.
Es ist, wie es ist.
Radikale Akzeptanz nennen das die Psychologen.
Wir sollten uns damit abfinden. Aber auch das ist schwer. Erst recht in einer Erfolgs- und Leistungsgesellschaft wie der unseren. Da habe ich mich gefälligst als meines Glückes Schmied zu beweisen. Wenn ich nicht glücklich werde, wenn es nicht gut wird und nicht gelingt - bin ich wahrscheinlich selber schuld.
Dann eben keine Hoffnung auf ein - ich sage vorsichtig - erfülltes Leben?
Das kriegen wir nicht hin.
Die Sehnsucht nach Glück, nach Segen und Fülle lässt sich nicht vertreiben.
Wie kann es also gehen, das gute Leben - voller Gnade, Gemeinschaft und Liebe?
Es ist uns ja verheißen und es war ja auch schon kurz mal alles gut, eine Generation lang. Adam und Eva haben das glückliche sorgenlose Leben verspielt, weil es immer nicht reichte, weil sie kein genug kannten und keine Zufriedenheit, weil sie nicht alles haben konnten. Die Prototypen eben.
Seither schlagen wir uns mit widrigen Umständen rum und versuchen darin klug und glücklich zu werden - mit sehr unterschiedlichem Erfolg.
Einer, der es in all dem relativ weit gebracht hat, ist Nikodemus, wir haben vorhin von ihm gehört.
Er ahnt, dass unseren menschlichen Möglichkeiten Grenzen gesetzt sind und auch, dass das nichts ist, was andere hören wollen und macht sich daher im Schutz der Nacht auf den Weg der Sinnsuche, von der er weiß, dass es die Gottsuche ist.
Er will wissen, wie sein Leben neu werden kann, endlich gelingt.
Dieser Weg führt ihn ganz unmittelbar in die Nähe Gottes und wirft ihn zugleich auf sich selbst zurück. Er hört: das gelingende, glückliche, gottesfürchtige - das gesegnete, ewige Leben: aus Fleisch und Blut kann es nicht werden, wir Geborenen, endlichen und unvollkommenen Geschöpfe kommen da aus uns heraus nicht hin.
Es sei denn: wir werden ganz Andere - aus dem Geist Geborene.
Nicht wundern! Hört er. Und dann: „Der Wind weht wo er will und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht woher kommt und wohin er fährt…“
Mit anderen Worten, du spürst was Richtiges - aber da kannst Du kleiner Mensch nichts richten, es ist Gottes unerforschlicher Ratschluss.
Kein Wort mehr von Nikodemus.
Hat ihm das eingeleuchtet, getröstet, glücklich gemacht? Hat er am Ende seines Lebens gedacht, dass es gelungen ist, gut war, glücklich sogar?
Irgendwem muss er ja davon erzählt haben - sonst hätte es keiner aufgeschrieben.
Ich stelle mir vor, dass auch Paulus von diesem nächtlichen Gespräch gelesen hat.
Auch er kannte die Sehnsucht nach dem gelingenden Leben.
Er hatte den radikalen Versuch, alles richtig und gut zu machen, schon hinter sich. Jedes Gesetz, jede Regel, die Gott den Menschen mitgegeben hatte, um ihr Miteinander zu fördern und der Herzenshärtigkeit zu wehren, hatte er allersorgfältigst erfüllt - aber es ist nicht aufgegangen, wie er gedacht hat.
Doch der Wind wehte und er hörte das Sausen. Paulus wurde umgerissen und ein ganz und gar neuer und anderer.
Aber ist das nun das gute Leben? Paulus hat es ins Gefängnis gebracht…
Es gibt offenbar kein verlässliches wenn - dann im Glückshaushalt der Welt.
So schreibt er an die Römer:
„Oh welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis. Wie unbegreiflich sind Gottes Gerichte, wie unerforschlich seine Wege! In ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge!“
In der Tat. Unbegreiflich und unerforschlich ist es.
Regelrecht bestürzend. Wenn nicht niederschmetternd.
Aber so klingt Paulus nicht. Im Gegenteil. Es klingt wie ein großer Lobgesang. Wie das ganz große Staunen:
Bei Hiob heißt es: „merke auf, steht still, betrachte die Wunderwerke Gottes“. Ausgerechnet bei diesem sprichwörtlichen Unglücksraben. Die Mystiker machten daraus: vergiss dich selbst. Je mehr du staunst und dich wohl auch über Gott wunderst, umso leichter wird es, einfach nur hier zu sein, sich einzufinden in das Jetzt und zu leben. Glück, Gnade und Gelingen kennen kein Warum, nur das Staunen.
Angelus Silesius beschrieb solches im 17. Jahrhundert so: „Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet, Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet…“
Loslassen also, sich selbst und die Idee, wie es sein könnte, die Erwartungen und Ansprüche an das Glück und das Gelingen, an MEIN Leben.
Den Gegenentwurf zu Adam und Eva probieren.
Wo führt das hin?
In das Dunkel der Nacht, sagen die Mystiker. Raus aus dem Paradies. Denn je größer das Staunen umso tiefer die Dunkelheit der Seele, das Gefühl, das alles nicht ist und wir unendlich weit entfernt von Gott, von seiner Liebe, von seiner Gnade und seinem Segen sind. Ja, so ist es - sagen die Mystiker und nun geh noch einen Schritt weiter und dann verstehst du: Gott ist das Nichts, genau dieses Nichts. Er ist das Nichts, das alles werden will, denn „in ihm und durch ihn sind alle Dinge.“
Solche Gottsuche, solche Glückssuche macht frei. Die Ich-AG muss nicht gelingen.
Vielleicht führt das in ein widerständiges Leben. Selbstvergessen im besten Sinne. Vielleicht führt das in die Unabhängigkeit von den Glückversprechen dieser Welt und ihren wahnsinnigen Preisen.
Vielleicht wird es auch wie bei Claude Monet, der einem Fotografen am Ende seines Lebens sagte, er möge nicht ihn porträtieren, sondern die Blumen. Die seien ihm ähnlicher.
Ohne Warum.
Denn „Die Gnade und die Gemeinschaft und die Liebe sei mit Euch allen.“

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  Pfingsten

Pfingsten

Cornelia Götz, Dompredigerin - 07.06.2022

Pfingsten - „ng, ng, ng - das könnte einen g haben“ hat der Komiker Emil unnachahmlich festgestellt. Er brauchte da irgendeinen kirchlichen Feiertag im Kreuzworträtsel und Ostern passte nicht. Aber Pfingsten - das merkwürdige Hochfest, von dem viele wahrscheinlich wirklich nicht mehr zu sagen wüssten als dass es ein „g“ hat.
Die eine oder andere hat noch den durchaus abstrakten „Geburtstag der Kirche“ auf dem Plan. Und Experten wissen, es ist das Fest des Heiligen Geistes.
Wissen? Jedenfalls gibt es ein rotes Parament, denn es ist kein Christusfest, wie Weihnachten oder Ostern. Eher ein Tag der Menschen, die versuchen auf Gottes Wegen zu gehen - rot wie zur Konfirmation oder Einführung der Kirchenvorsteherinnen.
Rot wie Feuer, wie Liebe, wie Blut, wie Eifersucht.
Rot ist eine Signalfarbe.
Wenn Rot kommt, dann ist Aufmerksamkeit geboten.
Der Theologe Wilhelm Gräb schreibt vielleicht deshalb: Pfingsten sei das Fest der „Geistesgegenwart.“
Und wenn das eine brauchbare Definition ist, dann ist Pfingsten ein absolut dringendes Fest.
Geistesgegenwart. Klarheit. Urteilsfähigkeit. Reaktion auf den Punkt.
Das brauchen wir - nicht im Sinne der Bevormundung, die mit roten Warnfarbe ja auch manchmal einhergeht, sondern als mündige Fähigkeit die Geister zu scheiden.
Geistesgegenwart.
Das gibt es heute als Gottesgegenwart.
Pfingsten ist das Fest, an dem wir solche Begabung feiern - keinen Zieleinlauf.
Pfingsten ist wie Feuer und geistesgegenwärtige Liebe eine Herausforderung.
Wer sich dem dem aussetzt, kann sich verbrennen, verletzten, irren.
Die Geister scheiden zu wollen braucht Mut und kann uns die Ruhe kosten, den ungerechten Reichtum auch..
Achtung! Rot!
Und dann? dann heißt es - wie in dem Lied, das wir gleich mit der Jugendkantorei singen werden - ja: es hat nicht ganz die Melodie für ein Ohrwurm - aber einen ordentlichen Text:
„Prüft, prüft, prüft genau und wählt das Gute, nehmt euch in acht vor den Schrecken dieser Zeit- Prüft, prüft, prüft genau und wählt das Gute, sucht mit Geduld nach der Spur der Freundlichkeit.
Prüft genau - voller Geistesgegenwart!
Prüft genau und wählt das Gute!
Natürlich, was sonst? Das Gemeine, Hinterhältige, Schlechte etwa?
So leicht ist es nicht. Die Geister sind klug und wir lassen uns gern verführen, einlullen, bestätigen, beruhigen.
Prüft genau!
Das sind alte Worte, sie stehen schon im Thessalonicherbrief: prüft genau und das Gute behaltet.
Achtung! Rot!
Wenn es ernst wird, merken wir, wie schwer das ist.
Wenn eine Beziehung mühsam wird - ist es dann der Moment zu gehen oder zu bleiben? Ist das Gute die Kraft der Beharrlichkeit oder der Mut zur Freiheit?
Wenn ein Mensch mit Krankheit oder Sterben ringt, ist es gut ihn festzuhalten oder gehenzulassen? Ist das Gute die Hoffnung oder die Demut?
Wenn junge Menschen alles stehen und liegen lassen wollen, dem Moment folgen, sollte man sie bremsen? Ist das Gute die Begeisterung oder die Erfahrung?
Und erst recht: wenn unsere Nachbarn mit Krieg überzogen werden, ist es dann gut an der Idee der Gewaltlosigkeit festzuhalten oder macht man sich schuldig an denen, die sich verteidigen wollen? Ist es gut, sich zu erinnern, dass Aufrüstung auch ohne Krieg tötet oder wiegt die Verantwortung schwerer, weil andere sich auf uns verlassen?
Wenn die Uiguren verfolgt werden, ist es dann gut … Nein. ist es nicht.
Prüft genau und das Gute behaltet.
Prüft genau… und dann handelt. Das Gute zu behalten, heißt nicht Besitzstandswahrung feiern sondern aktiv aussortieren.
Prüft genau und nehmt euch in acht vor den Schrecken dieser Zeit.
Sich in acht zu nehmen haben wir ja in den letzten zwei Jahren gelernt.
Man hält Abstand, schützt sich selbst und damit andere, vermeidet Nähe. Das hat uns geholfen, mit dem Virus recht und schlecht auszukommen. Vor heftigen Konflikten, wie wir sie hier am Dom durchgestanden haben und erst recht einem Krieg schützt Abstand nicht. Die Kinder in der ukrainischen Gruppe der Domsingschule haben nicht ahnen können, dass sie sich in acht nehmen müssen vor Bomben und Soldaten.
Was hätte sie darauf vorbereiten können?
Eine Spur der Freundlichkeit? Ich weiß nicht ob das genügt. Es braucht mehr.
Es braucht Antworten, Verständigung, Einsicht, Entscheidung.
Ist das Pfingsten?
Was passiert da nochmal?
Wir haben es in der Apostelgeschichte vorhin gehört:
Die Menschen sind zusammen - an einem Ort. Das ist - jedenfalls in meiner Bibel - fettgedruckt. Nicht verstreut, nicht jede und jeder auf der eigenen Spur, nicht jede und jeder dem eigenen Freiheits- und Glücksbegriff hinterherjagend und im eigenen Film oder vergraben in der eigenen Angst - sondern alle an einem Ort.
Auch damals war das offenbar nicht selbstverständlich.
Was für ein Ort war es? Der Berg der Fragen? Der Sumpf des Wohlstandes? Der weite Raum der Unsicherheit. Oder doch nur der Trampelpfad der Suchenden?
An diesem einen Ort erleben sie alle dasselbe. Sie werden es nicht beglaubigen müssen, sich nicht rechtfertigen müssen, denn es sind ja alle da, alle haben es erlebt: das Feuer der Verständigung.
Es muss unglaublich gewesen sein!
Den Anflug davon kennen wir auch: Wenn man sich heißredet, weil man auf einmal versteht und verstanden wird. Das gibt es! Aber wie geschieht es? Und wie ergreift es uns alle?
Es ist dringend nötig, so eine Erfahrung machen - jetzt in den Schrecken dieser Zeit!
Damals kommt das Feuer der Verständigung, der Geist, der lebendig macht, mit Sturm und Brausen. Es kommt wie etwas, vor dem man sich eigentlich in acht nehmen sollte.
Es kommt unvermutet und mit Wucht.
Er trifft alle.
Fast.
Auch hier gibt es Zuschauer. Auch hier gibt es die, die draußen bleiben.
Auch hier gibt es die, die eine andere Sicht haben.
Auch hier gibt es die, die nicht prüfen, ob das was sie gleich sagen und tun werden, gut ist.
Auch hier gibt es die Anderen.
Kein Wunder. Von außen macht das alles ja auch ganz den Eindruck als würden die, die da durcheinander reden und sich trotzdem alle verstehen nicht ganz zurechnungsfähig sein, realitätsfern, betrunken, naiv...
Ist solches Verstehen also eine exklusive Angelegenheit?
Ist das nur was für Verrückte und Kinder?
Nein. Es ist eine Gabe und vielleicht eine Antwort. Es eröffnet eine Möglichkeit, denn der Geist, der uns reagieren lässt, der ist einer der lebendig macht, der
Augen öffnet - für eine Sehen ohne Neid,
und Lippen - für ein Sprechen ohne Streit,
Und alle Sinne, um in dieser Welt leben.
Pfingsten?
Könnte einen „g“ haben. Wie das „Gute“, das wir erkannt haben und behalten wollen.

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  Karfreitag

Karfreitag

Dr. Christoph Meyns, Landesbischof - 15.04.2022

„Es wurden aber auch andere hingeführt, zwei Übeltäter, dass sie mit ihm hingerichtet würden. Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.“

Der Evangelist Lukas beschreibt eine Szene, wie sie damals an der Tagesordnung war. Ein Wachkommando führt verurteilte Straftäter an den Platz ihrer Hinrichtung. Verwandte, Bekannte und Schaulustige begleiten sie. Der Zug wandert durch das nördliche Stadttor hinaus zum Steinbruch. In seiner Mitte haben die Steinhauer eine Erhebung stehengelassen. Das Gestein ist nicht geeignet als Baumaterial. Aber als Ort für die fast täglichen Hinrichtungen taugt er. Golgatha nennt der Volksmund diesen Felsen, Schädelstätte. Hier wird Jesus gekreuzigt, wie viele Männer vor ihm und nach ihm in Jerusalem in der Zeit der Römischen Herrschaft: Räuber, Mörder, entlaufende Sklaven, Aufrührer, Attentäter.
Aber bedarf es in diesen Tagen nach all den erschütternden Bildern aus der Ukraine wirklich noch der Erinnerung daran, zu welcher Grausamkeit Menschen fähig sind? An die rohe Gewalt, mit der Staaten ihre Machtansprüche durchsetzen? An Propaganda, Verspottung, Folter und den Tod als Machtmittel? An Heimtücke, Verrat und das Leiden eines Unschuldigen?
Wollte die Bibel nur von dem erzählen, was vor Augen liegt, wir könnten uns die Erinnerung an den Tod Jesu am Kreuz sparen. Aber es geht um etwas anderes. Es geht darum, was verborgen inmitten von all dem geschah; was sich darin – nur für den Glauben sichtbar – vollzieht im Blick auf mein Verhältnis als Mensch zu Gott, für das, wie ich Gott verstehen darf, für das, was meinem Leben Halt und Richtung gibt. In diesem Sinne bildet der Karfreitag eine epochale Zeitenwende in der Geschichte menschlicher Zivilisation, einen fundamentalen Neuanfang.

„Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da antwortete der andere, wies ihn zurecht und sprach: Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

Das Gesamtbild steht, jetzt richtet Lukas unseren Blick auf die drei Gekreuzigten. Eine intime Szene: Die Todgeweihten unter sich. Der eine stimmt ein in den Ruf der Spötter, die nur das hier und jetzt im Blick haben, gefangen im Vordergründigen, mit den Scheuklappen der Bornierten. Aber der andere sieht mehr. Er sieht in Jesus einen, der Gott nahe ist. Er sieht in ihm den Himmel durchscheinen. Er sieht seine eigene Verlorenheit, aber er sieht in Jesus auch einen Fürsprecher für sich, einen, der trotz seiner Untaten für ihn vor Gott eintritt. Damit hat ausgerechnet er mehr von dem verstanden, wer Jesus ist und für was er steht, als alle anderen.
Es ist Jesus eben nicht um politische Herrschaft gegangen. Sein Reich ist das der Liebe Gottes. Es kommt aus der Zukunft auf uns zu und ist schon jetzt in der Gegenwart so nahe, dass es in Ansätzen bereits immer wieder durchbricht, so wie einzelne Sonnenstrahlen durch den Nebel. Von der Kraft, die in dieser Liebe liegt, hat er in seinen Gleichnissen und Geschichten gepredigt. Sie gleicht der Kraft, die in einem Samenkorn liegt, dem Vorgang von Saat und Ernte, dem Glück eines gefundenen Schatzes. Sie gleicht der Barmherzigkeit eines Vaters, der seinen in die Irre gegangenen Sohn wieder bei sich aufnimmt oder der unverdienten Tilgung eines großen Schuldenberges.
Unser Leben geht nicht auf im Horizont dessen, was unsere Sinne wahrnehmen. Am Ende wartet das Paradies. Und wer glaubt, der geht mit. „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“, so bittet der Mörder. Und das ist auch für uns alles, was nötig ist: nichts beschönigen, nichts abstreiten, sich nicht rechtfertigen wollen, nichts aus sich machen wollen, sondern sich Jesus Christus anvertrauen und ihn bitten, vor Gott für mich einzutreten.

„Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.“

Der Tod Jesu am Kreuz ist einer der dunkelsten Stunden der Menschheit. Zugleich geht mit ihm ihm ein Riss durch die Geschichte. Der Vorhang im Tempel verbarg das Allerheiligste vor den Augen der Menschen: die Lade mit den Tafeln der Zehn Gebote, den Ort, an dem Gott nach jüdischer Vorstellung in besonderer Weise gegenwärtig war. Nur der Hohepriester durfte einmal im Jahr am Jom-Kippur hinter den Vorhang treten, um mit einem Opfer das Volk mit Gott zu versöhnen. Eben dieser Vorhang zerreißt. Denn mit dem Tod Jesu hat sich Gott ein für alle mal mit uns versöhnt. Es braucht keinen Tempel mehr, kein Allerheiligstes, kein Versöhnungsritual, keine Opfer. Das Allerheiligste liegt klar vor Augen: Es ist der Gekreuzigte. Gott begegnet uns hier nicht räumlich abgetrennt und verhüllt. Er zeigt sich offen vor aller Augen und ist doch zugleich im Gegenteil tief verborgen. Das Paradies inmitten des Todes, ein Neuanfang inmitten von Abbruch, Liebe inmitten von Hass, Vergebung inmitten schwerster Schuld, die Versöhnung aller Menschen mit Gott inmitten der Hinrichtung eines einzelnen Menschen.
Das ist die neue Grundsituation des Menschen vor Gott, die am Karfreitag beginnt. Wir sind versöhnt. Wir haben Frieden mit Gott. Und es bedarf nicht mehr, als dass wir fest darauf vertrauen, dass das so ist, und daraus leben. Wie es Martin Luther in der Vorrede seiner ersten Übersetzung des Neuen Testaments vor 500 Jahren geschrieben hat: „Das Evangelium fordert nur Glauben an Christus, dass derselbe für uns Sünde, Tod und Hölle überwunden hat und also nicht durch unsere Werke, sondern durch seine eigenen Werke, Sterben und Leiden, fromm, lebendig und selig macht, auf dass wir uns seines Sterbens und Überwindens annehmen möchten, als hätten wirs selber getan.“
Das Kreuz lehrt uns Menschen, uns als Wesen zu begreifen, die der Vergebung bedürfen, der Erlösung und der Versöhnung mit Gott. Wie es Paulus an einer berühmten Stelle im Römerbrief formuliert: „Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerechtaus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ (Röm 3,23.24) Damit widerspricht der Karfreitag unserer Selbsteinschätzung. Wir halten uns ja in der Regel für normale, einigermaßen gesetzestreue und moralisch anständige Menschen, vielleicht mit kleinen Fehlern und der einen oder anderen Charakterschwäche, aber alles in allem grundsätzlich in Ordnung. Nicht wir, andere Menschen sind das Problem: Egoisten, Verbrecher, Gewalttäter, Kriegstreiber. Aktuell ist es der russische Präsident, auf den alles Böse projiziert wird.
Aber so einfach ist es nicht. Wir Menschen haben alle ein Talent für Zerstörung und Selbstzerstörung, und dazu ein kurzes Gedächtnis. Es ist erst drei Generationen her, dass dieses Talent von Deutschland Besitz ergriff und ganz Europa auf einen Weg zwang, der in der totalen Zerstörung, im moralischen Bankrott und in der Barbarei endete. Wir beten nicht umsonst mit jedem Vaterunser „und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Die Dynamik von Neid, Angst, Hass, Dummheit und Hybris kann jeden von uns ergreifen und das Leben auf unheilvolle Wege bestimmen. Das Kreuz Jesu weist hin auf diesen unheilvollen Drang in uns selbst und lässt uns zurückhaltend sein mit Urteilen über andere.
Nein, Russland hat nicht unseren Hass verdient, sondern unser Mitleid. Das Land ist zutiefst gefangen in einer sich selbst verstärkenden Spirale der Gewalt nach innen und nach außen, getrieben von rückwärtsgewandten Sehnsüchten nach politischer Größe. Unser Staat ist gefordert, dem energisch entgegenzutreten, zusammen mit anderen. Das ist seine Aufgabe. Unsere Aufgabe als Christinnen und Christen ist es, von Golgatha aus tiefer zu schauen, die Angst und das Elend zu erkennen, das dahinter liegt und Gott um Frieden und um Erlösung zu bitten. Es wird eine Zeit kommen, in der die Kraft zu Vergebung, Versöhnung und zum Neuanfang wichtig werden wird sowohl für Russland, für die Ukraine als auch für uns, und dass es Menschen gibt, die sich dafür einsetzen.

„Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen! Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.“

Das Kreuz stellt alle menschlichen Maßstäbe auf den Kopf. Damit verschiebt sich zugleich, wer Jesus nahe ist und wer ihm fern steht. Während seines Lebens waren seine Jüngerinnen und Jünger Jesus am nächsten. Jetzt aber stehen sie nur von ferne und begreifen erst viel später, was dort geschehen ist. Ausgerechnet der römische Hauptmann der Wache, der Jesus aus dem Gefängnis nach Golgatha geführt hat, spricht dagegen ein Glaubensbekenntnis. Und das Volk, eben noch voller Spott, schlägt sich in Reue an die Brust. Alle Feindschaft ist verschwunden, Friede breitet sich aus. Der Tod Jesu hat die Verhältnisse grundlegend verändert. Und das wirkt sich aus auf die Menschen, die ihm nahekommen, weit hinaus über den engen Kreis seiner Anhänger.
Um dieser sich über die ganze Welt ausbreitenden, versöhnenden und friedensstiftenden Wirkung willen erinnern wir uns heute an die Hinrichtung Jesu. Deshalb wurde das Kreuz zum zentralen Symbol der Christenheit. Für seine Jüngerinnen und Jünger dagegen war der Karfreitag zunächst nur ein Tag des Scheiterns, der Trauer, des Abschieds und das Ende aller Hoffnungen. Erst nachdem ihnen Jesus als Auferstandener erschien, begannen sie zu begreifen, was das alles zu bedeuten hat und sahen seinen Tod in einem neuen Licht, als Zeichen der Versöhnung mit Gott. Sie haben anderen Menschen davon erzählt. Und als sie alt wurden, haben Menschen wie Lukas ihre Geschichten aufgeschrieben, um ihre Erinnerung zu bewahren. Seitdem erinnert sich jede Generation auf ihre Weise an den Tod Jesu am Kreuz und arbeitet für sich durch, was es bedeutet, ein mit Gott versöhnter Sünder zu sein.
Für mich ist in diesem Jahr zwischen Corona, Krieg und Inflation wichtig, dass wir inmitten aller Bestürzung und aller Lasten um so fester an der Hoffnung auf die versöhnende und friedensstiftende Wirkung festhalten, die vom Kreuz Jesu ausgeht, dass wir den Opfern von Krieg und Gewalt beistehen, Flüchtlingen helfen und uns bei aller notwendigen Abgrenzung und allem Widerstand zugleich unser Mitleid für die Täter bewahren. Wie es in einem Passionslied heißt: „Holz auf Jesu Schulter, von der Welt verflucht, ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht. Wollen wir Gott bitten, dass auf unserer Fahrt Friede unsere Herzen und die Welt bewahrt. Denn die Erde klagt uns an bei Tag und Nacht. Doch der Himmel sagt uns: Alles ist vollbracht!“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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