Das Wort zum Alltag

Seit dem 1. Dezember 1968 gibt es von Montag bis Freitag um 17.00 Uhr und Samstag um 12.00 Uhr eine kurze Andacht mit Gebet, die von Orgelmusik gerahmt wird.
Wir möchten Menschen damit ermöglichen für ihre eigene Praxis pietatis eine regelmäßige Form zu finden. Zugleich birgt das Format die Möglichkeit auf die jeweils aktuellen Ereignisse in unserer Stadt und unserer Welt zu reagieren.

Während des Advents und der Friedensdekade hat das Wort zum Alltag einen besonderen Akzent. Das Wort zum Alltag wird in der Regel von der Dompredigerin, sowie von anderen Braunschweiger Pfarrerinnen und Pfarrern und Prädikanten gehalten. Die umrahmende Orgelmusik übernehmen die Kantoren des Braunschweiger Doms.

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Worte zum Alltag

  Komm!

Komm!

Cornelia Götz, Dompredigerin - 14.10.2024

„Komm bau ein Haus, das uns beschützt / pflanz einen Baum, der Schatten wirft / und beschreibe den Himmel, der uns blüht / und beschreibe den Himmel / der uns blüht.“
So dichtete Friedrich Karl Barth 1977, reichlich dreißig Jahre nach Kriegsende.
1938 geboren in Kassel wird er eine Ahnung davon gehabt haben, wie eine Trümmerlandschaft aussieht und welche Angst ein Himmel machen kann, wen es statt Blüten Bomben regnet.
Und genauso wird er gewusst haben, dass nach den bitterkalten Hungerwintern kaum noch ein Baum stand, geschweige denn Menschen und Tiere in seinem Schatten tanzten, spielten und erzählten.
Es brauchte seine Zeit und es braucht immer noch ein Bewusstsein dafür, dass ein Leben ohne Kriegsversehrtheit keine Selbstverständlichkeit ist.
Denn heute Abend vor 80 Jahren sind die Menschen hier zum letzten Mal in der mittelalterlichen Hansestadt mit seinen Bürger- und Gildehäusern ins Bett gegangen.
In der Nacht zum 15. Oktober ist Braunschweig in Schutt und Asche gesunken und erlitt das gleiche Schicksal wie Coventry und Rotterdam, Kiel, Hamburg und Dresden, Mariupol, Odessa, Homs und Aleppo.
1977, als Karl Friedrich Barth seinen Text dichtete, ging es hier längt wieder bergauf. Bombenkrater und Häuserlücken hatten sich geschlossen.
Die Stadt hatte ein neues – wenn auch ein bisschen vernarbtes – Angesicht.
Auch Menschen lebten, liebten und lachten wieder und trugen doch Brandverletzungen mit sich herum, schraken und schrecken in Alpträumen hoch.
Darum kam und kommt darauf an, Leben in Frieden und Freiheit zu hüten und miteinander einzuüben.
Diesem Gedanken folgten die nächsten Strophen und weil wir fast in diesem Hoffnungsbild eben, lasst sie uns sehr bewusst unter der Erntedankkrone hören:
„Lad viele Kinder ein ins Haus / versammle sie bei unsrem Baum, /
lass sie dort fröhlich tanzen, / wo keiner ihre Kreise stört, …
Lad viele Alte ein ins Haus / bewirte sie bei unsrem Baum,
lass sie dort frei erzählen, / von Kreisen, die ihr Leben zog, /
lass sie dort lang erzählen, wo der Himmel blüht.“

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  Cantilène religieuse

Cantilène religieuse

Heiko Frubrich, Prädikant - 12.10.2024

„Cantilène religieuse“, so hat Théodore Dubois sein Werk überschrieben, das er als Nummer zwei in seiner Sammlung „Sieben Stücke für Orgel“ komponiert hat und das uns Domorganist Witold Dulski gleich spielen wird. „Religiöser Gesang“, so könnte man den Titel übersetzen, und tatsächlich konnte ich in der Musik viel davon wiederfinden.
Das Stück beginnt und endet in C-Dur in einem Dreivierteltakt und einem ruhigen Tempo, Andante espressivo mit 66 Schlägen pro Minute. Wenn wir entspannt sind ist das ein guter Ruhepuls, ein guter Rhythmus für unser Leben. Die Orgel pustet uns nicht in mächtigem forte fast von den Sitzen, nein, die Musik streichelt uns fast mit einem zurückhaltenden piano. Da gibt es Läufe, die uns mit nach oben ziehen, da gibt es Motive, die wiederkehren, die uns vertraut werden, die sich aber auch verändern und so das Stück nach vorne bringen.
So kann ein Leben im Glauben klingen, finde ich. So kann ein Leben klingen, in dem wir Gott Raum geben, in dem wir uns auf ihn einlassen und seine Gegenwart zulassen. Unser Gott ist ein Gott der leisen Töne. Er drängt sich nicht auf, er setzt uns nicht unter Druck aber er begleitet uns gern auf unseren Lebenswegen – in unserem Tempo, ohne Hetze, ohne Stress.
Gott erdrückt uns nicht mit seiner Präsenz. Er lässt uns Raum zum Atmen, stellt unsere Füße auf weiten Raum, wie die Bibel sagt. Er schenkt uns ein Leben in Freiheit. Auch Dubois‘ Musik erschlägt uns nicht. Sie begleitet uns, bietet an, uns hineinfallen zulassen in ihre sanften Harmonien. Doch es bleiben wir, die entscheiden, wie weit und in welche Richtung wir gehen wollen.
So ist es auch mit Gott. Er ist Wegweiser und Wegbegleiter, aber niemals Diktator. Und er schaut mit großer Geduld auf uns und unser Leben und bleibt uns zugewandt, trotz alledem, was wir ihm zumuten in unserer Überheblichkeit, unserer Arroganz und unserem Narzissmus.
Doch auch, wenn wir auf Abwege geraten und uns von ihm entfernen, können wir uns seiner offenen Arme sicher sein. Die Chance, es noch einmal zu versuchen, die Chance, es besser zu machen als in der Vergangenheit, diese Chance gibt er uns immer. Und auf seine Bereitschaft, uns zu vergeben, können wir uns verlassen. Wie wunderbar, dass er für uns da ist.
Cantilène religieuse, Musik, um die Augen zu schließen und unserem Gott Danke zu sagen. Amen.

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  Coming-Out-Day

Coming-Out-Day

Heiko Frubrich, Prädikant - 11.10.2024

„Diese schwule Scheiße unterschreibe ich nicht!“ Mit diesen Worten hat sich ein Spieler des VfL Wolfsburg in dieser Woche mehrfach geweigert, sein Autogramm auf ein T-Shirt des Fußballclubs zu setzen, dass mit Regenbogenfarben für Vielfalt und Gleichberechtigung wirbt. Das hat in den Medien und sozialen Netzwerken zu Recht hohe Welle geschlagen. Auch vereinsintern gab es wohl richtig Stress und mittlerweile einen Zweizeiler als Entschuldigung. Wie viel Einsicht hinter den knappen Worten steht, mag ich nicht einschätzen.
Auch unsere Lokalzeitung befasst sich heute mit dem Sachverhalt auf einer knappen halben Seite. Dort wird ausführlich und beinahe Mitleid erheischend berichtet, wie der betroffene Fußballer von einem Spielerkollegen, der selbst schon einmal wegen homophober Äußerungen bestraft wurde, getröstet und wieder aufgebaut wird. „Am Donnerstag habe die Welt für den Stürmer nach dem Aufruhr am Mittwoch schon „nicht mehr ganz so grau“ ausgesehen“, ist da zu lesen und es wird darüber fabuliert, wer denn wohl den Vorgang überhaupt öffentlich gemacht habe.
Und ich lese das und denke: Das kann doch wohl nicht wahr sein! Die Anzahl von Gewaltdelikten gegen queere Menschen ist von 2022 auf 2023 in Deutschland um 50% gestiegen. Im Osten unseres Landes werden Paraden und Feste zum Christopher-Street-Day von rechten Truppen gestört und Rednerinnen und Redner mit Drohungen niedergebrüllt. Die Stimmung in unserem Land verschlechtert sich, auch ganz deutlich gegenüber queeren Menschen.
Die Äußerungen des Wolfsburger Spielers sind nicht einfach mal so im Eifer des Gefechtes rausgerutscht. Dahinter steht eine Haltung, die in diesem Satz ihren Ausdruck findet, eine Haltung, die Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung verachtet.
Der heutige 11. Oktober ist Coming-Out-Day. Mit vielen Aktionen und Veranstaltungen soll insbesondere jungen Menschen dabei geholfen werden, sich zu ihrer Sexualität zu bekennen und sich zu outen. Der häufig schwierigste Schritt ist, dies in der eigenen Familie zu tun, insbesondere, wenn dort wenig Toleranz gegenüber anderen Lebensmodellen als dem, der klassischen Familie, herrscht.
Auch unsere Sexualität ist neben so vielem anderen ein wunderbares Gottesgeschenk und kein Mensch der Welt hat Einfluss darauf, was ihm da göttlicherseits mit in die Wiege gelegt wird. Und gerade dieses Geschenk ist besonders wertvoll, weil es dabei um Liebe geht, darum, dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen und ihre Lebenswege gemeinsam gehen wollen – als Mann und Frau oder als Frau und Frau oder als Mann und Mann. Und wie anmaßend ist es doch, Menschen darüber zu bewerten und in Kategorien von richtig und falsch zu packen.
Mit Jesus Christus und seiner Botschaft ist so etwas nicht zu rechtfertigen. Auch nicht beim Fußball. Amen.

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  Great is Thy faithfulness

Great is Thy faithfulness

Heiko Frubrich, Prädikant - 10.10.2024

Ende August hatten wir hier im Dom Bischof Philip North aus Blackburn zu Gast. Seit gut einem Jahr steht er der anglikanischen Diözese vor. Bei einem Rundgang hier im Dom war er begeistert und beeindruckt von unseren Orgeln, denn auch in der Kathedrale in Blackburn spielt die Kirchenmusik eine besondere Rolle.
Irgendwie ist mir um diesen Besuchstermin herum mein englisches Gesangbuch in die Hände gefallen und ich habe darin beim Rumblättern einen wunderbaren Choral gefunden, der gut in diese Erntedankwoche passt und den ich Ihnen gern vorstellen möchte. „Great is Thy faithfulness“ ist der Titel, „Groß ist Deine Treue“.
„Groß ist deine Treue, Gott. Du wendest dich nicht ab und deshalb stehen wir niemals im Schatten. Du änderst dich nicht, deine Barmherzigkeit lässt nicht nach. So wie du gewesen bist, wirst du für immer sein.“ So lautet der Text der ersten Strophe. Und es geht weiter: „Sommer und Winter und Frühling und Ernte, Sonne, Mond und Sterne auf ihrer Bahn, sie verbinden sich mit der ganzen Natur zu einem vielfältigen Zeugnis deiner großen Treue, Barmherzigkeit und Liebe.“
Ja, das klingt vielleicht ein wenig plüschig und es ist in der Tat sehr fromm. Gerade wir Protestanten mögen es gerne auch mal etwas kritischer und das ist ja auch gut so. Kirche muss sich zu den aktuellen Themen, die diese Welt beschäftigen verhalten, sie muss kritischer Wächter sein und bleiben und sich einmischen. So hat es uns Jesus Christus vorgelebt.
Und dennoch brauche ich immer wieder auch solche Lieder und Texte, die mich daran erinnern, woraus ich Kraft ziehen kann, was meinen Glauben stark macht und was größer ist als jeder tägliche Ärger, jede schlechte Nachricht und selbst größer als die größten menschlichen Tragödien. Es ist und bleibt Gottes Zusage, uns in alledem niemals allein zu lassen.
Schmerz und Leid gehören zu jedem Leben dazu, auch das hat Gott so gefügt und was das bedeutet sehen wir am Leben Jesu Christi, der am eigenen Leib erfahren musste, wozu Menschen fähig sind. Doch Gott hat es gutgemacht mit ihm und für uns alle eine Perspektive eröffnet, die alles Irdische und Vergängliche ganz locker in den Schatten stellt. Die dritte Strophe und der Refrain fassen es so zusammen:
„Vergebung der Sünden und ewiger Frieden, deine Gegenwart, die erfreut und ermutigt und mir Wegweisung ist, Kraft für heute und strahlende Hoffnung für morgen, ist Segen für mich und für so viele andere mehr! Groß ist deine Treue. Morgen für Morgen erlebe ich neue Gnade. Alles, was ich brauche hast du mir gegeben. Groß ist deine Treue, Gott, gegenüber mir. Ja, so ist es. Amen.

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  Abraham

Abraham

Heiko Frubrich, Prädikant - 09.10.2024

„Vater der vielen Völker“, „Der Vater ist erhaben“, „Freund Gottes“, so wird er genannt. Abrohom, Awroham, Ibrahim oder Abraham, so klingt sein Name auf Aramäisch, Altjiddisch, Arabisch oder Deutsch. Den biblischen Berichten zufolge ist kaum jemand Gott so nahegekommen wie er. „Ich will dich zu einem großen Volk machen“, hat Gott ihm verheißen und Abraham so zum Urvater gemacht. Und heute ist sein Gedenktag.
Abraham konnte ein Schlitzohr sein, der Gottes Weisungen durchaus beachtet, sie aber immer wieder auch ein bisschen zu seinen eigenen Gunsten ausgelegt hat. Als der Herr ihm sagt, er möge Familie, Freunde und alles Hab und Gut hinter sich lassen und in ein Land gehen, dass er ihm zeigen werde, da zieht Abraham los, aber eben nicht arm und allein. Er nimmt seinen Neffen Lot mit und auch Teile seines Vermögens bleiben nicht zu Hause. Und als es um die Zerstörung der Stadt Sodom geht, in der Lot mit seiner Familie lebt, da verhandelt Abraham mit Gott wie auf einem orientalischen Markt und das durchaus erfolgreich.
Doch er war Gott treu. Eine der wohl haarsträubendsten Geschichten der Bibel berichtet davon, dass Gott Abraham befiehlt, seinen Sohn Isaak zu opfern. Als Abraham seinem gefesselten Sohn das Messer schon an die Kehle setzen will, verhindert ein Engel des Herrn das Schlimmste im allerletzten Moment.
Abrahams Leben war beeindruckend und die biblischen Berichte über ihn und seine Familie sind spannend, beinahe wie ein Krimi. Doch es gibt darüber hinaus einen Aspekt, der Abraham für unsere Zeit zu einer wichtigen Person macht. Denn er ist eine Integrationsfigur, die von Juden, Muslimen und Christen gleichermaßen anerkannt und verehrt wird.
In Abraham wird für alle offensichtlich, dass wir alle zu ein und demselben Gott beten, eben zu jenem, dem Abraham so nahe sein durfte. Kann denn das nicht eine Chance sein, sich über all den Terror und die Gewalt und die Kriege hinweg darauf zu besinnen, dass wir alle eine gemeinsame Wurzel haben, dass wir alle Kinder desselben Gottes sind, der doch ganz sicher kein Interesse daran haben kann, dass wir uns gegenseitig die Schädel einschlagen?
„Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein und in dir sollen gesegnet sein alle Völker“, das hat Gott dem Abraham mit auf den Weg gegeben und damit doch auch all jenen, die sich bis aufs Blut feind sind. Würde sich doch diese Erkenntnis in den Köpfen festsetzen, viel Leid wäre vermeidbar. Und die Menschen könnten sich wieder begegnen und sich grüßen, wie von alters her: Shalom, Salam, Friede sei mit Dir! Amen.

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  Erntedank

Erntedank

Heiko Frubrich, Prädikant - 08.10.2024

Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht. Diese Wahrheit, die im Übrigen auch für alles andere Grünzeug gilt, das in Feld und Wald, Balkonkasten und Blumentopf und im heimischen Garten zu finden ist, diese Wahrheit ist unumstößlich. Geduld ist gefragt, wenn es ums Gärtnern geht. Geduld ist gefragt in der Landwirtschaft und Geduld war auch gefragt, bis all das, was hier vorne unseren Altar so prachtvoll schmückt, bereit war, um geerntet zu werden.
Doch wir reden über einen überschaubaren Zeitraum. Während ja so manches Bauprojekt unsere Geduld über Jahre und Jahrzehnte strapaziert – fahren Sie mal über die Autobahn nach Flensburg – reden wir bei dem, was wir hier vorne sehen, bestenfalls über ein paar Wochen. In dieser Zeit ist aus der Blüte der Apfel, aus dem Korn die Ähre und aus dem Samen der Kürbis geworden – einfach so.
„Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ So heißt es im 1. Buch Mose. Es ist Gottes Versprechen nach der großen Sintflut, der erste Bund, den er mit uns Menschen eingeht. Und Gott hat sich daran gehalten, verlässlich und treu, bis heute.
Und es ist jedes Mal wieder ein Wunder, was sich da vor unseren Augen vollzieht. Mal abgesehen von den notwendigen Apfelbäumen, passt, so denke ich, alles andere, was es an Samenkörnern und Setzkartoffeln für das hier vorne braucht, in einen kleinen Beutel. Und dann geben wir es in die Erde und bekommen dafür diese Fülle an Farben und Düften, an Geschmack und Vitaminen, an Kohlehydraten und Mineralstoffen und was weiß ich, was da sonst noch so alles drin ist. Und das funktioniert jedes Jahr aufs Neue, weil wir uns darauf verlassen dürfen, was Gott uns versprochen hat.
Und wir dürfen uns auf noch so viel mehr verlassen: darauf, dass Gott uns kennt, dass er uns ins Herz schaut und weiß, wie es in uns aussieht; darauf, dass er uns annimmt; darauf, dass wir von ihm gewollt und geliebt sind; und darauf, dass er es gutmachen wird – mit Ihnen, mit Euch und mit mir.
Auch das ist Erntedank, diese Erinnerung an Gottes Treue, die nicht endet und die uns trägt und hält hindurch und hinweg über alles Schwere, was unser Leben auch mit sich bringen mag. Denn Gott hat es uns in seinem Sohn zugesagt: „Fürchte dich nicht. Denn siehe ich bin bei dir alle Tage bis an der Welt Ende.“ Amen.

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  7. Oktober – ein erschütternder Jahrestag

7. Oktober – ein erschütternder Jahrestag

Heiko Frubrich, Prädikant - 07.10.2024

Es ist ein besonderer Feiertag, der Freudentag der Tora, der an diesem Schabbat gefeiert werden soll. Doch es wird kein Feiertag. Es trifft Männer Frauen und Kinder, Junge und Alte. Sie sind zu Hause, unterwegs zu Freunden, viele besuchen ein großes Musikfestival im Süden Israels. Am Ende dieses ersten Tages des Gewaltausbruches im Nahen Osten wird man mehr als 1.200 Tote und über 200 Verschleppte zu beklagen haben – allein auf israelischer Seite, allein an diesem ersten Tag. Es ist der schlimmste Pogrom an Juden seit dem Ende des Holocaust.
Seit diesem 7. Oktober 2023, an dem die Terroristen der Hamas Israel brutal überfallen haben, hat sich die Spirale der Gewalt immer weiter beschleunigt. Auf Aktion folgte Reaktion, auf Angriff folgte Vergeltung und auf jede Vergeltung weitere Vergeltung. Und die Spirale ist zu einem Strudel geworden, der sich ausweitet, der immer mehr Menschen hineinzieht und dessen Sog auch wir spüren in hämischem Jubel über die Erfolge der Terroristen und in einer Welle von unverhohlenem Antisemitismus in unserem Land.
Die Diplomatie scheint machtlos zu sein. Sie prallt ab an einer Mauer aus Hass und Fundamentalismus, sie schafft es nicht die tiefen Gräben zu überwinden und die Beteiligten dazu zu bewegen, wenigstens für eine kurze Zeit die Waffen aus der Hand zu legen und miteinander zu reden.
Es steht zu befürchten, dass viele in diesen seit einem Jahr andauernden Gewaltexzessen Chancen sehen, ihre eigenen Ziele und Interessen ein für allemal durchzusetzen. Da sind jene, die den Staat Israel endgültig von der Landkarte tilgen wollen und da sind andere, die dafür kämpfen, die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah und ihre Unterstützer dauerhaft zum Schweigen zu bringen. Und beide Seiten sind bewaffnet bis an die Zähne und ob und wann eine der Parteien ihr Ziel erreicht, ist nicht absehbar. Die Toten lassen sich mittlerweile in Zehntausenden zählen, die Verletzten ebenso.
Und unterdessen sterben jeden Tag auf Neue unschuldige Menschen, die diesen Krieg nicht gewollt haben, Menschen, die einander bestimmt auch gute Nachbarn sein würden, wenn man sie den ließe. Und unterdessen wagen sich Jüdinnen und Juden in unserem Land immer weniger, offen zu ihrem Glauben zu stehen und ihn zu leben. Und unterdessen bröckelt auch die Solidarität mit dem Staat Israel, die über Jahrzehnte in unserem Land Konsens war.
Und wir stehen da und schauen auf diese Katastrophe und müssen erneut feststellen, wie schwer wir Menschen uns tun, ja wie unfähig wir doch sind, aus uns heraus die Wege zu finden, die zum Frieden führen. Wir müssen feststellen, wie machtlos wir doch sind, in unserem Wunsch, dem allen Einhalt zu gebieten.
Es bleibt uns, Gott zu bitten, dieses Leiden und Sterben zu beenden. Es bleibt uns, ihn zu bitten, die Mächtigen sprachfähig zu machen, damit sie Auswege verhandeln können. Und es bleibt uns, Gott zu bitten, die Menschen zu segnen, die in Angst und Trauer und Verzweiflung leben und den Hass zu vertreiben, damit Frieden möglich wird. Möge Gott unsere Gebete erhören Amen.

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  Einheit in Einigkeit

Einheit in Einigkeit

Heiko Frubrich, Prädikant - 05.10.2024

In diesem Jahr wurde ihr der sonst sichere erste Platz in den Nachrichtensendungen streitig gemacht. Die eskalierende Gewalt im Nahen Osten hat sie von dort verdrängt. Oder hat sie auch aus anderen Gründen ihren Glanz verloren? Ist sie als epochale Veränderung im Leben vieler Millionen von Menschen nicht mehr so bemerkenswert?
Ich rede von der Deutschen Einheit, die wir vor zwei Tagen gefeiert haben – wenn wir sie denn gefeiert haben. Fakt ist, dass die Unterschiede in dem, was sich Menschen unter dieser Einheit vorstellen, immer deutlicher werden. Insbesondere ist mittlerweile sehr klar, dass diese Deutsche Einheit nicht bedeutet, dass die östlichen Bundesländer irgendwann einmal eine exakte Kopie der westlichen sein werden und sein wollen.
„Einheit in Einigkeit“ hat Domorganist Witold Dulski seine Komposition überschrieben, die wir später zum Beschluss des Mittagsgebetes hören werden. So könnte man auch unser Ziel betiteln, das wir uns als Gesellschaft in Deutschland setzen: Einheit in Einigkeit. Darunter ist mehr zu fassen als ein weiteres Zusammenwachsen von Ost und West. Unter diese Überschrift gehören auch Fragen der Integration von Migrantinnen und Migranten, Fragen, wie wir Menschen erreichen, die sich vom demokratischen Konsens verabschiedet haben und unsere freie und offene Gesellschaft grundsätzlich ablehnen und verachten.
Einheit in Einigkeit setzt voraus, dass wir einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden, unter dem wir uns alle zusammenfinden, über den wir uns einig sind. In der Vergangenheit waren das demokratische Grundwerte, die über alle politischen Unterschiede hinweg getragen haben und nicht in Frage gestellt wurden. Das ist heute offensichtlich nicht mehr der Fall. Müssen wir neue Felder suchen, über die wir eine übergreifende Einigkeit erreichen, oder gibt es Wege, die uns als Gesellschaft zurückfinden lassen auf die bewährte Basis?
Auch die Bibel beschreibt Situationen, in denen grundlegende Veränderungen vor sich gehen. Der Apostel Paulus schreibt an die junge christliche Gemeinde in Galatien: „Hier ist nicht mehr Jude oder Grieche, hier ist nicht mehr Sklave oder Freier, hier ist nicht mehr Mann oder Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“
Christus schafft hier eine neue Basis, ein neues Fundament, auf dem sich alle versammeln können und das trotz alle Unterschiedlichkeiten trägt. Er stiftet mir seinen Werten, die er den Menschen seinerzeit und auch uns heute vorgelebt hat, die Einigkeit, aus der heraus eine Einheit entstehen kann.
Diese Werte können auch uns als Gesellschaft insgesamt helfen, bestehende Gräben zu überwinden und die Mauern der Sprachlosigkeit, die wir in Teilen zwischen uns errichtet haben, wieder einzureißen. Jede und jeden davon zu überzeugen, dass wir alle eins in Christus sind, wäre sicherlich zu viel gewollt. Aber eine Einigkeit darüber zu schaffen, dass jede und jeder ein Mensch ist, der eine unantastbare Würde hat, könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein, um das zu erreichen, was Witold Dulski gleich in Musik gießen wird: Einheit in Einigkeit. Amen.

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  Rettungsanker Gottvertrauen

Rettungsanker Gottvertrauen

Heiko Frubrich, Prädikant - 01.10.2024

Rettungsanker Gottvertrauen
Der 1. Oktober, ein neuer Monat und damit auch eine neue Monatslosung und sie lautet: „Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“ Es ist ein Wort aus den Klageliedern des Propheten Jeremia. Klingt erst einmal gar nicht so nach Klage. Doch damit wir nachvollziehen können, in was für einer Stimmung er ist, als er diese Worte zu Papier bringt, lese ich uns ein paar Verse, die kurz vor dem stehen, den wir eben gehört haben. Jeremia schreibt:
„Gott, der Herr, hat seine Hand gewendet gegen mich und erhebt sie gegen mich Tag für Tag. Er hat mir Fleisch und Haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen. Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben. Er hat mich in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind. Er hat mich ummauert, dass ich nicht herauskann, und mich in harte Fesseln gelegt. Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet. Er hat meinen Weg vermauert mit Quadern und meinen Pfad zum Irrweg gemacht.“
Verzweifelter und frustrierter kann man ja wohl kaum klingen als der arme Jeremia es hier in seinem Klagelied ausdrückt. Da sind ja offenbar nur noch Frust und Angst und Resignation. Da ist ja offenbar jedes Gottvertrauen erstickt und verschüttet unter Verzagtheit, Trauer und Hoffnungslosigkeit.
Ob solche Klagen auch heute im Nahen Osten zu hören sind – in Israel, in Gaza, im Libanon? Wird so zum Herrn gerufen in den U-Bahnschächten in Kiew und Donezk, wenn draußen die Raketen einschlagen? Werden Menschen in Russland so klagen, die ihre Söhne, Ehemänner, Väter und Freunde im Krieg verloren haben? Gott, du hast mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben?
Gottvertrauen ist oftmals das letzte, was in einem Leben noch trägt. Gottvertrauen ist der Notanker, wenn alles andere versagt und wenn alle anderen nicht mehr helfen können oder wollen. Und so verzweifelt der Prophet Jeremia auch klingen mag, er kann eben doch noch sagen: Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu und seine Treue ist groß.
Und so ist es ganz sicher nicht verkehrt, Gott in guten Zeiten immer wieder um vertrauensbildende Maßnahmen zu bitten – durch Zeichen seiner Nähe auf unseren Lebenswegen, durch spürbare Liebe, die er uns zuteilwerden lässt, durch erlebbare Antworten auf unsere Gebete. Denn dass Jeremia recht hat, ist für uns alle in Jesus Christus offenbar geworden: Gottes Barmherzigkeit hat kein Ende. Sie ist alle Morgen neu und seine Treue ist groß. Amen.

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  Maria aber...

Maria aber...

Cornelia Götz, Dompredigerin - 28.09.2024

Über diesem Septembersamstag heißt es aus der Weihnachtsgeschichte: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“
Ach, wie schön, dass das mitten im September auftaucht.
Wie gut, uns an diese Szene zu erinnern während die Töne um uns herum immer rauer werden.
Es ist ja gar nicht vorstellbar, dass es harte oder böse Worte waren, hasserfüllt oder verlogen, die Maria da behielt und bewegte.
Im Gegenteil.
Ich denke mir, die Hirten waren in die Knie gesunken. Angerührt und plötzlich erfüllt von einer großen Zuversicht.
Vielleicht haben sie vor Erleichterung geweint.
Nur Maria weiß, was über ihre Lippen kam als ihnen das Herz überlief.
Sie kamen ja aus einem harten Alltag.
Sie kannten die Sorge um das tägliche Brot, den Schutz der Tiere, die Angst in der Nacht. Sie wussten von der Not durch die Besatzung, die schwere Steuerlast. Ob ihre Lebensform auch noch ihre Kinder ernähren würde…?
Aber vielleicht fiel ihnen all das schwere und Mühsame in diesem Moment gar nicht ein. Sie sahen das kleine Kind im Licht dieser besonderen Nacht und mit ihm alles, was gut ist und gut werden kann in unserem Laben, zwischen uns Menschen.
Vielleicht lag also gar nicht die Klage, sondern die tiefe Zufriedenheit, wenn es den Tieren gut ging, das Glück zuhause sein, wenn das Licht friedlich auf dem Land lag, das Gefühl von Einklang und Dankbarkeit obenauf.
Manchmal überraschen wir uns ja zum Glück mit Zuversicht.
Bei einem Demokratieprojekt im kleinen Haus am Staatstheater haben wir vorgestern versucht, Regeln und Themen für den demokratischen Diskurs zu finden – auch da ging es erstaunlicherweise nicht zuerst um Angst, Fake news, Populismus sondern um Begegnung, Zuhören, Verständnis, Humor.
Es ist die Kraft der Hoffnung, die uns dann doch trägt.
Es sind Glaube und Liebe, die an der Krippe aufscheinen.
Maria bewegte die Worte.
Lässt sie nachhallen. Staunend. Lächelnd.
Die Hirten werden von all dem erzählen. Es ist die eine Geschichte, die Leben hilft, die wir jetzt brauchen.

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  J - Judit

J - Judit

Cornelia Götz, Dompredigerin - 27.09.2024

J – Judit
Das Buch Judit taucht erstmals in der griechischen Septuaginta, der ältesten Übersetzung der hebräischen Bibel auf - allerdings ohne einen bekannten hebräischen Vorläufertext. Darum war strittig, ob der Text zum biblischen Kanon gehört mit der bedauerlichen Folge, dass wir die schöne mutige Judit fast vergessen haben.
Dabei gibt es unzählige Darstellungen in der bildenden Kunst und galt die Rede. „keine Furcht in Israel solange Judit lebt.“
Das Buch erzählt von dem babylonischen Herrscher Nebukadnezar, der eine Strafexpedition unter der Führung von Holofernes gegen widerspenstige Gebiete – unter anderem Judäa – aussandte. Judit wusste, dass die Ihren dieser Übermacht nicht lange standhalten würden. Die Wasserzufuhr ihrer Festung war abgeschnitten und die Oberen kurz davor sich zu ergeben.
Das empörte die fromme Judit, die fest darauf vertraute, dass Gott sein Volk nicht preisgeben würde. Darum sagte sie: „Ich werde eine Tat vollbringen, die bis in die fernsten Geschlechter zu den Söhnen unseres Volkes vordringen wird.“ Judit erbat Gottes Segen und freie Passage durch das Stadttor. Herrlich geschmückt zog sie mit ihrer Magd ins feindliche Lager, um den Spieß von Lust und Gewalt, der so viele Kriegshandlungen prägt rumzudrehen. Planmäßig erregte ihre Schönheit und Klugheit beträchtliches Aufsehen und Holofernes verfiel ihr. Aber Judit hielt ihn hin. Sie berührte die Speisen der Fremden nicht und verführte ihn durch Unnahbarkeit. Erst als Holofernes nach einem Festmahl sturzbetrunken war, bleib sie mit ihm allein und nutzte die Gelegenheit, ihm mit seinem eigenen Schwert den Kopf abzuschlagen.
Die blutige Trophäe schmuggelte ihre Magd in einem Lebensmittelsack zurück zu den belagerten Israeliten, die nun ermutigt einen Angriff wagten und die Assyrer vertrieben.
Ein bildgewaltiges Sujet: die berückende Frau mit dem bluttriefenden Schwert, die Retterin des Gottesvolkes, von der ein großes Lobgebet überliefert ist. Sie sprach mit lauter Stimme: „Preiset Gott, der sein Erbarmen vom Hause Israel nicht entfernte, sondern unsere Feinde durch meine Hand zerschmetterte.“
Dorothee Sölle erinnerte übrigens anlässlich eines Textes über Judit an die schöne Rechtsanwältin und Politikerin Nora Astorga aus Nikaragua, die den berüchtigten Folterer General Vega, der ihr verfallen war entführen, gefangennehmen und gegen Freiheitskämpfer austauschen wollte. Der Plan misslang und Vega wurde erschossen. Nora Astorga musste in den Untergrund. Später wurde sie stellvertretende UN-Botschafterin ihres Landes. Sie starb nur 39-jährig an Krebs.
Auch sie war eine Judit. Die Furcht in ihrem Land wurde für eine kleine Weile kleiner.

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  Daily soap

Daily soap

Cornelia Götz, Dompredigerin - 26.09.2024

Wir sollten, denke ich manchmal, Serienrechte für eine Daily-Soap verkaufen. Der Braunschweiger Dom, Geschichte und Geschichten diesseits und jenseits dessen, was Menschen sich ausdenken können. Einige Staffeln hätten wir schon voll.
Denn mitten im Herzen der Stadt begegnen uns hier nicht nur die, die Kerzen anzünden und vor Gott innehalten wollen. Da kommen auch die, die ein Plätzchen suchen zum Verschnaufen und solche, die gekannt und angesprochen werden wollen, weil es sonst zu einsam ist in ihrem Leben. Es kommen Pilgerer und Touristen, Architektur-und Geschichtsfreunde, Professoren mit ihren Studierenden, Liebeskranke, Obdachlose, Trauernde und ja, auch Verrückte.
Manchmal finden wir auch nur die Spuren unserer Besucher*innen. Ein Gebet oder Gruß im Buch in der stillen Ecke oder eine Blüte neben dem Friedenslicht beim Schmerzensmann. Es gab schon Geldscheine in der Bibel und natürlich auch Müll.
Zur Zeit haben wir einen Gast, der uns zu denken gibt: auf dem Hochaltar liegen immer wieder kleine Gaben. Mal sind es Schokoladenriegel, einmal war es sogar ein Basecap. Es sieht ganz so aus als will jemand Gott Geschenke machen oder Opfer bringen, als braucht einer seine ganz eigene – offenbar – wortlose sichtbare Form. Aber das ist nicht alles. Jedes Mal, wenn dieser Gast da war, ist das Kruzifix umgedreht.
Der Gekreuzigte schaut dann nach Osten. Ist es jemand, der Gott physisch dazu bringen will, endlich die Ukraine zu befreien oder Ostdeutschland genauer wahrzunehmen?
Oder ist es jemand, der nicht gesehen und nicht erkannt werden will. Nicht mal von der gekreuzigten Figur da oben? Braucht er Gottes Beistand und schämt sich so, dass er sich lieber nicht in die Augen blicken lassen will?
Ist es jemand, der scherzt?
Über diesem Tag heute steht das Doppelgebot der Liebe, das Jesus Christus so über allem wichtig war: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und das erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Vielleicht ist die Geschichte am Hochaltar eine Folge in unserer Domserie zu diesem Wort? Hoffentlich.

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  Ja oder Nein. Punkt.

Ja oder Nein. Punkt.

Cornelia Götz, Dompredigerin - 25.09.2024

Im Matthäusevangelium heißt es: „Es sei aber eure Rede: Ja, ja; nein, nein; was aber mehr ist als dieses, ist aus dem Bösen.“ Dieses Wort bezieht sich zunächst auf das Schwören. Keiner soll das. Vielmehr ist von uns erwartet, dass wir, wenn wir etwas zu sagen haben, klar sind und das sagen, was wir meinen, richtig oder falsch finden.
Manchmal ist das schwerer als zunächst absehbar. Deshalb helfen wir uns in Situationen, in denen wir nicht wirklich einschätzen können, ob wir unser „ja“ durchhalten werden mit dem Zusatz „mit Gottes Hilfe“. Es sind „Ja‘s“, die wir vor Gottes Angesicht geben während wir wissen, dass er in unser Herz sieht. Es sind Ja‘s ohne Vorbehalt im Bewusstsein menschlicher Grenzen.
Manchmal sind wir gar nicht in der Lage klar „Ja“ oder „Nein“ zu sagen, weil wir es einfach nicht wissen, was jetzt werden muss. An den Grenzen des Lebens erfahren wir das. Dann sollten wir uns zurückhalten.
Jenseits solcher existentiellen Fragen aber gibt es aber genügend Momente, in denen es überhaupt gar keinen Zweifel geben kann, ob von uns ein „ja“ oder „nein“ in aller Klarheit kommen sollte. Wenn wir dann „ja,vielleicht“ oder „nein, aber“ sagen, haben wir vermutlich Gründe, die uns nicht zur Ehre gereichen oder Angst.
Dieser Tage sollten wir uns darauf besinnen, dass eigene Klarheit nicht nur von uns Christen erwartet ist, sondern dass sie andere genauso ermutigt, wie es mich tröstet, wenn ich mit meinem „Ja“ oder „Nein“ nicht allein bin.
Darum in aller Klarheit: wenn die AFD einen Stand vor dem Dom aufbaut, dann stehen sie nicht auf unserem Grund und Boden mit unserer Genehmigung oder Duldung - sondern dann ist es uns zutiefst unangenehm und ein Gräuel, dass der Dom und die AFD in einem gemeinsamen Blickwinkel erscheinen. Das, was Gott von uns will, wie wir leben sollen, wofür wir uns stark machen sollen, ist absolut unvereinbar mit dem, wofür die AFD steht. Nein. Da geht nichts mit uns.
Genauso klar ist die Lage, wenn auf das Schild am Dom geschrieben wird: „Moslems raus.“ Nein, es hat nichts mit der Religion zu tun, ob einer hier leben darf oder nicht. Und in aller Klarheit setze ich hinzu: Ja, die muslimische Familie, die im Domgemeindehaus lebt und mit uns arbeitet, ist uns willkommen. Wir werden unsere Hände über sie halten.
Ja. „Was aber mehr ist als dieses, ist aus dem Bösen.“

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  I-Ismael

I-Ismael

Cornelia Götz, Dompredigerin - 19.09.2024

I – Ismael
Ismael, „Gott hört“ oder „Gott erhört“ heißt sein Name übersetzt, ist Abrahams Erstgeborener. Nicht so, wie der sich das erhofft hatte, denn seine Frau Sara war unfruchtbar– sondern auf Wegen, die jedenfalls ich äußerst fragwürdig finde, für Missbrauch halte: Sara bietet ihrem Mann ihre Magd an. Er möge diese schwängern, damit die Magd oder eher Sklavin - Hagar, die Fremde heißt sie – für Sara ein Kind austrägt und zur Welt bringt.
Das ist nicht Gottes Wille oder sein Ratschluss.
Der Gedanke kommt einer Frau, die unfreiwillig kinderlos ist und erst recht: deren Umgebung sie auf ihre Kinderlosigkeit reduziert. Ein knochenhartes Thema; die Bibel ist da gerade mal fünfzehn Kapitel alt.
Es kommt wie Sara vorgeschlagen hat und entwickelt sich eine ungute Spirale, denn Hagar will kein Werkzeug sein, kein geliehener Bauch – sie streitet offenbar mit aller Härte dafür, wahrgenommen zu werden. Als der Konflikt eskaliert, muss die schwangere Hagar weg. Sie flieht Hagar in die Wüste und schlägt sich durch bis zu einer Wasserquelle, immerhin.
Aber wohin dann?
Gott schickt einen Engel, der Hagar Mut zuspricht und sie zurückschickt. Es geht in dem einen leben weiter – wir können daraus nicht aussteigen.
Darum wird sie das Kind Ismael in die Familie Abrahams hineingebären, zu der es gehören soll. Aber Ismael wird nie eine stabile Situation haben, er bleibt der Gefährdete, der Ausgestoßene. Er wird, so steht es in Genesis 16, „heimatlos, wie ein Wildesel sein, im Streit mit anderen und von seinen Brüdern getrennt leben.“
So kommt es, nachdem Sara wider alle Wahrscheinlichkeit im hohen Alter doch noch einen eigenen Sohn, Isaak, geboren hat. Denn dieser wird die Nachfolge Abrahams in der Geschichte der Väter antreten. Ismael und seine Mutter Hagar hingegen werden nach Isaaks Geburt ein zweites Mal verjagt. Gott lässt es zu und verspricht aber doch, auch Ismael zu einem großen Volk machen.
Immerhin: am Grab Abrahams werden beide Brüder stehen.
Später sind es Ismaeliten, die den von seinen Brüdern verstoßenen Josef mit nach Ägypten nehmen.

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  Erforsche mich

Erforsche mich

Cornelia Götz, Dompredigerin - 18.09.2024

Merkwürdig, manche Bibelworte begegnen einem lange nicht und dann melden sie sich kraftvoll. So geht es mir gerade mit dem 139. Psalm.
In dem heißt es:
„Herr, du hast mich erforscht und kennst mich genau, ob ich sitze oder stehe, du weißt es, ob ich gehe oder ruhe, du merkst es…“
Für manche Menschen ist das eine ungemein tröstliche Vorstellung: Gott kennt mich und sieht mich, ich muss ihm nichts erklären, ihm nichts verständlich machen. Es hat gar keinen Sinn, etwas vor ihm verbergen zu wollen, er weiß es eh – und liebt und will mich trotzdem. Es ist enorm beruhigend, dass ich versuchen kann, die beste Version meiner selbst zu sein und er mich dabei freundlich ansieht. Dass ich geborgen bei ihm bin – auch wenn die schlechteren Varianten meiner selbst am Start sind.
Für andere ist solches Erforscht werden eine unheimliche Vorstellung. Sich gläsern und absolut durchschaubar zu fühlen, ist verwirrend und beschädigt meine Souveränität und Selbstbestimmung. Ich möchte selbst den Dosierer in der Hand haben, selbst entscheiden, was ich von mir zeigen will und was nicht. Das schließt nicht aus, mit Gott teilen zu wollen, was andere nicht wissen müssen – es fühlt sich aber anders an.
Und dann gibt es noch eine dritte Variante.
Der stellen wir uns eher ungern, aber sie gehört wohl dazu – wenn wir Frieden und
Versöhnung dienen wollen ohne dabei von oben herab oder sonst wie Verständnis ungeeignet zu agieren:
Es ist die Frage, nach unseren eigenen dunklen Punkten.
Den Stellen, die wir in uns vergraben haben, weil sie wehtun oder weil wir uns für sie
schämen, vor ihnen fürchten.
Auch die sind gemeint, wenn der Psalmist betet:
„Erforsche mich, Gott und erkenne mein Herz! Verstehe mich und begreife, was ich denke!“
Begreife du Gott, was ich denke und warum.
Verstehe du, was ich fühle und warum.
Erforsche du, was ich falsch mache und warum.
Und dann:
„Sieh doch, ob ich auf einem falschen Weg bin, und führe mich auf dem Weg, der Zukunfthat.“ Du kannst es wissen. Ich mach mir was vor.

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  Recht auf Nichterreichbarkeit

Recht auf Nichterreichbarkeit

Henning Böger, Pfarrer - 17.09.2024

In Australien räumt ein neues Gesetz Millionen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmer-innen ab sofort das Recht auf Nichterreichbarkeit in ihrer Freizeit ein. Sie können sich
nun grundsätzlich weigern, auf Kontaktversuche ihrer Arbeitgeber außerhalb der Arbeitszeit zu reagieren.
Die Regelung gilt zunächst für Unternehmen, die mehr als fünfzehn Angestellte haben. Die Gesetzesreform solle sicherstellen, so sagt der australische Premierminister,
dass Menschen, die nicht vierundzwanzig Stunden am Tag bezahlt werden, auch nicht vierundzwanzig Stunden am Tag arbeiten müssen. Dabei gehe es vor allem um die psychische Gesundheit der Arbeitenden.
Während sich die Arbeitgeberverbände zurückhaltend äußern, loben die Gewerkschaften das neue Gesetz als historisch, weil es arbeitende Menschen davor schütze, unzumutbare Anrufe und E-Mails von der Arbeit in ihrer Freizeit beantworten zu müssen.
Ich finde das Recht auf Nichterreichbarkeit aus drei Gründen spannend:
Erstens, weil es menschenfreundlich ist. Und zweitens, weil ich mich selbst oft dabei ertappe, wie schwer es mit fällt abzuschalten und nicht ständig erreichbar zu sein.
Und drittens, weil durch die Gesetzesbuchstaben etwas durchschimmert, das schon
am Anfang der Bibel als ein wesentliches Anliegen festgehalten ist.
Erinnern Sie sich, wie der entscheidende Satz am Ende des Schöpfungsberichtes im ersten Mosebuch lautet? „So vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte an diesem siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte.“
Sechs Tage hat Gott am Stück gearbeitet und am siebenten Tag hat er sich von der Arbeit ausgeruht. Gott hat es also vorgemacht: Zum Arbeiten gehört auch das Ausruhen und Abschalten, das Kraftschöpfen für das nächste Werk. Das Leben ist nicht vollständig, wenn es nur aus Arbeit besteht. Malochen und Muße gehören immer in eine gute, gesunde Balance.
Wer will, kann diesen Gedanken noch einmal anders hören in einem Wort aus den Tischreden des Reformators Martin Luther: „Man soll Gott nicht allein mit Arbeit dienen, sondern auch mit Feiern und Ruhen."

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  Eichelhäher am Morgen

Eichelhäher am Morgen

Cornelia Götz, Dompredigerin - 16.09.2024

Eichelhäher am Morgen

Da sitzt ein Eichelhäher auf der Terasse, genauer auf dem Geländer.
Ich habe schon lange keinen mehr so nah gesehen. Er dreht sich um und schaut mich an.
Ein schöner Vogel mit klugen Augen.
Er sieht mich eindringlich an, als wollte er mir etwas sagen, etwas zeigen.
Ich hätte ihn gar nicht gesehen, aber ich muss ja noch ein Wort zum Alltag schreiben und wollte mir das blaue Losungsheft aus der Küche holen. Für alle Fälle.
Eigentlich wollte ich Ihnen heute Abend ein Gedicht schenken; ein bisschen Vorgeschmack auf die politische Andacht morgen Abend: „Wo Du hingesät bist, sollst Du auch blühen“ und weil wir daran, wo wir gesät wurden, nichts ändern können, wollte ich mitten in all den schwierigen Nachrichten ein bisschen Septemberlicht leuchten lassen - Dünger sozusagen, Blühhilfe, Hoffnung.
Eva Strittmatter hatte ich schon in der Hand. Es gibt viele Septembergedichte bei ihr.
„September ist der Täuschungsmonat: / Dass alles noch einmal beginnt. / Verwirrung wie vor einem Frühling. / Und wir als ob wir ewig sind.“
Der Eichelhäher guckt. Zweifelt er?
„Wir gehen durch Silber und durch Bläue / Und fast verwandelt von der Luft, / Die lind ist wie die Luft der Ferne / und wie gewürzt vom Bitterduft. …
Die vollen und die tiefen Töne / Kommen von dem, was mit uns war / Doch im September glänzt das Schöne / Noch einmal uns auf Haut und Haar.“
Oder nicht? Der Eichelhäher mit seinen schönen Farben schaut. Kennen wir uns? Er bleibt und bleibt. Dass es so schöne Geschöpfe gibt.
Dann schaue ich derweile doch noch kurz in das Losungsheft.
Es liegt auf dem kleinen Küchenradio. Eben kamen die Nachrichten. Jahrhunderthochwasser in Polen, Tschechien, Österreich…
Und über diesem Montag heißt es bei dem Propheten Jesaja: „Gott hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden.“ Und dazu aus dem Matthäusevangelium: „Als Petrus die hohen Wellen sah, bekam er Angst, begann zu sinken und schrie…“
Der Eichelhäher ist weg.
Wollte er mich erden? Oder erinnern?
„Hoffnung und Sehnsucht zirpen zaghaft…“ dichtet Eva Strittmatter.
Hoffnung, dass wir uns noch erinnern, dass Gott uns seine Schöpfung anvertraut hat?
Hoffnung, dass noch Zeit ist, dass wir uns besinnen?
Sehnsucht, dass wir anfangen und etwas tun - mit unserer Kraft und unserem Geist, die Gott uns doch zu Hilfe geschenkt hat - hier wo wir hingesät sind - ehe alles verdorrt oder absäuft und gar kein Eichelhäher mehr kommt.
Der sitzt inzwischen bestimmt beim Nachbarn und schaut ihn dringlich an.

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  Opferwidderwolle

Opferwidderwolle

Cornelia Götz, Dompredigerin - 13.09.2024

Am kommenden Dienstag um 19.00 werden wir hier eine Politische Andacht der anderen Art feiern. Sie sind herzlich eingeladen. Wir haben eine Zauberkünstlerin engagiert. Nicht damit sie unsere Sorgen und Ängste wegzaubert; die werden wir vor Gott bringen – sondern weil es manchmal eine handgreifliche Hoffnung, sichtbare Funken, die überspringen braucht. Wir sind ja nicht nur Kopf und Verstand, Herz und Seele, sondern auch Auge und Haut und Ohr und Nase.
So geht es auch anderen.
Auf unserer Bergtour jüngst saßen wir zur Mittagsrast auf einer Alm. An der Wand hing ein Kästchen mit kleinen Säckchen zum Verkauf. Es waren nicht, wie wir dachten, Bergkräuter, sondern Opferwidderwolle.
Opferwidderwolle.
Wir lernten: die Familie der Almbäuerin hatte im letzten Winter die Ehre, die Pflicht, die schwierige Aufgabe einen kleinen Widder über den Winter zu bringen: für die Widderprozession zur Wallfahrtskirche Maria Schnee am Samstag nach Ostern, Weißsamstag nennen sie den im Virgental.
Dann wird der prächtig geschmückte Widder, es muss ein weißer Steinschafwidder sein, nach altem Ritual vor der Messe dreimal um den Altar geführt. Anschließend darf sich jede und jeder ein kleines bisschen Wolle zupfen. Das mag er Widder naturgemäß nicht. Damit es ihn nicht zu sehr plagt und er schön aussieht, wird er zuvor gewaschen und seine Wolle ausgekämmt. Dieses Jahr war er dabei an besonders entschlossene Menschen geraten. Die wuschen ihn mit Fewa. So war die Wolle ganz besonders schön weiß und weich. Nach der Prozession kaufen die Menschen Lose zugunsten der Kirchengemeinde. Wer den Widder gewinnt, darf ihn behalten oder zu gutem zwecks weiterversteigern.
Eine lebendige Tradition, Brauchtum, das gebraucht wird – nicht nur für den Zusammenhalt im Dorf, sondern auch, um sich zu vergewissern, wo uns Kraft und Mut herkommen, dass wir uns auf Gott verlasen sollen.
Der alte Brauch stammt aus dem Jahr 1635. Damals herrschte in der Region eine verheerende Pestepidemie. Die Virger gelobten Gott in ärgster Not eben diese jährliche Prozession, wenn nur die Pest aufhörte. Das tat sie.
Aber dann kommt es, so wird verblüffend ehrlich erzählt, wie es oft kommt. Wenn die Not vorbei ist, werden die Versprechen vergessen, manchmal wird auch Gott vergessen. So war es auch im Virgental.
Kam die Pest deshalb zurück? Vielleicht. Jedenfalls ist man kein zweites Mal untreu geworden und der jährliche Opferwidder eine ganz eigene Erinnerung daran, dass Gott mit uns durch helle und dunkle Tage geht, dass er will, dass wir unsere Sorge auf ihn werfen.
Das wissen wir eigentlich. Dafür braucht es den Widder nicht. Aber die duftende Wolle in der Hand erinnert daran. So wird es hoffentlich auch am Dienstag sein. Ein bisschen Trost für alle Sinne.

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  H - Himmel

H - Himmel

Cornelia Götz, Dompredigerin - 12.09.2024

H – Himmel
„Ein neuer Himmel und eine neue Erde.“
„Vom Himmel hoch“ und „Der Himmel geht über allen auf“
„Himmels Au, licht und blau.“ Himmelfahrt und himmlische Heerscharen.
Der Himmel ist Sehnsuchtsort und Wunder der Natur – er ist eine eigene Vorstellungswelt, Inbegriff einer anderen göttlichen oder doch wenigstens transzendenten Sphäre – nicht zu fassen durch Astronomie und Raumfahrt, Mathematik und doch versuchen wir Galaxien zu denken, eine hinter der anderen, schwarz und schwerelos.
Hier ist der Himmel uns lieb. Am Anfang sollte sich mitten im Urmeer ein Dach wölben. Und Gott nannte das Dach „Himmel“. Darunter hätten Pflanzen und Tiere, Fische, Menschen eine Zuflucht – umfriedeten Raum. Darum ist der Himmel auch in der Bibel nicht nur der Bereich des Göttlichen, der Ort, wo Gott thront, sondern eine physische Realität. Er besitzt stabile Umrisse, weit gespannt ruht er auf Säulen, auf Grundfesten.
Am Himmel hat Gott Lichter befestigt, Sonne, Mond und Sterne. Sie leuchten auf unseren wegen, gliedern die Zeit, geben Orientierung. Nach dem Himmel richten wir uns auf, wachsen ihm entgegen.
Der Himmel ist, wie die Erde, wie wir, Gottes Schöpfung, seiner Hände Werk.
Er wird, wie die Erde, vergehen und neu werden – dann wenn alles vergeht und nur Gottes Wort bleibt.
Der Himmel ist je weiter – auch wenn Menschen versucht haben, ihn mit ihrem Turmbau zu erreichen und für diesen Versuch, sein zu wollen wie Gott, betraft wurden – indem er sie über die ganze Erde zerstreute, durch verschiedene Sprachen verwirrte, unfähig machte, einander zu verstehen.
Und doch ist Verbindung möglich. Jakob sieht sie in der Himmelsleiter.
Von hier schickt Gott seine Boten, der Himmel tut sich auf, wenn er spricht – von dort kommt Jesus Christus, dorthin geht er voraus, damit wir teilhaben an seiner Wirklichkeit, die hier unter uns beginnt.
Da berühren sich Himmel und Erde.
Da verschmelzen Himmelreich und das Reich Gottes.
Da möge Gottes Wille möge geschehen – dort und hier, im Himmel und auf Erden.

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  Nine eleven

Nine eleven

Cornelia Götz, Dompredigerin - 11.09.2024

Mittwoch, Zeit für den Frieden zu beten.
Nötig ist das immer – aber wie so viele wichtige Dinge in unserem Leben sonst auch – braucht es das Ritual, eine Entscheidung für regelmäßige Wiederkehr, damit nicht im Gerenne des Alltags untergeht, was wir doch pflegen und tun wollen.
Darum haben wir hier Zeit und Ort, jede Woche wieder, für das Friedensgebet – und auch: jede Woche dringende Not. Heute erst recht.
Denn auch der Kalender befördert Erinnerung, schafft Jahrestage, lässt uns lächeln oder stocken. Heute auch: 11. September. Nine eleven.
Einer Tage, von dem viele Menschen genau wissen, wo sie waren als sie von dieser Nachricht, vor allem den Bildern, erreicht wurden.
Es waren Szenarien, die sich da Kino nicht ausdenken konnte.
Dazu das Ringen um Worte und später die Veränderung der Sprache.
Die Anschläge sind vermutlich eine Zäsur.
Jedenfalls für uns, die wir zu den Nachkriegsgenerationen gehören.
Es folgten der Afghanistankrieg und der Einmarsch der „Koalition der Willigen“ im Irak, Terroranschläge auch in Europa und damit einhergehend die Angst vor dem Islamismus, Guantánamo, erheblich erweiterte Befugnisse der Geheimdienste…
Freiheit und Sicherheit konkurrieren seither in ungeahntem Ausmaß.
George W. Bush sagte damals vor dem US-Kongress: „Unser Krieg gegen den Terrorismus beginnt mit al-Qaida, aber er wird dort nicht enden. Er wird so lange nicht zu Ende sein, bis jede weltweit tätige terroristische Gruppe gefunden, am weiteren Vorgehen gehindert und besiegt worden ist.“
Was für eine Ansage…
Frieden ist so nicht geschaffen wurden. Im Gegenteil. Aus Afghanistan kamen Särge nach Hause.Heute glauben wir an anderen Orten, die Welt militärisch in Griff zu kriegen.
Und durch all das hindurch tönt leise, tickert beunruhigend, dröhnt verstörend die uralte Bitte, die aus dem 51. Psalm über diesem Tag steht:
„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen beständigen Geist."
Das braucht es. Um dem Frieden zu dienen. Um bei der Wahrheit zu bleiben. Um die Hoffnung nicht aufzugeben.

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  Kraftquellen

Kraftquellen

Pfarrer Christian Kohn - 10.09.2024

Ein Sprichwort sagt: Man muss den Brunnen bohren, bevor man Durst hat. Denn bekanntlich geht dem Brunnenbohren ja eine längere Suche nach der richtigen Stelle voraus, bis man in der Tiefe auf eine Quelle trifft. Doch geplagt von heftigem Durst ist diese Suche möglicherweise nur schwer oder gar nicht zu bewältigen. Daher also der sprichwörtliche Rat, vorzubeugen!
Wenn ich dieses Bild heute auf uns übertrage, würde das bedeutet: Wir sollten uns unserer Kraftquellen bewusst sein, bevor wir sie brauchen. Denn wer weiß schon, wann und wofür wir sie noch benötigen werden? Und wenn ich von Kraftquellen spreche, dann meine ich alles, was mein Leben stärkt und meine Widerstandskraft gegenüber den Krisen und widrigen Umständen des Lebens erhöht.
Kraftquellen sind demnach alle meine Antworten auf die Fragen: Wer oder was tut mir gut? Wer oder was hilft mir? Wer oder was schenkt mir Kraft zum Leben? Was trägt mich? Doch weil es auf diese Fragen so viele und zudem unterschiedliche Antworten geben kann, die von Mensch zu Mensch verschieden sind, erscheint es um so wichtiger, dass ich mir über meine ganz eigenen Kraftquellen Klarheit verschaffe! Denn nur aus denen vermag ich letztlich zu trinken. Und dazu muss ich mich auf die Suche begeben. Denn vielleicht liegen diese Quellen ja gar nicht der Oberfläche?! Vielleicht muss ich erst einmal die Oberfläche verlassen und in die Tiefe gehen, fast so, als würde ich einen „Brunnen“ bohren wollen?!
Eines sollte uns klar sein: Krisen gehören unvermeidlich zu unserem menschlichen Leben dazu. Denn die Welt fragt uns nicht, was wir erleben wollen! Und so können immer wieder Dinge geschehen, die unser Selbstbild, unser Weltbild oder das Bild von anderen Menschen ins Wanken bringen. Etwas anderes zu behaupten wäre wohl bestenfalls „naiv“ zu nennen. Das heißt aber mit anderen Worten, dass wir lernen sollten, mit Krisen zu leben und mit ihnen umzugehen. Denn schließlich sind es unsere „Kraftquellen“, die uns beim Bestehen von Krisen helfen. Damit unser Leben weitergehen kann und wir zu neuen Einsichten und Erkenntnissen gelangen.
Dem heutigen Weltsuizidpräventionstag geht es vor allem um eines - um die Prävention. Es geht um das hilfreiche Vorbeugen, das betroffene Menschen dabei unterstützt, in anderer Weise mit den eigenen Lebenskrisen umzugehen. Denn es soll nicht sein, dass wir die Tatsache von jährlich über 10.000 Suiziden in unserem Land einfach ignorieren! Gleich so, als hätte das mit unserem Leben und mit dem Leben unserer Gesellschaft nichts zu tun! Dazu braucht es allerdings eine gesellschaftliche Offenheit im Gegensatz zu einer Tabuisierung, eines Verschweigens von Krisen und suizidalen Gedanken. Wir müssen also darüber reden, ob unsere gesellschaftlich propagierte „Null-Fehler-Kultur“ überhaupt mit der Realität unseres Lebens übereinstimmt? Denn dieses Denken erscheint mir nicht nur als ein „frommer Wunsch“, sondern führt möglicherweise genau dazu, dass Menschen sich als Versager erleben. Sie werden dieser Norm nicht gerecht und beginnen, am Wert ihres Lebens zu zweifeln. Und wir werden auch darüber reden müssen, ob der Zwang zur „Selbstoptimierung“ gleichermaßen in der Lage ist, Menschen an sich scheitern zu lassen. Denn was ist, wenn dies ebenfalls misslingt? Ich glaube, das Gegenteil wäre für uns viel hilfreicher! Wenn wir uns untereinander unsere Krisen, Ängste und Zweifel nicht verschweigen würden. Und wir weder für uns selbst noch für andere ein Bild des Lebens entwerfen, in dem Krisen, Rückschläge und auch das Scheitern keinen Platz finden. Und es macht Sinn, dass wir uns immer wieder auf „Kraftquellen“ hinweisen, die wir brauchen, um das Leben zu bestehen. Dieser Hinweis jedenfalls, so glaube ich, könnte vielen Menschen zum Guten dienen!
Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht. (Ps. 36.10)

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  In den Bergen...

In den Bergen...

Cornelia Götz, Dompredigerin - 09.09.2024

Im 121. Psalm heißt es:
„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen – woher kommt mir Hilfe?
Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen.
Gerade bin ich ein paar Tage – im wahrsten Sinne des Wortes solange meine Füße mich trugen – auf dem Lasörlinghöhenweg von Hütte zu Hütte gewandert, immer mit Blick auf die Gletscher der Venedigergruppe und des Großglockners. Alle paar Schritte musste ich stehen leiben- weil ich mich an Anblick der Berge nicht gewöhnen kann. So majestätisch. So schön. So unbegreiflich. Es ist staunende Andacht.
Und ich verstehe jedes Mal wieder, dass Menschen sich Gott in den Bergen näher fühlen – dem Himmel nah und voller Bilder für all die Gottesattribute, die von Ewigkeit, Unendlichkeit, je größer eben – erzählen.
Und mittendrin wir Menschen, die wir in der hochalpinen Zone nur bei gutem Wetter was zu suchen haben – mit unserer kleinen Kraft. Der Blick runter ins Tal – so weit weg alles, was uns beschäftigt und beschwert, was unseren Alltag prägt. Erstaunlich, dass ich soweit hoch- und fortgestiegen bin, dass so viel Abstand innerhalb der Welt möglich ist.
Mit jedem Schritt und jedem Atemzug kommt ein bisschen mehr Reinheit der Bergluft in die Lungen und Klarheit in den Kopf.
„Himmel, Erde, Luft und Meer, zeugen von des Schöpfers Ehr…“ – singt es dann in mir, ganz von allein. Was sonst?
Bis wieder das stoische Schritt – Schritt – Atemzug übernimmt.
Aufstieg zur nächsten Scharte.
Schweißausbruch. Schwere Beine. Stöcke vor, Füße hinterher. Wer hat mir das gebucht???
Und wieder heben ich meine Augen auf zu den Bergen – das kann ich nicht schaffen, da komme ich nicht drüber – morgen vielleicht, heute nicht mehr: „Woher kommt mir Hilfe?“
Sie kommt. Nicht als Wunder. Ich werde nicht auf den Grat gebeamt, mir wachsen auch keine Flügel – aber mein Körper läuft wie eine kleine Maschine, Stück für Stück geht es vorwärts – auch wenn ich den Unterschied manchmal nur im Blick zurück erkenne. Auf den letzten Höhenmetern wird der Pfad steil, es geht über große Felsblöcke – später wartet noch eine wacklige Brücke über den Bergbach, der jetzt doch ziemlich viel Wasser führt.
„ER wir deinen Fuß nicht gleiten lassen und der dich behütet, schläft und schlummert nicht.“
Nein, das tut er nicht. Er geht vielmehr mit.
Und dann endlich oben, sieht man die Hütte liegen. Herberge und Zuflucht. Schutz in der Nacht. Abendbrot und frisches Wasser.
Es sind die existentiellen Dinge, die so unmittelbar deutlich und wichtig werden. Es ist für alles gesorgt und alles möglich, „denn er behütete unsern Eingang und Ausgang von nun an bis in Ewigkeit.“

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  Erste Sitzung des Deutschen Bundestages vor 75 Jahren

Erste Sitzung des Deutschen Bundestages vor 75 Jahren

Heiko Frubrich, Prädikant - 07.09.2024

„Weihe des Hauses“ von Ludwig van Beethoven war zu hören, als am 7. September 1949 um 16:05 Uhr die allererste Sitzung des Deutschen Bundestages in Bonn eröffnet wurde – heute auf den Tag genau vor 75 Jahren. Paul Löbe hielt als Alterspräsident die erste Rede. Das hatte hohe Symbolkraft, denn er war auch der letzte Präsident des demokratisch gewählten Parlaments der Weimarer Republik. Die war untergegangen, demontiert 1933 durch die Nationalsozialisten.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen hatte der Parlamentarische Rat im Mai 1949, als vier Monate vor der ersten Parlamentssitzung unser Grundgesetz verabschiedet, das eine Menge von Sicherungen enthält, die die Katastrophe, die 1933 ihren Lauf nahm, zukünftig verhindern sollte. Die „Ewigkeitsklausel“ ist so ein Bestandteil. Sie verbietet, dass wesentliche Inhalte, wie zum Beispiel der Schutz der Menschenwürde oder auch unser föderaler Staatsaufbar verändert werden.
Das Grundgesetz war also auch die Basis für jene erste Parlamentssitzung vor 75 Jahren. Und es gibt noch etwas Bemerkenswertes in unserer Verfassung. Es ist der allererste Satz, der da lautet: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Deutsche Volk dieses Grundgesetz gegeben.“
Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen – ich bin wirklich begeistert von dieser Formulierung. Denn es ist, besonders vor dem Hintergrund unserer Geschichte, richtig und wichtig, dieses Verantwortungsbewusstsein noch einmal klar herauszustellen und damit zur Maxime für politisches Handeln zu machen.
Denn ganz egal, wie der oder die Einzelne diesen Satz auch hören mag: Er stellt unbestreitbar klar, dass es noch eine höhere Instanz gibt – Gott und / oder die Menschen. Aus diesem Anerkennen erwächst eine Haltung, die wir Demut nennen. Demut verleiht mir Achtung, Christinnen und Christen vor Gott, jeder und jedem, der in unserem Lande politisch tätig wird, aber mindestens vor den Menschen. Und ich weise noch einmal darauf hin: Da steht Menschen und nicht Deutsche.
Das Wort Demut bedeutet in seinem Ursprung: Gesinnung der Dienenden. Und so bewahrt Demut vor Größenwahn. In einem von Demut geprägten Leben haben Hass und Diskriminierung keinen Platz, denn ich bin in erster Linie Dienerin oder Diener meiner Mitmenschen.
Es ist gut, dass sich unsere Politikerinnen und Politiker unter dieses Wort aus der Präambel unseres Grundgesetzes stellen. Und wäre geradezu wunderbar, wenn dies auch die Diktatoren, Autokraten Narzissten und sonstigen Egomanen täten, die weltweit an der Macht sind oder danach greifen.
Und so ganz verkehrt wäre es sicherlich auch nicht, wenn wir alle als Christenmenschen unserer Leben so begreifen, dass wir es führen sollten in Verantwortung vor unserem Gott, der uns alle freundlich anschaut und uns begleitet, wo auch immer wir sind. Amen.

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  Freud und Leid

Freud und Leid

Heiko Frubrich, Prädikant - 06.09.2024

Heute Mittag haben wir unter großer Anteilnahme Gebhard Decknatel beerdigt, der hier am Dom oft und gerne Orgel gespielt und im Vokalensemble unserer Domsingschule gesungen hat. So, wie es ihm gefallen hätte gab es viel Musik; es war traurig und würdig und bewegend. Und nun sind wir alle wieder herunter von Friedhof, zurück im Leben und feiern Abendsegen miteinander – Robin Hlinka, Molin Georgi und ich und vor allem auch Sie, die Sie Zeit genommen haben, in den Dom zu kommen, Gottes Wort zu hören und Abendmahl zu feiern.
Es ist gut, dass wir das können. Es ist gut, dass wir als Gottes Gemeinde in Freud und in Leid miteinander verbunden sind. Es ist gut, dass wir uns trotz allem von Gott eingeladen fühlen zu Brot und Wein. „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“, schreibt der Apostel Paulus an die Christinnen und Christen in Rom. Er spricht damit etwas an, was zwischen Menschen nicht fehlen sollte: Mitgefühl.
Im Deutschen ist dieses Wort meist einseitig belegt. Mitgefühl oder noch stärker: Mitleid bezieht sich eher auf schwierige Lebensphasen, in denen wir Trauer und Hoffnungslosigkeit durchleben. Und ohne Zweifel ist es wichtig und hilfreich, wenn dann Menschen da sind, die mitfühlen und mitleiden, einfach, weil Leid, wenn wir es teilen tatsächlich leichter wird.
Doch das funktioniert auch in die entgegengesetzte Richtung. Glückliche Momente werden schöner, intensiver und wertvoller, wenn ich sie mit anderen teilen kann. Ganz offensichtlich wusste Paulus das auch. Denn er wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass ein Leben, so wie es Gott für uns gedacht hat, immer bedeutet, seinen Mitmenschen, seinen Nächsten, seinen Glaubensgeschwistern nahe zu sein.
Einer trage des anderen Last. Darum nehmt einander an. Vergebt einer dem anderen. Freut euch in dem Herrn. Das ist seine Botschaft – auch an uns. Diese Botschaft ist nicht als Checkliste für ein gottgefälliges Leben zu verstehen. Vielmehr entsteht daraus eine Haltung, die mich dazu führt, auf die Menschen um mich herum zu achten, aber auch wissen zu dürfen, dass ich selbst beachtet werde. Es ist eine Haltung, die uns allen hilft, besser durch schwere Zeiten zu kommen und das Glück aus guten Zeiten zu vergrößern.
Eine echte Chance auf ein bisschen mehr Licht in einer oft so finsteren Welt: Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden! Amen.

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  Zacharias

Zacharias

Heiko Frubrich, Prädikant - 05.09.2024

Sie stehen oft im Hintergrund: die Männer der berühmten Frauen, die wiederum die Mütter ihrer noch berühmteren Söhne sind. Josef ist so einer, der mit Jesu Mutter Maria verheiratet war. Und ein weiterer ist der Priester Zacharias, dessen Gedenktag wir heute feiern. Er wirkte im Jerusalemer Tempel zur Zeit des Königs Herodes, wie uns die Bibel berichtet und war mit Elisabeth verheiratet und das wohl schon ziemlich lange, denn wir lesen, dass beide schon recht betagt waren. Ihre Ehe war kinderlos, weil Elisabeth keine Kinder bekommen konnte.
Und nun erscheint Zacharias eines Tages, als er im Tempel seinen Dienst verrichtet, ein Engel. Es ist nicht irgendein Engel, sondern kein geringerer als Gabriel, einer der Erzengel und Gottes Bote. Der berichtet nun Zacharias, dass seine Frau Elisabeth einen Sohn zur Welt bringen wird, der den Namen Johannes tragen soll. Johannes der Täufer, so wird man ihn später nennen.
Zacharias glaubt das alles nicht und entgegnet dem Engel, dass seine Frau erstens unfruchtbar und zweitens auch schon viel zu alt zum Kinderkriegen sei. Der Erzengel Gabriel möge doch bitte ein Zeichen setzen, dass er ihm vertrauen kann.
Diese Forderung geht ziemlich nach hinten los, denn Gabriel sorgt dafür, dass Zacharias bis zur Geburt seines Sohnes nicht mehr reden kann. Das war wahrscheinlich nicht das, was Zacharias sich vorgestellt hatte, doch seine Zweifel dürften ab diesem Moment tatsächlich zerstreut worden sein. Und Gabriel behält natürlich recht: Erst als Johannes das Licht der Welt erblickt, kann Zacharias wieder reden.
Wenn ich so auf diese Geschichte schaue, schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Zum einen finde ich, dass Zacharias selbst schuld ist, dass es ihm himmlischerseits für Monate die Sprache verschlagen hat. Andererseits verstehe ich seinen Wunsch nach einem göttlichen Zeichen. Gut, ein Engel des Herrn würde mir persönlich als Beleg mehr als ausreichen, doch selbst sparsamere Hinweise fallen uns aus Gottes Richtung ja nun nicht reihenweise vor die Füße.
Zacharias hat es vielleicht etwas übertrieben, doch selbst, wenn er sich mit dem Engel zufriedengegeben hätte: Das, was da passiert ist, hat seinen Glauben an Gott ganz sicher vertrieben und ihn durch Wissen ersetzt.
Ist das erstrebenswert? Ich bin mir unsicher. Einerseits wäre es schon klasse, wenn wir alle hundertprozentig wüssten, dass Gott da ist, was er von uns erwartet und wie er so tickt. Anderseits würde uns das aber auch einiges unserer Mündigkeit, unserer Selbständigkeit und unserer Freiheit nehmen.
Gott drängt sich nicht auf. Es ist an uns, ihm einen Platz in unserem Leben einzuräumen, uns an seinem Wort zu orientieren und mit unserem Denken, Reden und Handeln auf seine Liebe zu antworten. Es ist an uns! Das ist ein ganz wesentliches Merkmal unserer Gottesbeziehung und ich persönlich möchte darauf nicht verzichten. Wie gut, dass Zacharias uns ins Nachdenken gebracht hat. Amen.

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  Gottes Reich in dieser Welt

Gottes Reich in dieser Welt

Heiko Frubrich, Prädikant - 04.09.2024

Über dem heutigen Tag heißt es aus dem Matthäusevangelium: „Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden?“ Von Jesus Christus höchstpersönlich stammen diese Worte und er fährt fort: „Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“
Das klingt nach einer schnellen und einfachen Lösung für viele Probleme auf dieser Welt. Doch möglicherweise regt sich beim ersten Hören auch deutlicher innerlicher Widerstand. „Na so einfach ist das ja nun auch nicht!“ Stimmt! So einfach ist das tatsächlich nicht. Hat Jesus also hier in frommem Überschwang den Mund zu voll genommen?
Keineswegs! Doch wir müssen schon genau hinhören. Er sagt nicht: Glaubt an Gott und eure Kühl- und Kleiderschränke werden sich füllen wie von Geisterhand. Er sagt: Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit!“ Zuerst – also als Voraussetzung dafür.
Und was heißt das nun konkret, insbesondere für uns als Christenmenschen? Jesus sagt an anderer Stelle, dass das Reich Gottes mitten unter uns ist. Es ist überall dort, wo Menschen so zusammenleben, wie Gott es für uns vorgesehen hat. Es ist überall dort, wo wir in jedem Gegenüber den Menschen sehen, der so wie wir selbst zu Gottes Ebenbild geschaffen ist. Es ist überall dort, wo wir die Not und das Leid unserer Mitmenschen erkennen und ihnen helfen, so gut wir es können.
Ich denke, dass es viele Beispiele gibt, wo Menschen genau das leben – in ehrenamtlichem Engagement, durch Spenden oder ganz spontane Hilfe in der Nachbarschaft und im Bekanntenkreis. Doch im Großen sind wir von Jesu Vorstellungen weit entfernt. Wir schaffen es nicht, Lebensmittel und Lebenschancen auf dieser Welt gerecht zu verteilen. Wenn wir in Deutschland 100 Milliarden für Rüstung ausgeben und nur 10 Milliarden für Entwicklungshilfe, dann passt da was nicht.
„Ja, aber Putin, ja, aber die militanten Islamisten, ja, aber die Korruption in den Entwicklungsländern… Alles richtig! Aber wer trägt die Verantwortung? Gott auf jeden Fall nicht. Er sagt uns in Jesus Christus, was zu tun ist: Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit. Wenn wir Menschen das nicht annehmen, dürfen wir uns über die Konsequenzen nicht wundern.
Und nun? Jesu Worte in einen Brief zu kopieren und den allen zu schicken, die sich falsch verhalten, wird das Problem nicht lösen. Und eine andere wirklich zündende Idee habe ich auch nicht. Aber Gott um Hilfe zu bitten, ist nie verkehrt, dafür zu beten und darum zu bitten, dass er doch helfen, dass er den Hass aus den Herzen vertreiben und uns allen den festen Willen zum Frieden schenken möge, das ist immer eine Option.
Und wenn wir vor der eigenen Haustür etwas finden, was wegzufegen wäre, könnte das ja schon mal ein Anfang sein – mit Gottes Hilfe und in Jesu Namen. Amen.

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  Tag der Erbsensuppe

Tag der Erbsensuppe

Heiko Frubrich, Prädikant - 03.09.2024

Kennen Sie Sven Giese? Er arbeitet in einer Online-Marketingagentur in Bonn und befasst sich dort mit Fragen der Suchmaschinenoptimierung. Ich habe von so etwas überhaupt keine Ahnung, aber es sind sicher wichtige Aufgaben, die er dort erledigt. Wesentlich bedeutender ist in meinen Augen allerdings das zweite Aufgabenfeld, dessen sich Sven Giese annimmt: Er trägt kuriose Feiertage aus aller Welt zusammen, recherchiert deren Hintergründe und veröffentlicht sie in einem Kalender.
Und nicht nur das. Sven Giese greift bedeutende Themen auch selber auf, deren weltweite Beachtung noch nicht ausreicht und arbeitet konzentriert und mit großem Engagement an der Beseitigung derartiger Defizite. So auch heute, in dem er den 3. September 2024 zum bundesweiten Tag der Erbsensuppe ausgerufen hat – ein Datum, an dem auch wir als Dom nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können.
Naja, das könnten wir natürlich schon und vielleicht fragen Sie sich auch gerade, ob mir denn nun wirklich nichts wichtigeres eingefallen wäre, als über einen solchen Blödsinn zu predigen. Sicher wäre mir Wichtigeres eingefallen, oder besser gesagt, es wäre mir vieles andere eingefallen. Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, Krieg im Heiligen Land, zunehmende Gewalt allerorten, Abschiede und Neuanfänge von Menschen, die hier bei uns am Dom gewirkt haben, und, und, und.
Aber ich gestehe: Ich brauche auch mal Zeiten, in denen ich über den Tag der Erbsensuppe nachdenke und mich an diesem herrlichen Blödsinn erfreue. Und ich werde ja nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es sich bei „Frohe Botschaft“ nicht um einen Übersetzungsfehler handelt, sondern dass „Evangelium“ das tatsächlich auf Deutsch heißt.
Es gab so vor 40 bis 50 Jahren so eine Phase, in der sehr viele Bibelverfilmungen produziert wurden. Der Jesus, den wir da zu sehen bekommen, ist immer ernst, bisweilen anstrengend oberlehrerhaft und niemals wirklich fröhlich. Ich glaube nicht, dass er tatsächlich so war. Ich glaube vielmehr, dass seine Jünger und er auch mal Party gemacht haben, dass sie ausgelassen waren und dass da auch von Herzen gelacht wurde.
Und wenn Ihnen der heutige Tag der Erbsensuppe ein kleines Lächeln auf Ihr Gesicht gezaubert haben sollte, dann freut sich Jesus ganz sicher mit. „Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“, heißt es über dieser Woche. Und zu diesem Guten gehört Humor ganz sicher dazu, mit dem ja bekanntermaßen alles besser geht. Amen.

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  Gewählt!

Gewählt!

Henning Böger, Pfarrer - 02.09.2024

Sachsen und Thüringen haben gewählt. Die Sorgen vor dem Ausgang der Wahlen
waren groß. Und ja, sie waren nicht unberechtigt: Die vom Verfassungsschutz zu
großen Teilen für rechtsextrem erklärte „Alternative für Deutschland“ ist stärkste bzw. zweitstärkste politische Kraft. Rund ein Drittel der Wähler*innen haben die Partei, so sagen die Wahlforscher, nicht mehr aus Protest, sondern aus Überzeugung gewählt.
Vor allem junge Wähler*innen zwischen 18 und 29 Jahren meinen, dass die AfD die Sorgen für ihr Leben kleiner machen könne.

Sachsen und Thüringen haben gewählt; und das ausgerechnet an jenem Tag,
an dem Deutschland und Polen den 1. September 1939 erinnern, an dem die deutsche Wehrmacht Polen überfiel und den Zweiten Weltkrieg entfesselte. Gerade weil die „Alternative für Deutschland“ gelegentlich darum bemüht ist, die Schrecken des sogenannten „Dritten Reiches“ kleiner zu reden, kann man es nur deutlich sagen und daran erinnern: Das „Dritte Reich“, die Diktatur der Nationalsozialisten, war eine Katastrophe für unser Land und für Europa. Der von Deutschland gewollte Zweite Weltkrieg brachte kein sorgenfreies Leben, sondern eine Zeit der Willkür, der Ermordung von Millionen in Konzentrationslagern und zuletzt ein geteiltes Land aus Ruinen.

Was erwächst aus dieser historischen Erinnerung? Mit Blick auf die neuen politischen Verhältnisse in Sachsen und Thüringen ist es für mich das Gefühl von Verantwortung für unsere Demokratie. Diese Verantwortung lebt aus dem Bewusstsein, wie sehr wir alle zum Leben das Andere brauchen, das nicht Hass und Hetze, Einschüchterung und Gewalt ist, sondern aus den Gedanken von Begegnung, von Versöhnung und Vergebung lebt.

„Wir müssen dazu beitragen den Liebesvorrat auf der Erde zu vergrößern. Jedes kleine bisschen Hass, das man dem bereits existierenden Hass hinzufügt, macht die Welt noch unwirtlicher und unbewohnbarer.“ So hat es die niederländische Jüdin Etty Hillesum in ihren Tagebüchern aufgeschrieben. Am 07. September 1943 bestieg sie mit ihrer Familie den Zug nach Auschwitz und wurde dort ermordet.

In diesen Tagen emotionaler und politischer Aufgeregtheit helfen mir ihre Gedanken, nicht ins Bittere abzugleiten und der Hoffnung Raum zu geben. Ja, das soll auch für mich gelten: den Liebesvorrat dieser Welt größer machen als den Hass, damit auch unser Land bewohnbar bleibt.

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  Danken

Danken

Heiko Frubrich, Prädikant - 31.08.2024

„Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ – der Wochenspruch für die kommende Woche aus dem 103. Psalm. Ich erlaube mir einen kleinen Spoiler auf den morgigen Sonntag, mit dem wir die Woche beginnen und der ganz im Zeichen des Dankens steht. Kantor Robin Hlinka hat sich bei der Musikauswahl für das heutige Mittagsgebet davon inspirieren lassen und Stücke zusammengestellt, die unterschiedlicher kaum sein könnten und die nach einer Kommentierung verlangen, wie ich finde.
Barners Fantasie über „Nun danket alle Gott“, die wir gerade gehört haben, hymnisch und durchgängig in strahlendem F-Dur, sie greift den Duktus des Chorals auf. Da wird Gott gedankt, aufrichtig und protestantisch kraftvoll, eben mit Herzen Mund und Händen, wie Martin Rinckart es im 17. Jahrhundert getextet hat.
Doch gleich kommt Reger mit seinem Dankpsalm, dem zweiten Satz aus dem Zyklus „Sieben Stücke für Orgel“, den Reger 1915 und 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg, komponierte. „Dem deutschen Heere“ ist der Subtext. Die Musik ist ein deutlicher Kontrast zu Barners Fantasie und sie führt uns in Stimmungen hinein, die mit Dankbarkeit schwer zu verbinden sind. Da ist es finster und drückend und das Aufleuchten des Chorals „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ wirkt auf mich fast aufgesetzt, gewollt und überhaupt nicht zwangsläufig. Auch im majestätischen Schlussteil ist der dort aufgenommene Choral „Lobe den Herren“ dissonant durchzogen und hinterlässt bei mir eine eigenartige Stimmung. Wollte Reger mit seiner Musik einen nachdenklichen Kontrapunkt zur sonst so patriotischen und kriegsfreudigen Stimmung in Deutschland setzen? Oder war es eher der Versuch, trotz all der Schrecken des Krieges einen tieferen, ja einen von Gott gewollten Sinn in allem zu finden?
Immer wieder versuchen Menschen, ihre eigene Verantwortung auf Gott zu schieben, ihr eigenes Fehlverhalten als Gottes Willen zu bemänteln. Islamistischer Terror ist ein aktuelles Beispiel, doch auch die christlichen Kreuzzüge, die Inquisition oder die Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten fallen darunter.
Dürfen Kriegsparteien Gott für sich vereinnahmen? Gibt es Kriege, bei denen Gott sich ganz klar auf eine Seite stellt, zum Beispiel auf die der Ukraine? Nein, das denke ich nicht. Ich glaube vielmehr, dass Gott immer bei den Menschen ist; bei jenen, die Angst um ihr Leben haben, die mit ihrer Schuld nicht klarkommen, die in Trauer und Verzweiflung gestürzt werden. Denen will Gott nahe sein, ganz egal auf welcher Seite sie stehen.
Und dafür gebührt ihm Dank, dafür, dass er seine Gnade und seine Liebe und nicht von uns nimmt, dafür, dass er uns vergibt und uns Neuanfänge gewährt. Und wie gut, dass wir zum Schluss an den 100. Psalm erinnert werden, in dem es heißt:
„Jauchzet dem Herrn, alle Welt! Dienet dem Herrn mit Freuden, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken!“ Ja, so soll es sein. Amen. 

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  Der Liebe eine Chance geben

Der Liebe eine Chance geben

Heiko Frubrich, Prädikant - 30.08.2024

Zu jeder Woche im Kirchenjahr gehören zwei Wochenlieder, so auch zu dieser. Und eines davon passt, wie ich finde, besonders gut zum heutigen Freitag, an dem wir Abendmahl miteinander feiern. Es ist das Lied: „Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht“. Von Claus-Peter März stammt der Text, die Melodie hat Kurt Grahl komponiert. Es ist zwar kein klassisches Abendmahlslied, aber das Bild des Brotteilens passt.
„Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht und das Wort, das wir sprechen, als Lied erklingt“, so beginnt die erste Strophe. Es ist nicht die große, wissenschaftliche Theologie, die der Text transportiert. Es ist aber dennoch Grundlegendes, was unseren Glauben und noch mehr, was christliches Leben ausmacht. Brot teilen und Lieder singen gehört seit Beginn an zum Leben in christlichen Gemeinschaften dazu. Schon über die Jünger wird berichtet, dass sie nach Christi Himmelfahrt täglich im Tempel beieinander waren, in den Häusern hier und dort das Brot brachen und teilten und Gott mit Freude und lauterem Herzen lobten.
Ein schönes Bild, vielleicht ungewohnt viel „heile Welt“, im Grunde doch aber das, was uns Menschen guttut. Und dieser Tenor setzt sich fort in den weiteren Strophen. Da geht darum, das Leid der Armen wahrzunehmen, Not zu lindern, eine Hand zu halten, Trost zu geben und Schmerz zu teilen; kurz: Es geht darum, wie wir für unsere Mitmenschen gute Wegbegleiter sein können und so einander zum Segen werden.
Und wenn das so ist, „dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut, dann wohnt er schon in unserer Welt. Ja, dann schauen wir heut schon sein Angesicht in der Liebe die alles umfängt. Der Refrain beschreibt, wie eine Welt sein kann, wenn wir uns an Christus orientieren. Er hat uns gesagt: „Das Himmelreich ist mitten unter euch!“ Und damit macht er deutlich, dass wir es selbst in der Hand haben.
Wir können entscheiden, ob wir uns gegenseitig das Leben zur Hölle machen wollen, oder ob wir uns liebevoll begegnen. Wir können entscheiden, ob wir bei jedem Menschen und auch bei uns selbst erst einmal nach den Fehlern und Schwächen suchen oder ob wir das Freundliche und Gute sehen wollen. Wir können entscheiden, ob uns die Sorgen der Anderen herzlich egal sind, oder ob wir ihnen helfen wollen, ihre Last zu tragen.
Wir haben es in der Hand, der Liebe, die alles umfängt eine Chance zu geben. Und ich denke, dass wir uns darüber einig sind: Die Liebe hat die Kraft, diese Welt zu verändern. Helfen wir ihr dabei. Amen.

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  Es geht um Menschen!

Es geht um Menschen!

Heiko Frubrich, Prädikant - 29.08.2024

Vor zweieinhalb Monaten haben wir hier am Dom im Rahmen des Weltflüchtlingstages die Aktion „Beim Namen nennen“ durchgeführt und dabei an die mittlerweile über 60.000 Männer, Frauen und Kinder erinnert, die auf ihrer Flucht an den Außengrenzen Europas ihr Leben verloren haben. Die Zustimmung und die Unterstützungsbereitschaft waren groß. Mehr als 100 Menschen aus der Stadt und der Region Braunschweig haben zwei Tage lang lang Namen gelesen oder in den Atempausen einfühlsam musiziert.
Ja, es gab auch Kritik – das war erwartet und auch gewollt. Denn oft mündeten kritische Anmerkungen in gute und intensive Gespräche, in deren Ergebnis nicht selten zumindest ein besseres Verständnis der jeweils anderen Seite stand. Aus heutiger Sicht ist festzustellen: Miteinander zu reden wird schwieriger. Die Positionen verhärten sich, der Ton wird rauer, die Forderungen werden radikaler – insbesondere nach dem mutmaßlich islamistischen Anschlag in Solingen.
In der politischen Diskussion geht vieles durcheinander und es ist so etwas wie ein Überbietungswettbewerb ausgebrochen, was die zu ziehenden Konsequenzen angeht. Und selbst aus dem demokratischen Parteienspektrum kommen Antritte, das grundgesetzlich festgeschriebene Recht auf Asyl zu überdenken.
Das Bibelwort, das über dieser Woche steht, stammt aus dem Matthäusevangelium. Dort sagt Jesus Christus: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan.“ Dieses Wort ist in zweierlei Hinsicht ein Augenöffner. Erstens weist es darauf hin, dass wir bei allen berechtigten Diskussionen über Anpassungen im Zusammenhang mit dem Thema Asyl, nie vergessen dürfen, dass wir dabei immer über Menschen und ihre Schicksale reden. Und diese Erinnerung gilt allen, völlig unabhängig davon, ob sie gläubige Menschen sind oder nicht.
Zweitens sagt Christus, dass er uns in jedem dieser betroffenen Menschen begegnet. Der Hass, der Migrantinnen und Migranten entgegenschlägt, schlägt Christus entgegen. Jedes unberechtigt verbreitete Vorurteil, jede Hetze und jede Gewalt richten sich gegen niemand geringeren als Jesus Christus.
Das ist jetzt nicht die fromme Keule, mit der wir uns ganz elegant auf die Seite der naiven Weltverbesserer schlagen, die die Augen vor der Realität verschließen. Das ist schlicht und ergreifend ein Wort Christi, das er uns mit auf den Weg gibt, als Leitplanke für unser Denken, Reden und Handeln.
Es ist richtig und wichtig, Maßnahmen zu entwickeln, die das Ziel haben, unser Zusammenleben in Freiheit und Vielfalt zu sichern. Doch es bedarf einer achtsamen Differenzierung und einer großen Besonnenheit. Denn jeder Mensch ist zu Gottes Ebenbild geschaffen – ausnahmslos jeder! Amen.

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  Kraft und Hilfe

Kraft und Hilfe

Heiko Frubrich, Prädikant - 28.08.2024

„Resilienz – das Geheimnis der inneren Stärke“, so ist ein Artikel in der Zeitschrift GEO überschrieben. Resilienz beschreibt die Fähigkeit, psychische Belastungen auszuhalten, sich von Schicksalsschlägen nicht aus der Bahn werfen zu lassen, Unsicherheiten zu ertragen und sich von Zukunftsängsten nicht unterkriegen zu lassen.
Ich finde, dass wir gerade in Zeiten leben, in denen unsere Resilienz in ganz besonderer Weise gefordert ist. Denn neben den ganz persönlichen Päckchen, die jede und jeder zu tragen hat, herrscht auch um uns herum wirklich kein Mangel an Entwicklungen, Ereignissen und Themen, die ausreichend Potential haben, uns zu bedrücken, zu verunsichern und zu ängstigen.
Die Strategien und auch die Fähigkeiten, mit all dem umzugehen, sind von Mensch zu Mensch verschieden und auch das Quantum dessen, was man ertragen kann, ist sehr individuell. Doch uns alle verbindet, dass irgendwann mal ein Punkt erreicht ist, wo wir alleine nicht mehr weiterkommen, wo wir Hilfe brauchen, wo wir uns etwas suchen müssen, um unsere inneren „Resilienz-Akkus“ wieder aufzuladen.
Über dem heutigen Tag heißt es aus dem ersten Buch der Chronik: „So richtet nun euer Herz und euren Sinn darauf, den Herrn, euren Gott, zu suchen.“ König David wendet sich mit diesen Worten an die geistliche Jerusalemer Obrigkeit. Doch ich finde, dass seine Ansprache auch uns guttun kann. Denn wir können uns daran erinnern lassen, dass Gott uns zusagt, uns durch alle Unwägbarkeiten unseres Lebens zu begleiten.
„Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen“, heißt es so treffend im 91. Psalm. Das steht über allem Bedrohlichen, über allem Schweren, über allem Entmutigendem, mit dem wir uns herumzuschlagen haben. Das ist dieser göttliche Mantel aus Fürsorge, Frieden und Liebe, den Gott uns allen anbietet und der uns wärmt und schützt.
Und dass das mehr ist, als irgendeine esoterische Gefühlsduselei, hat schon König David erkannt. Er sagt, dass wir unser Herz und unseren Sinn darauf richten sollen, Gott zu suchen. Denn die Entscheidung, Gott Raum in meinem Leben zu geben und mich auf ihn einzulassen, ist und bleibt eine rationale. Wie in jeder guten Beziehung ist das Herz wichtig, aber der Verstand ist es eben auch.
Ich bin absolut davon überzeugt: Mit Gott an unserer Seite kommen wir besser durchs Leben, denn wir dürfen blind darauf vertrauen, dass er es gutmachen wird – auch mit uns. Und darum höre ich gerne auf König Davids Worte: „So richtet nun euer Herz und euren Sinn darauf, den Herrn, euren Gott, zu suchen.“ Amen.

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  Herr Rick denkt groß

Herr Rick denkt groß

Henning Böger, Pfarrer - 27.08.2024

Josef Rick ist reich. Das weiß er und sagt es auch. Der Immobilien-unternehmer sitzt in einem Fernsehstudio, schaut in die Kamera und sagt, er gehöre zu den 10 Prozent der Menschen, denen über 50 Prozent des gesamten Vermögens in Deutschland gehören. Dann lächelt Herr Rick und sagt zum Reporter: „Wir Reichen müssten einfach mehr Steuern bezahlen. Es gibt für uns so viele Schlupflöcher, durch die wir Steuern sparen können. Im Verhältnis leisten wir Reiche wenig und werden immer reicher. Ärmere Menschen können nie Steuern sparen.“
Herr Rick denkt groß und das beeindruckt mich. Denn aus vielen sozialen Studien wissen wir: Reiche Menschen haben immer viele Chancen, noch reicher zu werden. Ärmere haben so gut wie nie eine Chance, etwas mehr zu besitzen. Der Vorschlag, den Josef Rick macht, sagt im Kern, was Sozialforscher bestätigen: Starke Schultern müssen mehr tragen als schwächere. Nur so wird die unterschiedliche Verteilung von Vermögen ausgeglichen und mehr soziale Gerechtigkeit entstehen. Herr Rick weiß das alles und will, dass sich etwas bewegt. Darum wird er deutlich: „Es braucht Mut, uns Reiche mehr zu besteuern, damit Ärmere weniger zahlen müssen.“
Das ist nahe dran an einem Satz, den Jesus einmal gesagt hat: „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, vom dem wird man umso mehr fordern.“ Auch Jesus denkt hier groß: Alles, was wir vermögen und besitzen, ist uns von Gott gegeben. Darüber sollen wir uns freuen und dankbar sein. Zugleich fordert Jesus eine rechte Verwaltung unserer Gaben ein. Diese kommen erst dort zu ihrem wirklichen Ziel, wo sie nicht nur uns selbst glücklich machen, sondern auch anderen zum Leben dienen.
„Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen.“ Ich höre das
so: Erkennst du, dass in dem, was dir gegeben ist, immer auch Verantwortung für das Ganze liegt? Niemand lebt nur für sich; jede und jeder lebt auch in einem Raum der Verantwortung für andere.
Es gibt Menschen, die können mehr und größere Verantwortung übernehmen.
Wir können damit im Kleinen anfangen und werden spüren, wie reich beschenkt wir sind. Das weiß auch Herr Rick. Er lächelt in die Kamera und sagt: „Es braucht Mut, uns Reiche mehr zu besteuern. Aber dieser Mut sollte da sein unter uns.“

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  Solingen - keine Macht dem Hass!

Solingen - keine Macht dem Hass!

Heiko Frubrich, Prädikant - 26.08.2024

Drei Tote und acht teilweise schwer Verletzte sind zu beklagen. Viele weitere Menschen sind traumatisiert. Sie sind Opfer eines hinterhältigen Anschlages geworden, der sich am vergangenen Freitag auf dem Solinger Stadtfest ereignete. Ein 26jähriger Syrer hat ihn begangen. Der IS reklamiert die Tat für sich.
Und nun? Was kann man sagen zu solch einem Akt von blinder Gewalt, gerichtet gegen Menschen, die der Täter nicht kannte, gerichtet gegen unsere Art, miteinander zu leben, gerichtet gegen Freiheit und Frieden? Ich kann nicht nachvollziehen, was in einem Menschen vorgeht, der so voller Hass ist. Ich kann nicht nachvollziehen, wie tief diese Verblendung sein muss, die den Täten angetrieben hat.
Ausführender war dieser junge Syrer. Er trägt die unmittelbare Schuld. Doch ebenso schuldig gemacht haben sich jene, die zu seiner Radikalisierung beigetragen haben, die ihm eingetrichtert haben, dass ein wahlloses Morden der richtige Weg ist. Die Hintermänner und Agitatoren sind es, die ebenfalls Schuld auf sich geladen haben und es immer weiter tun.
Und der Gipfel der Widerwärtigkeit ist, dass sie sich dabei auf Gott berufen und postulieren, dass genau das, was in Solingen passiert ist, Gottes Wille sein soll. Wir wissen als Christinnen und Christen, wie verlogen das ist. Unser Gott ist ein Gott der Liebe und des Friedens. Unser Gott will, dass wir Menschen uns gegenseitig gute Wegbegleiter sind und einander zum Segen werden.
Hass, Unterdrückung und Gewalt sind mit dem, wie Gott sich unser Leben gedacht hat, nicht vereinbar. Und doch werden Gott und seine Botschaft missbraucht, um die eigenen kruden Ideologien zu rechtfertigen und die eigenen Machtinteressen durchzusetzen. Auch das Christentum hat sich in seiner 2000jährigen Geschichte diesbezüglich mehrfach verstiegen.
Die Rufe nach Konsequenzen aus dem Attentat von Solingen sind nicht zu überhören. Und natürlich muss es Ableitungen geben, die Maßnahmen nach sich ziehen. Legislative, Exekutive und Judikative, die drei Gewalten in unserem Staat sind hierfür in der Verantwortung.
Uns alle sehe ich aber gefordert, darauf zu achten, dass Hass nicht mit Hass beantwortet wird, dass Konstruktivität nicht verdrängt wird von blinder Scharfmacherei und dass ein dumpfer Generalverdacht nicht alle geflüchteten Menschen in Misskredit bringt. Dem gilt es entgegenzuwirken.
Denn Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Dessen sollten wir uns erinnern – gerade jetzt und in Jesu Namen. Amen.

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  Erzählen

Erzählen

Cornelia Götz, Dompredigerin - 24.08.2024

Ich bin eigentlich keine Podcasthörerin – aber jetzt habe ich doch einen begonnen – eine Freundin hat ihn mir wärmstens ans Herz gelegt. Er heißt: „Unter Pfarrerstöchtern.“
Es unterhalten sich zwei Schwestern: Sabine Rückert, Gerichts- und Kriminalreporterin der ZEIT und Johanna Haberer, bis 2022 Professorin für christliche Publizistik. Sie reden über die Bibel. Nicht um zu missionieren oder zu belehren, sondern um zu erzählen, von Anfang bis Ende. Sie befragen einander, teilen Einfälle und Überraschungen, Befremden.
Sie machen das gut – auch wenn ich mich manchmal wundere.
Es beginnt natürlich vorn, bei der Schöpfung, den beiden sehr unterschiedlichen Geschichten über den Anfang von Zeit und Raum, Licht und Finsternis, der Pflanzen und Tiere, der Menschen.
Sie wundern sich, dass Gott, der die Liebe ist, Beziehung, ein Du, allein und einsam über den Wassern schwebt.
Sie sind sich einig, dass es hier nicht um einen wissenschaftstauglichen Bericht geht, den man wörtlich nehmen muss – kein Protokoll über die Entstehung der Erde.
Die beiden Schwestern lesen in diesen ersten Versen eine Vision, wie es war und sein könnte nach allem und trotz allem. Ein Garten voller Früchte im Rhythmus des Lebens. Tiere und Menschen, die zusammen geschaffen werden, am selben Tag – die einen den anderen anvertraut.
Eine Welt ohne Scham.
Ohne Mord und Totschlag.
Auch ohne Freiheit. Frei wozu – wenn doch Vollkommenheit herrscht.
Waren Menschen nur Träumende?
Werden wir wieder sein wie die Träumenden?
Wenn Gott die Gefangenen erlöst haben wird?
Dann, wenn gewesen sein wird, was wir getan haben werden?
Die beiden schwelgen im Futur II und schauen doch in die Gegenwart: der Garten Eden, das blühende Land, zwischen Euphrat und Tigris, liegt heute kriegsversehrt und unfruchtbar, der Baum der Erkenntnis ist vertrocknet.
Aber die uralten Geschichten sind lebendig geblieben.
Sie sind noch immer Lebenselixier.
Es sind Hoffnungsgeschichten von Anfang an.
Aufgeschrieben von denen, die vor uns waren – nicht Träumende, sondern Menschen, die lieben und Schmerz empfinden, Augen und Ohren haben, Herz und Verstand. Sie leben nicht im Paradies, sondern in der wirklichen Welt, in der das immer wieder passiert: dass Menschen aufschreiben, wovon sie träumen und wie es wäre ein wirklicher Mensch zu sein – dass andere davon erzählen. Mir macht das Hoffnung.

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  Google-Rezensionen

Google-Rezensionen

Heiko Frubrich, Prädikant - 22.08.2024

Google-Rezensionen
Früher gab es Restaurantführer. Heute gibt es Google-Rezensionen. Früher fragte man seine Freunde, Nachbarn und Bekannten nach einer Empfehlung für einen neuen Zahnarzt. Heute gibt es Google-Rezensionen. Früher las man Testberichte in Fachzeitschriften, bevor man sich einen neuen Fernseher oder eine neue Waschmaschine kaufte. Heute gibt es Google-Rezensionen. Dort sind fünf Sterne das Maß aller Dinge; landet irgendwas oder irgendwer nur bei drei, verschlechtert das ganz maßgeblich die Wettbewerbsposition.
Zu berücksichtigen ist dabei, dass die negative Energie, die aus Enttäuschungen über schlechtes Essen, miesen Hotelservice und defekte Elektrogeräte resultiert, ein starker Treiber für das Verfassen von Internetbewertungen ist. Der oder die Zufriedene ist eher geneigt, in stiller Freude zu schweigen. Doch wie dem auch sei: Google-Rezensionen sind über die Jahre zu einem wesentlichen Meinungsbildner geworden, wenn es darum geht, Waren oder Dienstleistungen oder alles Mögliche sonst zu bewerten.
Aber wissen Sie, wer keine Google-Rezensionen hat? Gott! Sie finden über fast jede Kirche, jede religiöse Organisation und selbst über dort handelnde Personen entsprechende Bewertungen. Nur über den Chef findet man nichts. Spannend, oder?
Im Bibelwort für den heutigen Tag sagt Jesus Christus: „Wer mich bekennt vor den Menschen, zu dem will ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel.“ Ist das nicht, in unsere Zeit übersetzt, eine klare Aufforderung, bei Google mal etwas über unsere Erfahrungen mit Jesus Christus zu hinterlassen? Also natürlich nicht nur da, sondern gerne auch im persönlichen Gespräch mit unseren Mitmenschen. Das ist vielleicht sogar noch schöner und wirksamer.
Aber damit tun wir uns ziemlich schwer. Klar, hier im geschützten Raum unseres Domes, hinter seinen dicken Mauern, da bekennen wir in jedem Gottesdienst unseren Glauben an Gott und Jesus Christus und den Heiligen Geist. Doch da draußen im Bekannten- und Freundeskreis, am Arbeitsplatz, im Eintrachtstadion, da sind wir dann doch eher still und verschwiegen, was unseren Glauben angeht.
Dabei haben wir kaum etwas zu befürchten, denn unsere Glaubensfreiheit ist ein Grundrecht, das uns niemand streitig machen kann. Klar, wir riskieren, ein müdes Lächeln, zu ernten oder die Frage, ob denn sonst alles mit uns in Ordnung sei. Aber das ist es dann auch schon. Andererseits: Ich empfinde meinen Glauben als eine große Bereicherung in meinem Leben, für die ich Gott sehr dankbar bin. Das gönne ich meinen Mitmenschen auch und von ganzem Herzen. Und wenn ich ihnen einen Staubsauger oder einen Kinofilm oder eine Pizzeria empfehle, warum dann nicht auch, sich für unseren Gott zu öffnen, der Freude daran hat, uns mit seiner Liebe zu umfangen?
Kann man ja mal drüber nachdenken – in Jesu Namen. Amen.

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  Sollte Gott gesagt haben...?

Sollte Gott gesagt haben...?

Cornelia Götz, Dompredigerin - 21.08.2024

Muss man es immer und immer wieder erklären?
Wieder einmal werde ich von Menschen, die diesem Ort hier und vor allem dem Glauben an Jesus Christus hochverbunden sind, gefragt, warum es denn nun kein Kreuz mit Corpus mehr auf dem Altar gäbe, dafür diese Nägel – als wären die Nägel, die Folterinstrumente, das was zählt und wichtig ist.
Und wieder und wieder erzähle ich von dem Zeichen nach der Bombennacht in Coventry – den Zimmermannsnägeln aus dem verbrannten mittelalterlichen Dachstuhl, Nägeln, die da am Boden liegen und ein Kreuz bilden: Schaut her! Schaut doch endlich her – Erlösung kommt aus der Ohnmacht, aus dem Mitleiden – nicht aus dem Gegenschlag.
Mahatma Gandhi hatte gesagt: „Weder für die Alliierten noch für die Welt wird es Frieden geben, wenn die Menschen nicht den Glauben an die Effizienz des Krieges aufgeben.“
Und da sind wir, 80 Jahre später – und haben es erfahren und können es wissen und glauben weiter an Aufrüstung und Abschreckung, an Kriegsgerät und Kriegslogik.
Dietrich Bonhoeffer, der sich 1934 in einer Welt vorfand, deren „Götze die Sicherheit geworden ist“, „warnte vor einer unentschiedenen Haltung in der Frage der Abrüstung, wie sie in der Frage der Schlange laut wird: Sollte Gott wirklich gesagt haben?“ und führte beißend ironisch aus: „Sollte Gott nicht gemeint haben, wir sollten wohl vom Frieden reden, aber so wörtlich sei das nicht in die Tat umzusetzen? Sollte Gott nicht doch gesagt haben, wir sollten wohl für den Frieden arbeiten, aber zur Sicherheit sollten wir doch Tanks und Giftgase bereitstellen? Und dann das scheinbar Ernsteste: Sollte Gott gesagt haben, du sollst dein Volk nicht schützen? Sollte Gott gesagt haben, du sollst deinen Nächsten dem Feind preisgeben? Nein, das alles hat Gott nicht gesagt.“
Nein, das alles hat Gott nicht gesagt.
Aber wir hören das nicht mehr. Wir wollen nicht. Wir wissen es besser.
Noch einmal Gandhi: „Es ist meine Überzeugung, dass die Wurzel des Bösen das Fehlen eines lebendigen Glaubens an einen lebendigen Gott ist.“
Dieser Gott, der lebt und will, dass wir auch leben, sagt: „Selig sind die Friedfertigen.“ Und auch: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln.“
Und wir? Trauen wir uns, das zu glauben? Darauf zu vertrauen? So zu leben?
Mein Kollege in Coventry hat sich getraut. Er hätte sonst nicht mit Ruß an die Ruinenwand geschrieben: „Vater, vergib“ – sondern „Vater, vergib den Deutschen.“

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  In Liebe!

In Liebe!

Heiko Frubrich, Prädikant - 20.08.2024

In Liebe!
Jesus, der Sabbatschänder, so hätten seine Kritiker wohl den Abschnitt aus dem Lukasevangelium überschrieben, über den am vergangenen Sonntag in unseren Kirchen gepredigt wurde. Es geht darum, dass Jesus am Sabbat in der Synagoge lehrt und dabei auf eine verkrümmte Frau trifft, die seit über 18 Jahren krank ist. Sie hatte einen Geist, schreibt die Bibel, und dieser Geist drückt sie nieder, macht sie klein und verhindert, dass sie aufrecht durchs Leben gehen kann.
Jesus legt der Frau die Hände auf und von dem Moment an ist sie wieder gesund. Der Synagogenvorsteher und weitere andere kritisieren das scharf, denn nach ihrer Auffassung hat Jesus ganz klar gegen das Dritte Gebot verstoßen, das da lautet: Du sollst den Sabbattag heiligen.
Doch Jesus weiß sich zu wehren und sagt: „Ihr Heuchler! Ihr tränkt euer Vieh am Sabbat, damit es nicht verdurstet. Doch ich soll diese Frau nicht vom Satan befreien dürfen? Ihr stellt das Wohl von Ochsen und Eseln über das Wohl dieses kranken Menschen. Das kann ja wohl beim besten Willen nicht in Gottes Sinne sein!“
Jesu Kritiker trifft das ins Mark und sie stehen nach dieser Ansage da wie die begossenen Pudel. Sie schämen sich für ihre Borniertheit und erkennen ihre Fehlinterpretation des göttlichen Gebots. Hut ab, sage ich, diese Größe muss man erst einmal haben. Der Synagogenvorsteher war ganz sicher ein ziemlich hohes Tier, doch selbst er versucht erst gar nicht, sich in Rechtfertigungen und Ausflüchte zu retten. Er erkennt, dass er auf dem falschen Dampfer unterwegs war, und er steht dazu.
Daran lohnt es sich, ein Beispiel zu nehmen. Es kann niemals schaden, sein ganz persönliches Denken, Tun und Handeln regelmäßig zu überprüfen. Wo stecke ich fest in einem Klein-Klein aus alten Überzeugungen? Wo stehe ich mir selbst im Weg mit meinen Vorurteilen und meinen aus Hörensagen abgeleiteten Meinungen. Wo habe ich meine Offenheit verloren, weil meine Selbstgerechtigkeit mir den Blick verstellt?
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es manchmal nicht ganz leicht ist, diese Wachsamkeit kontinuierlich beizubehalten. Und wir müssen sie gegen diese „Abers“ verteidigen, die oft so laut sind: Aber das geht doch nicht! Aber das haben wir doch schon immer so gemacht! Aber der andere hat doch angefangen! Aber, aber, aber…
Trotzdem oder gerade deswegen sollten wir uns trauen, immer wieder zu fragen, wie Jesus wohl gehandelt hätte, wäre er an unserer Stelle. Das erfordert durchaus Mut, denn wir müssen auch die Antworten aushalten. Und die wird ganz oft so lauten: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe!“ Das können wir getrost über unser ganzes Leben schreiben – mit Gottes Hilfe und in Jesu Namen. Amen.

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  Siehe, ich mache alles neu!

Siehe, ich mache alles neu!

Heiko Frubrich, Prädikant - 19.08.2024

Über dieser Woche heißt es: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Wir deuten diese Worte, die Gott uns durch den Propheten Jesaja übermittelt, auf Jesus Christus hin, der das Recht unter die Heiden bringen soll und der den Geist Gottes empfangen hat, wie es weiter heißt. Und er wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen.
Das tut gut, zu hören, wenn wir uns selbst einmal fühlen wie ein geknicktes Rohr, das den Stürmen des Lebens nicht mehr gewachsen ist oder wie der nur noch schwach glimmende Docht, dem es an Kraft fehlt, um hell und sichtbar zu leuchten. Das tut gut, zu hören, wenn wir uns um andere sorgen, bei denen wir mit unserem Latein am Ende sind, bei denen wir nicht mehr wissen, wie wir noch weiter helfen können, bei denen nur noch bleibt, auf Gott zu vertrauen.
Und dann haben wir dieses Jesaja-Wort vielleicht im Hinterkopf, voller Zuversicht darauf, dass Gott es uns ja versprochen hat, selbst die kleinste Glut noch zu bewahren, sie zu schützen und zu stärken. Und wir denken weiter, dass diese Glut, dass dieser glimmende Docht mit Gottes Hilfe doch ganz sicher wieder zu einem kräftigen Licht werden muss, das in unser aller Leben hineinstrahlt und es wieder hell macht und freundlich und fröhlich, so, wie es immer war.
Und dann verlischt die letzte Glut eines Lebenslichtes auf einmal doch, und wir stehen vor der erkaltenden Asche, fassungslos, erschüttert und mit dieser einen Frage im Kopf: Warum? Und die Dunkelheit, die sich dann ausbreitet, sie schmerzt, und die neu entstehenden Schatten verändern das Gesicht unserer ganz persönlichen kleinen Welt.
Hat Gott sein Versprechen gebrochen? Nein, das hat er nicht. Wir wollten sein Versprechen anders verstehen, als er es uns gegeben hat. Denn wir suchen immer wieder Auswege aus dieser so schwer zu akzeptierenden Vergänglichkeit, der alles auf dieser Welt unterliegt und von der auch wir Menschen mit unserem Leben nicht ausgenommen sind.
Wir wissen weder Tag noch Stunde, zu der unsere eigene Lebensuhr auf dieser Welt ablaufen wird. Wir wissen aber als Christenmenschen, dass Jesus uns eine Tür aufgestoßen hat, die uns dann in ein neues Leben führen wird, dass frei ist von aller Vergänglichkeit und in dem Gott abwischen wird alle Tränen von unseren Augen.
Und er wird uns willkommen heißen mit offenen Armen und einem freundlichen Lächeln und wird uns zurufen: Siehe, ich mache alles neu! Amen.

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  "Nehmt einander an"

"Nehmt einander an"

Pfarrer Werner Busch - 16.08.2024

Sie kennen die evangelische Gewohnheit, für jeden Tag des Jahres eine biblische Losung zu haben. Der ergänzende Lehrtext für heute klingt für mich wie ein freundliches Zureden. Kommt und versucht es einmal. „Nehmt einander an.“
Der Vers kommt aus den Schlusspassagen eines langen Briefes. Sie finden ihn im Schreiben des Apostels Paulus an die Römer, Kapitel 15. Es geht aufs Ende dieses langen Briefes zu. Beim Lesen merke ich: Er kommt zum Schluss und zieht Schlüsse. Den unbekannten Adressaten ruft er zu, worauf es ihm ankommt. Worauf er hinaus will.
„Nehmt einander an!“
Zuerst richtetet sich dieser Zuruf an Menschen, die in Gemeinden und Kirchen zusammenkommen. Eine wilde Mischung, schon damals. Menschen aus den Völkern, Einheimische, Zugereiste und Touristen. Und einige Juden, die an den Messias Jesus glaubten.
Die Glaubensbotschaft sagt sich so leicht. Gott liebt alle Menschen. Durch Jesus bekommen jetzt auch die aus den Völkern Zutritt zum Gott Israels. Ihr seid allesamt eins in Christus. Das klingt einfach, harmonisch und klar. Aber so einfach, harmonisch und klar sind wir Menschen nicht.
Aber wenn nicht hier, wo denn dann sollte so ein Satz zu Hause sein? „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ Dafür stehen die Kirchen und Gemeindehäuser in unseren Städten und Dörfern: Christus hat euch angenommen. Der Braunschweiger Dom - ein liegendes Kreuz zwischen all den Häusern, Wegen, Gassen und Tweten. Ein Ort der Einkehr und Ruhe inmitten der Unruhe. Diese Kirche ist ein begehbares Kreuz. Hier sind Sie heute Nachmittag eingekehrt. Der Willkommensgruß in diesem Haus und allen Kirchen heißt: Christus hat euch angenommen. Hier findet ein geplagtes Gewissen Vergebung. Wie sonst könnten wir den Mut zur Wahrheit finden, wenn nicht unter dem Vorzeichen: Dir ist vergeben, du bist angekommen, geliebt und geachtet. Sei willkommen!
Das Große und Starke an dieser Botschaft ist nun dies: Sie gilt nie nur einem Einzelnen. Die Sonne scheint auch nie nur für eine Person. Sie scheint für uns.
Der Willkommensgruß Gottes gilt mir und Dir. Dir und anderen. Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt …
Wer hier zugreift, muss es auch für andere gelten lassen. Wenn eine wundgelebte Seele sich in der Liebe Gottes heilen lassen will, wer die Kraft dieser Botschaft genießen wollen, muss gönnen können. Das Evangelium steckt uns mit Großzügigkeit an. Sonst greifst Du daneben.
„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zum Lob Gottes.“

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  Psalmen

Psalmen

Pfarrer Werner Busch - 15.08.2024

Heute trage ich einen ganzen Psalm vor. Das haben wir uns weitgehend abgewöhnt. In den Psalmen stehen oft schwer verdauliche Sätze.
Den Feinden wird Unglück ans Hals gewünscht, manchmal der Tod. Das ziemt sich doch nicht in einer Kirche, die die Kirche der Liebe sein will. Sein soll. Wie können wir da Rachepsalmen beten?
Heute trage ich Ihnen einen ganzen Psalm vor. Er ist wie aus dem prallen gesprochen. Da frisst jemand seine Wut, seine Kränkung nicht still und verkrampft in sich hinein. Er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, sondern spricht frei heraus, was ihm auf dem Herzen liegt. Sie werden Sätze der Zuversicht hören, und sehnsuchtsvolles Beten, einiges an Selbstmitleid, auch Wut und Zorn. All das wechselt sich mit Hoffnung und Geborgensein ab. Manchmal von einem Vers zum anderen. Stimmungswechsel von einem auf den anderen Augenblick – das kennen wir doch auch.
Die Psalmen der Bibel bringen alles Menschliche vor Gott zur Sprache. In Ihnen ist Platz für einen ganzen Tag. Platz sogar für ein ganzes Leben. Diese Gebete ermöglichen eine Erfahrung, von der Rainer Maria Rilke wie folgt gesprochen hat: „Das Buch der Psalmen ist eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein.“ Wer die Psalmen zensiert, unliebsame Verse herausschneidet, der zensiert auch Gefühle und Erfahrungen. Doch beim Gott Israels, dem Vater Jesu Christi, gilt die freie Rede. „Schüttet Euer Herz bei Gott aus, liebe Leute.“
Deshalb trage ich Ihnen heute den ganzen Psalm 31 vor. Ein geräumiger Psalm mit Platz für Seelen-Unruhe, Herzenssehnsucht, für Gottvertrauen und Kränkungsschmerzen, Geborgenheit und Angefochtensein. Du kannst Dich restlos darin unterbringen, was immer dich bewegt.

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  Geschöpf sein

Geschöpf sein

Jakob Timmermann, Pfarrer - 14.08.2024

Was haben Tante Magrid, Frau Frasunkiewicz und ein See in Schweden gemeinsam? Beide haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Wie? Das möchte ich Ihnen gern erklären.
Wenn ich früher meine Großeltern besucht habe, dann kamen nervigerweise manchmal so alte Menschen zu Besuch. Die haben dann ganz lange mit meiner Oma gequatscht, dabei wollte ich eigentlich nur mit ihr UNO spielen. Tante Magrid war eine von denen. Und mit der musste ich dann auch noch spazieren gehen. Alleine. Also los. Raus in den Wald hinterm Haus.
Und während wir da so gingen, pflückte sie plötzlich einen Grashalm vom Wegrand. Weißt du, wie man auf einem Grashalm bläst? fragte sie. Und dann zeigte sie mir das. Und jetzt kann ich das. Und immer, wenn ich auf einem Grashalm blase, muss ich an Tante Magrid denken.
Sie hat mich zu dem gemacht, der ich bin.
Frau Frasunkiwiecz war die Bäckerin in meinem Heimatdorf Weddel. Und ich bin da als Kind immer hingestiefelt. Habe Brot oder Brötchen gekauft. Aber einmal, als ich den Laden verlassen hatte, fiel mir auf, dass ich zu viel Wechselgeld in der Hand hatte. Zehn Mark statt fünf Mark. Also bin ich wieder zurück und habe ihr das gesagt. Und ihre Antwort? Die fünf Mark kannst du behalten. Die sind für die Ehrlichkeit. Das prägt. Wenn man für Ehrlichkeit belohnt wird.
Sie hat mich zu dem gemacht, der ich bin.
Im Sommer war ich mit meinem Kumpel und meinen beiden Söhnen in Schweden Kanu fahren. Es hatte den ganzen Tag geregnet. Deswegen kamen wir erst nachmittags los. Leider stand auf unserer Karte nicht in welche Richtung der Fluss fließen würde, den wir für unsere Route benutzen sollten. Und siehe da - die Strömung kam von vorn. Und zwar richtig. Und so mussten wir mehrere Stunden flussaufwärts fahren. Es war unfassbar anstrengend. Aber irgendwann kamen wir dann doch an dem See an, den wir noch überqueren mussten. Es war 22 Uhr. Die Sonne verschwand rosarotorange hinter den Kieferwäldern. Nebel stieg am Ufer auf. Und der See war glatt wie ein Spiegel. Nur unsere Paddelschläge bewegten das Wasser. Es war unglaublich schön. Es war die wunderschöne Belohnung für harte Arbeit. Auch die Natur kann prägen.
Der See hat mich zu dem gemacht, der ich bin.
"Ich danke dir, Gott, dass ich wunderbar gemacht bin.", so lautet ein Psalmvers. Ich bin nicht von Gott einmal geknetet und in die Welt gesetzt worden. Nein, ich werde jeden Tag neu von ihm geschaffen. Durch Begegnungen mit Menschen und mit der Natur. Durch Begegnungen mit Halbsätzen und Wahrheiten. Durch Begegnungen mit einer Spinne, die ihr Netz baut, und mit Gedanken, die mich bewegen.
Wer hat Sie geprägt, liebe Andachtsgemeinde? Wem haben Sie zu verdanken, dass Sie sind, wie sie sind? Wer hat sie zu dem gemacht, der oder die Sie sind? Wer hat Sie geschaffen?
Weil Gott uns jederzeit begegnen kann, leben wir in seiner Schöpfung und nicht nur in einer Welt.
Und vergessen Sie nicht, andersrum ist es genauso. Auch Sie haben geprägt und geschaffen. Wahrscheinlich oft, ohne es zu wissen. Auch Sie haben an Gottes Schöpfung mitgearbeitet. Unterschätzen Sie sich nicht. Ich glaube nämlich, das ist der „Sinn des Lebens“. Der Sinn des Lebens, auf dass Friede werde unter uns. Amen.

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  Einsamkeitslotse

Einsamkeitslotse

Henning Böger, Pfarrer - 13.08.2024

„Ich arbeite als Einsamkeitslotse“, sagt Sylvio Böhm von sich: „Ich besuche Menschen, die oft wochenlang kein Wort gesprochen haben.“ Böhm ist 55 Jahre alt und gelernter Elektriker, hat später in einem Warenhaus gearbeitet. Dort wird der Vorstand einer Wohnungsbaugenossenschaft auf ihn aufmerksam. Sie suchten jemanden, der Mitglieder besucht. „Der Vorstand hat beobachtet, wie ich mit den Kunden im Kaufhaus umging, da boten sie mir den Job an.“
Nun besucht Sylvio Böhm Menschen, die oft alt geworden einsam sind. „Manchmal rufen Menschen bei mir an und fragen, ob ich sie besuchen kann. Manchmal geben mir auch Nachbarn einen Tipp. Ich klingele dann einfach.“
Was er bei seinen Besuchen erlebt, ist durchaus verschieden: Frauen erzählen gerne aus ihrem Leben. Bei einsamen Männer sei es schwerer, ein Gespräch zu beginnen, weil sie zurückhaltender seien. Aber dort, wo der erste Schritt ins Gespräch gelingt, da öffnen sich Menschen, beginnen zu erzählen mit ehrlichem Blick auf das eigene Leben, das Gefühl, nicht mehr so selbständig und stark zu sein wie früher, auch vor der Angst, unbemerkt in der eigenen Wohnung zu sterben. Vor allem letzteres berühre ihn sehr, sagt Sylvio Böhm, wenn Menschen sagten: „‚So habe ich mir meinen Tod nicht vorgestellt.“ Er antworte dann: „Das wird Ihnen nicht passieren. Jetzt kennen wir uns ja.“
„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Diesen Gedanken Gottes überliefert die Bibel im ersten Mosebuch. Und dann wird in wunderbaren Bildern davon erzählt, wie Gott den Menschen als Beziehungswesen geschaffen hat.. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Ich höre das so: Wir Menschen sind füreinander bestimmt. Wir brauchen einander, mal etwas weniger, mal viel mehr. Wir brauchen Menschen, die auf uns achtgeben und sich um uns sorgen. Das hält uns lebendig.
Genau das tut Sylvio Böhm, der Einsamkeitslotse, und erzählt noch von einem Besuch: „Sie war früher eine erfolgreiche Orchestermusikerin. Dann kam das Alter und sie dachte: Geige spielen ohne Zuhörer? Sinnlos! Deshalb hörte sie auf. Nach einigen Besuchen überzeugte ich sie, mir etwas vorzuspielen. Es gefiel ihr. An Heiligabend spielte sie auf dem Balkon, für die Nachbarschaft. Bald danach ging sie ins Pflegeheim, inzwischen ist sie gestorben. Das Balkonkonzert war wohl ihr letztes. Es endete mit viel Applaus.“

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  Erprobungsfall Jahreslsosung

Erprobungsfall Jahreslsosung

Cornelia Götz, Dompredigerin - 12.08.2024

„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ – so heißt es in der JL aus dem 1. Korintherbrief. Alles. Das schiebt sich dazwischen und drängelt sich vor. Behauptet sich auch in Lebensbereichen, die eigentlich nicht so viel mit Liebe zu tun haben, verlangt nach anderen Horizonten und Möglichkeiten.
Alles wird zum Erprobungsfall.
Zum Beispiel: wir diskutieren darüber, ob wir unser Büro umräumen wollen und wenn wie. Das Thema hat sich leise angebahnt und ist größer geworden – es sind jetzt viele Themen.
Es geht um Arbeitseffizienz und Wege, um Kommunikation und Gruppendynamik, neue Zeiten und andere Menschen, Gewohnheitsrechte, allzu Menschliches. Es ist spannend.
In unserem kleinen Mikrokosmos, den so unterschiedliche Menschen mit ganz verschiedenen Aufgaben und Begabungen, Erwartungen und Schmerzschwellen teilen, passiert nun, was in der großen Welt auch die Frage ist.
Was wollen wir wie machen?
Wem steht was zu? Tut es das überhaupt?
Wer muss sich wohin bewegen, damit es für alle in eine gute Richtung geht?
Was muss bleiben, weil zuviel Veränderung auf einmal dann doch in keinem Verhältnis steht oder zu teuer wird?
Was sollte bleiben, weil es immer noch sinnvoll ist?
Was kann einer in den Pool hineintun, was darf ich mir hinausnehmen?
Und dann spielen da noch Selbst- und Fremdwahrnehmung mit, gefühlte Wahrheiten – fein zu unterscheiden von wahren Gefühlen.
Wie gesagt: es ist spannend, braucht Vertrauen und Offenheit und hinterlässt eine Ahnung, was die dringend nötigen Umverteilungs- und Transformationsprozesse unserer Zeit alles mit sich bringen werden.
Das klingt nicht nach Liebe. Aber Lieblosigkeit wäre ein Prozesskiller.
Im Kleinen sieht es für mich so aus:
Chefs haben in der Regel das Privileg, im schönsten Zimmer sitzen zu dürfen – auch wenn sie vielleicht gar nicht am meisten da sind und nicht den meisten Platz brauchen. Darum hatte ich jetzt zehn Jahre lang das größte und hellste Zimmer – mit Blick auf den Domplatz.
Aber: Ich brauche das große Büro nicht so sehr wie ein gelingendes Miteinander und ein funktionierendes Büro. Wir könnten neu denken, wenn ich es in den Pool werfen würde.
Ja, ich müsste ausmisten, mich also fragen, was ich wirklich brauche.
Das ist nicht nur mit Blick auf meinen Arbeitsplatz dran. Das wäre nur ein Anfang. Eine kleine Übungseinheit für die vielen großen Themen, die uns auf den Nägeln brennen, die alle etwas mit uns zu tun haben.
Wieder meldet sich die Jahreslosung: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“. Klingt immer noch ziemlich pathetisch finde ich, alltagsfremd – aber eben auch: Da muss doch etwas gehen und wer weiß, wo es uns hinführt.
Mein Schreibtisch wird nicht auf dem Innenhof zu stehen kommen. Es könnte gut werden. Im Kleinen wie im Großen.

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  Goldlaub

Goldlaub

Henning Böger, Pfarrer - 10.08.2024

Kennen Sie das Märchen von Goldlaub? Es geht so: Goldlaub ist das Wunschkind seiner Mutter, der Königin. Dass das Mädchen in seinem Verhalten nicht den gängigen Rollenbildern entspricht, ist der Königin gleich, sie liebt ihr Kind so, wie es ist. Der König hingegen, der nach dem frühen Tod der Mutter allein für die Tochter verantwortlich ist, ist zu dieser Liebe nicht fähig. Dass Goldlaub sich wie ein Junge kleidet, Tag und Nacht draußen umherstrolcht und verschmutzt heimkehrt, missfällt ihm sehr. Darum sperrt er die Tochter in ihr Zimmer ein, lässt sie tanzen statt klettern. Und wann immer Goldlaub ihm zu schmutzig erscheint, muss das Personal das Mädchen sauber schrubben.
Schließlich gibt er sogar den Befehl, seine Tochter zu töten. Da flieht Goldlaub aus dem Schloss und lebt fortan bei sieben Weberinnen, die das Mädchen bei sich aufnehmen. Dass die Tochter statt tot zu sein nun in Sicherheit lebt und dabei glücklicher ist als je zuvor, macht den König nur noch zorniger. Immer wieder versucht er, das eigene Kind umzubringen. Nur durch den Schutz der Weberinnen überlebt Goldlaub und findet schließlich Lebensglück.
Die Erzählung von Goldlaub ist Teil der Sammlung „Märchenland für alle“, einem queeren Märchenbuch, das traditionelle Geschichten neu erzählt. Mit dem Ziel, heteronormative Erzählmuster zu brechen und verschiedenste Rollenbilder zu vermitteln. Damit jeder Mensch sich identifizieren kann, mit wem er möchte. Das Märchen von Goldlaub vermittelt zwei Erfahrungen: zum einen, wie schwer es wiegt, von anderen diskriminiert werden, weil man nicht ihrem Bild von Geschlechtlichkeit entspricht; zum anderen, dass es immer auch Menschen geben kann, die zu uns stehen, uns annehmen und unterstützen, ja dass wir immer stärker sind, wenn wir solidarisch miteinander sind.
Das passt gut zum Christopher Street Day, kurz CSD*, der heute mit einer langen Parade durch die Braunschweiger Innenstadt zieht. Laut und bunt wird es zugehen und in jedem Fall politisch mit der Forderung, Liebe, Geschlechtlichkeit und Sexualität konsequent im Plural zu denken, bunt und vielfältig eben. Aus der Magni-Gemeinde fährt dabei ein Lastenrad mit, umgebaut zum Segensrad mit einem großen Regenbogen und zahlreichen Segenswünschen an Bord zum Austeilen und Weitergeben.
Und aus dem Braunschweiger Dom, heute in Hörweite des bunten CSD-Treibens, gibt es eine Ermutigung mit auf den Weg, die uns alle stärken kann: „Du sollst so leben und lieben dürfen, wie Gott dich geschaffen hat!“​

*Informationen zum CSD 2024 auf www.csd-braunschweig.de

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  Nagasaki

Nagasaki

Cornelia Götz, Dompredigerin - 09.08.2024

Heute jährt sich der Atombombenabwurf auf Nagasaki, eine Stadt im Nordostend der Insel Kyūshū. Der Name bedeutet „Lange Spitze“. Wir würden Nagasaki vermutlich nicht kennen – bis auf diejenigen, die sich mit japanischer Geschichte befassen und wissen, dass während der Abschottung Japans im 18. und 19. Jahrhundert Kontakt mit Ausländern nur auf einer künstlichen Insel im Hafen von Nagasaki möglich war.
So war die kleine abgelegen Hafenstadt am Meer lange die einzige Verbindung Japans zur Außenwelt. Ein Vorposten – wie schon zur Zeit der historischen Seefahrt. Tabak, Brot und das Christentum fanden über Nagasaki den Weg nach Japan.
Vor dem Krieg lebten dort 200 000 Menschen. 75 000 starben am Tag des Atombombenabwurfes.
Googelt man den Namen der Stadt heute, dann stößt man auf das Deutsche Ärzteblatt. Angesicht der drohenden nuklearen Aufrüstung erinnern Mediziner an den Schrecken der Atombombe und die fürchterliche Strahlenkrankheit.
Weil es das Ärztblatt ist, geht es natürlich in wissenschaftlichen Fragestellungen darum, was atomare Verwüstung in der heutigen Zeit anrichten würde. Dafür gibt es Simulationsstudien die einer leitet, dessen Lebensthema ist, ist Prof. Masao Tomonaga.
Jahrzehntelang hat er die seelischen und gesundheitlichen Folgen des 9. August erforscht und die Hibakusha, die Überlebenden. behandelt.
Als Kind erlebte er die Detonation über Nagasaki in einer Entfernung von 2,5 km. Noch immer gibt es für das Gesamtbild keine Worte.
Und wir so oft gehen einem dann besonders Bilder unter die Haut.
Das wissen auch die Macher des Ärzteblattes:
Eines hängt im Nagasaki Atomic Bomb Museum: Ein Junge wartet geduldig am Krematorium, bis man ihm die Leiche seines Bruders abnimmt. Ohne die übermenschliche Disziplin der Bevölkerung wären Nagasaki und Hiroshima in weit größerem Chaos versunken, sagen Zeitzeugen rückblickend.
Ich schaue es an und frage mich, wenn das Menschen nicht klarmacht, dass Aufrüstung und Abschreckung nicht zum Frieden führen, was dann?
Bei Hesekiel heißt es: „Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben.“ Hoffentlich tut Gott das bald.

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  G - Gast

G - Gast

Cornelia Götz, Dompredigerin - 08.08.2024

G – Gast
Wir sind Gast auf Erden, manchmal sehr zu Hause und manchmal ganz fremd. Wir dürfen Gäste sein, wenn Gott uns seinen Tisch bereitet. Wir haben Gäste und sind es bei anderen.
In der deutschen Bibel werden die Wörter „Gast“ und Fremdling“ unterschiedslos für die Übersetzung des hebräischen „ger“ verwendet.
Gäste und Fremde kamen eher selten zum Spaß – sie waren allein oder mit ihren Familien unterwegs, um Kriegen, Hungersnöten oder Seuchen zu entkommen; manchmal musste auch einer der Blutschuld wegen fort.
Fremde und Gäste hatten deshalb den Status von Schutzbürgern mit eigenen Rechten und Pflichten.
Es war ein fein austariertes System, das Fremde und Gäste zunächst dazu verpflichtete, viele der Regelungen der Thora einzuhalten – so blieb das gesellschaftliche Gefüge stabil, denn es gab Verabredungen, die für alle gelten. Zugleich sah man, dass sie die Fremden ohne alles kamen – darum war ihnen ausdrücklich erlaubt, auf den Feldern noch einmal nachzulesen; es gab auch eine besondere Abgabe – nämlich alle drei Jahre den Zehnten der Ernte – zugunsten derer, die nicht aus eigener Kraft auf die Füße kamen.
Festtagsruhe sollten auch Fremde und Gäste halten und so respektieren, was den Israeliten heilig ist – dies aber nicht ohne auch an Festtagsfreuden teilzuhaben.
Klar und deutlich benannt war: Fremde und Gäste stehen unter besonderem Schutz. Unterdrückt sie nicht – im Gegenteil: seid ihnen gegenüber offen und liebt sie, denn ihr wart ja selbst Fremde.
So schließt sich der Kreis – wir alle sind immer wieder irgendwo fremd und zu Gast.
Am Ende wird sich daran, wie wir es mit Fremden und Gästen gehalten haben, erweisen, ob wir etwas von Gottes Gastfreundschaft verstanden haben. Am Ende wird sich ausgerechnet daran entscheiden, ob wir im Fremden den Nächsten erkannt haben, den Gott liebt, ob wir also in seinem Sinne gelebt haben.
Zuletzt: vor der Waldkapelle in dem kleinen Ort, in dem meine Großmutter lebte, stand ein Schild vor der Tür: „Wandrer kehr zur kurzen rast / ein als deines Gottes Gast / letztes Ziel auch deiner Zeit / ist ja doch die Ewigkeit.“

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  Sich verbinden

Sich verbinden

Cornelia Götz, Dompredigerin - 07.08.2024

Zu den tröstlichen und bestärkenden Gedanken gehört für mich das Wissen um die Verbundenheit im Glauben mit so vielen Menschen – denen, die vor uns waren, denen, die neben uns gehen, denen, die jünger sind und nachkommen.
Es tut gut, sich vergewissern zu können,
dass auch andere schon Psalmen gesungen haben und sich mit ihnen durch Zweifel und Klage ins Licht gebetet haben,
dass andere gelächelt haben über das Hohelied und gekaut haben an den zähen Paulusbriefen,
dass sie alle zu Weihnachten und Ostern gehofft haben, dass die Welt wirklich heiler wird und sich an jedem ersten Frühlingstag freuten, dass Gott seine Welt gut für uns eingerichtet hat,
dass sie - wie ich - dankbar waren, sich in wichtigen Momenten ihres Lebens unter seinen Segen stellen zu dürfen.
Ich finde es beruhigend, dass überall auf der Welt das Vaterunser gebetet wird und wir uns genau darin nah sind und ich bin froh, dass auch das Versöhnungsgebet aus Coventry uns mit denen verbindet, die dem Friedensgebet friedenstiftende Kraft zutrauen – inmitten all der immer gefährlicheren Konstellationen und Provokationen der Gegenwart.
All das hilft zu leben.
Das geht nicht nur mir so.
Das ist – theologisch gesprochen – das Geheimnis des Heiligen Geistes, der uns zu seiner Gemeinde verbindet. Unsichtbare Kirche.
Und es ist zutiefst menschlich.
Es verbindet und ermutigt uns, wenn wir Wesentliches teilen können.
So hat Mahatma Gandhi eine tiefe Bestärkung für seine Überzeugung, das Leiden durch Gewaltlosigkeit zu überwinden, in der Bergpredigt gefunden. Er schrieb, dass ihn diese alten Worte über die Maßen entzückten und an einen indischen Dichter erinnerten, Shamal Batt, der im 18. Jahrhundert schrieb:
„Für einen Napf Wasser gib ein reichlich Mehl;
Für einen freundlichen Gruß neige dich viele Mal;
Für einen Kupferpfennig zahle in Golde bar;
Willst du Leben gewinnen, so bringe dein Leben dar.
Worte und Tun der Weisen beachte gut;
Zehnfach erwidre, was dir einer zuliebe tut.
Der wahrhaft Edle ist sich der Einheit aller bewusst;
Selbst Böses mit Gutem vergelten ist ihm eine Lust.“
Während Gandhi also das Neue Testament entdeckte und dort Wegweisung für sich fand, entdeckte der junge Dietrich Bonhoeffer Gandhi… - so wirkt, glaube ich, durch Zeit und Raum und verbindet die guten Willens sind der, der alles in allem ist.

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  Wer verzeiht, lebt gesünder!

Wer verzeiht, lebt gesünder!

Henning Böger, Pfarrer - 06.08.2024

Verzeihen macht gesund. Das haben Forschende in den USA heraus-gefunden, die über Jahre mit Menschen gesprochen haben, denen man Unrecht getan hatte. Ihr Ergebnis lautet: Wer verzeihen konnte, fühlte sich besser, irgendwie befreiter.
Es war, als hätten sie sich selbst so etwas wie einen Stachel aus dem Fleisch gezogen. Bei dem einen ging es um Geld. Jemand hatte ihn betrogen. Als er nach einer Weile verzeihen konnte, wurden sein Kopf und seine Seele freier, heißt es in der Studie. Eine andere wurde im Büro beleidigt. Erst wollte sie vor Gericht. Doch das hätte Monate oder gar Jahre gedauert. Dann lieber selber Frieden machen, sagte sie sich und versuchte zu verzeihen. Es dauerte, aber dann schaffte sie es. Und fühlt sich jetzt viel besser. Auch einer der Forschenden selbst war betroffen von einem schweren Leid in der Familie - und einem Schuldigen an diesem Leid. Er sagt in der Studie: „Erst als ich vergeben konnte, fühlte ich mich, als bekäme ich wieder mehr Luft zum Atmen.“
Verzeihen macht gesund. Einmal kommt der etwas vorlaute Jünger Petrus zu Jesus und fragt diesen: „Meister, wie oft muss ich meinem Bruder oder meiner Schwester vergeben? Ist siebenmal genug?“ Darauf antwortet ihm Jesus: „Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal!“
Das klingt nach ziemlich viel, oder? Aber beim Vergeben geht es Jesus nicht um Zahlen oder Nachrechnen. Es geht um unser Innerste, unsere Seele - so, wie fast immer, wenn Jesus einen Rat gibt. Die Seele wird gesund beim Verzeihen. Das bohrende Gefühl eines immer neuen Aufrechnens ist vorbei: Weil du mir das angetan hast, tue ich dir jetzt das an!
Verzeihen macht gesund. Auch wenn man nicht sofort alles verzeihen kann, was andere uns antun, man kann doch immer versuchen, sich selbst etwas zu befreien, die eigene Seele leichter zu machen.
Verzeihen ist so etwas wie eine Art Selbstbefreiung von einem inneren Stachel,
schreiben die Forschenden in ihrer Studie. Die eigene Seele fühlt sich weniger belastet. Das allein schon ist ein gutes Gefühl. Wer verzeiht, lebt gesünder!

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  "Dir einfach vertrauen?"

"Dir einfach vertrauen?"

Cornelia Götz, Dompredigerin - 05.08.2024

In dem Kultfim „Jenseits von Afrika“ erzählt Sydney Pollack die Lebensgeschichte von Tanja Blixen. Gespielt in den Hauptrollen von Meryl Streep, Robert Redford und Klaus-Maria Brandauer.
Es ist nicht nur ein großes Afrikaepos, wie man es heute wahrscheinlich nicht mehr drehen würde oder dürfte, sondern auch eine komplexe Liebesgeschichte zwischen Karen Blixen und Denys George Finch Hatton. Sie klingt nach Selbstbestimmung und Freiheit, großer Liebe zwischen zwei unabhängigen Erwachsenen.
Aber es funktioniert nicht.
Untendrunter wächst mit dem Gelingen auch die Sehnsucht, mit den Leerstellen Vergewisserungsbedürftigkeit. Ja, Denys kann von ihrem Hause aus kommen und gehen wie er will. Aber es tut weh, dass er das tut.
Freiheit fühlt sich wie schmerzhafte Unverbindlichkeit an und so kommt es zu einer Szene, in der Karen dies Gefühl benennt. Sie tut es nicht direkt, sondern mit der Feststellung „Ich würde halt gern einmal gefragt werden. Würdest Du mich fragen, wenn ich verspreche, Nein zu sagen?“
Und er antwortet. „Dir einfach vertrauen?“
Sie fragt nicht.
Aber es wird ein Riss offenbar, der sich nicht mehr schließen wird.
Vielleicht, weil sie eben doch gern „ja“ gesagt hätte.
Bestimmt, weil auf einmal im Raum steht – kann man einander vertrauen? Würdest Du für mich sorgen, egal was kommt?
Ist ein „ja“ vorab und für immer, ein „ja“ auf Hoffnung hin, mehr als das Ja an jedem einzelnen Tag neu, zu dem Denys Finch Hatton bereit ist?
Karen Blixen wird das zu späte „lass mich für dich sorgen“ mit dem versprochenen „Nein“ quittieren. Und anfügen: „Ich möchte jetzt etwas wert sein“.
Diese Frage „Dir einfach vertrauen?“ fällt mir im Moment immer wieder ein.
Letzte Woche blitzte die Sturmstillungsgeschichte in den Tageslosungen auf. Jesus schläft während das Wetter aufzieht. Die Jünger schaffen es nicht, zu vertrauen, dass sie mit ihm nicht untergehen werden und wecken ihn vorwurfsvoll.
Am Samstag beim Mittagsgebet verliert Orpheus seine Eurydike. Er schafft es nicht zu vertrauen, dass sie nachkommen wird, dass Hades sie gehen lässt.
Und gestern dann Sacharja und Gottes Botschaft: „Ihr werdet nicht vertrauen, dass es möglich ist, obwohl doch bei mir nichts unmöglich ist…“.
Gott einfach vertrauen?
Wie würde es weitergehen, wen wir das täten und uns nicht nur auf uns selbst verlassen wollten – koste es was es wolle?
Über diesem Tag heute steht in den Herrnhuter Losungen ein Satz aus dem Markusevangelium. Da sieht Jesus den Zöllner Levi sitzen und sagt: „Folge mir nach“. Und er tut es.
Er vertraut einfach. Vielleicht hat er verstanden, dass Gottes „Ja“ bisher und immer gilt, und jeden Tag neu sowieso.

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  Orpheus

Orpheus

Cornelia Götz, Dompredigerin - 03.08.2024

Sie haben es gehört: Hans-Dieter Meyer-Moortgat hat Ihnen gerade die Choräle: „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ und „Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Not“ ins Ohr georgelt. Beide haben Texte aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts – auch dass eine Zeit, in der man Zuversicht brauchte, Vertrauen wagen musste.
Letzteres kann heikel sein.
Es kann bedeuten, aus der Deckung kommen zu müssen, das eigene Leben oder das eines Menschen, den man liebt, anderen in die Hände zu legen, loszulassen.
Franz Liszt hat zweihundert Jahre später dieses Thema auf seine Weise aufgenommen, in dem er Orpheus wieder so singen ließ, dass die große mythologische Figur erwachte – nachdem Christoph Willibald Gluck Orpheus in die fassliche Diesseitigkeit hatte holen wollen und aus dem antiken Liebenden einen unglücklichen Ehemann machte.
Das war zu kurz gesprungen.
Erinnern wir uns:
Orpheus, ein begnadeter Sänger und Dichter, der von Apollo für seine Heldentaten eine Lyra geschenkt bekam, leibte die Nymphe Eurydike. Allerdings: Eurydike hatte einen zweiten Verehrer: Aristaios, der Gott des Olivenanbaus und der Imkerei, der sie bedrängte. Auf der Flucht vor ihm, trat Eurydike auf eine Schlange und starb an deren Biss. Orpheus war untröstlich und folgte seiner Liebsten Lyra spielend und singend in die Unterwelt. Dort sang er für Hades und seine Frau Persephone, die tief berührt von Orpheus' Musik, eine Bitte gewährten: Er dürfe zusammen mit Eurydike den Hades verlassen. Allerdings nur dann, wenn er sich auf dem Weg hinaus nicht nach Eurydike umdrehen würde.
Er sollte dem Hades vertrauen.
Aber als seinen Aufstieg aus der Unterwelt begann und keine Schritte hinter sich hörte, hielt er es nicht aus, drehte sich um und verlor die Geliebte so für immer.
Eine Sage. Eine uralte Geschichte, weitergegeben, tausendmal erzählt und gehört. Die Liebe und die Musik rühren an und machen schier Unvorstellbares möglich – der Horizont öffnet sich ganz weit, große Kunst entsteht. Aber zuletzt sind Kleinmut und Zweifel auf der einen Seite und Selbstverliebtheit auf der anderen, größer.
Es gelingt dem großen Orpheus nicht, zu vertrauen.
Es gelingt ihm nicht, von sich selbst abzusehen.
Er hat vergessen, dass das Leben, Anfang und Ende, nicht in unserer Hand liegen, dass wir uns einem anderen verdanken, dass das Wunder des Neuanfangs Gottes Handschrift trägt – oder mit Worten des 9. Psalms, die über diesem Tag stehen:
„Auf dich hoffen, die deinen Namen kennen; denn du verlässest nicht, die dich Herr, suchen.“

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  Kind, du bist uns anvertraut

Kind, du bist uns anvertraut

Cornelia Götz, Dompredigerin - 02.08.2024

Dieser Tage führe ich – zum Glück – etliche Taufgespräche. Sie klingen ein bisschen anders als noch vor wenigen Jahren. Damals habe ich die Hoffnungen junger Eltern geteilt, dass ihre Kinder heil an Leib und Seele großwerden mögen, glücklich sind.
Jetzt werden die Fragen existentieller.
In welcher Welt werden diese Kinder leben? Wer sorgt für ihre Interessen und Perspektiven, wenn sie in unseren überalterten Gesellschaften nach und nach zur Minderheit werden? Gerade konnte man in der Süddeutschen lesen, dass selbst wenn sich alle Eltern von Minderjährigen in einem Verband zusammentäten, der immer noch einige Millionen Mitglieder kleiner wäre als der ADAC – und außerdem sicherlich nicht sonderlich homogen bei der Frage danach, was wir jetzt tun können und müssen, damit die kleinen Menschen, die wir in die Welt gesetzt haben, darin leben können.
So schauen junge Eltern um sich und sehen einen rabiaten Ressourcenverbrauch, Krieg und Terror, Aufrüstung, unglaubliche soziale Unterschiede, Kurzsichtigkeit, Gier, wehrlose Demokratie.
Sie schauen hin und spüren, dass sie mit all ihrer Kraft strampeln können und haben doch das Gefühl, dem nichts entgegensetzen zu können.
Manche sind ungeheuer erschöpft.
Das fasst mich an.
Es war und ist ja immer schon verrückt, Kinder in die Welt zu setzen.
Darum mag ich Friedrich Karl Barths Tauflied aus den früher 70ern gern, weil es so ehrlich beschreibt, wie hilflos man sich fühlen kann – wie dringend und groß die Hoffnung sein muss. Vielleicht ist es so gut, weil es aus einer Zeit stammt, die Dunkelheit noch und wieder gründlich in den Knochen hatte:
Kind, du bist uns anvertraut. / Wozu werden wir dich bringen?
Wenn du deine Wege gehst, / wessen Lieder wirst du singen?
Welche Worte wirst du sagen / und an welches Ziel dich wagen?
Kampf und Krieg zerreißt die Welt, / einer drückt den andern nieder.
Dabei zählen Macht und Geld, / Klugheit und gesunde Glieder.
Mut und Freiheit, das sind Gaben, / die wir bitter nötig haben.
Die letzte Strophe klingt fast ein bisschen naiv – wie das Pfeifen im Wald oder im dunklen Keller:
Freunde wollen wir dir sein, / sollst des Friedens Brücken bauen.
Denke nicht, du stehst allein; / kannst der Macht der Liebe trauen.
Taufen dich in Jesu Namen. / Er ist unsre Hoffnung. Amen!
Können unsere Kinder das? Der Macht der Liebe trauen? Ich will denken: ja.
Ist Jesus Christus unsere Hoffnung. Ich will das wirklich glauben. Und weiß, wie kleinmütig das klingt.
Und wieder einmal staune ich, wie treffsicher in diese Gedanken hinein die Tageslosung aus der Stumstillungsgeschichte spricht: „Fragst du nichts danach, dass wir umkommen? Und er stand auf und bedrohte den Sturm und sagte: Schweig. Verstumme! Und der Wind legte sich und es ward eine große Stille.“

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  F - Feige

F - Feige

Cornelia Götz, Dompredigerin - 01.08.2024

F – Feige
Feigen – ihre süßen Früchte locken die Fantasie, sich den Orient märchenhaft auszumalen. Der kleine Muck verzauberte den Sultan mit Hilfe von Feigen, Sindbad ruhte im Schatten der Feigenbäume aus.
Wo Feigen sind, sind auch alte Geschichten.
Kein Wunder, denn Feigen gehören zu den ältesten Nutzpflanzen überhaupt.
Sie ist die erste namentlich erwähnte Pflanze der Bibel – Adam und Eva bedienen sich ihrer Blätter, um ihre Scham zu bedecken. Später wird erzählt, wie wichtig diese Früchte waren, weil man sie frisch essen aber eben auch für obstlose Zeit trocknen und lagern konnte.
Feigenbäume tragen mehrfach im Jahr – zunächst ungenießbare Vorfrüchte, dann folgen Ende Mai die herrlichen Frühfeigen. Im Spätsommer schließlich werden die Spätfeigen geerntet. So taugt die Eigenart des Feigenbaums gute und schlechte Früchte zu tragen, für die symbolische Unterscheidung der einen und der anderen während der Zeit des babylonischen Exils. Die schlichte Menge der Früchte – bei einem einzigen Baum konnten es 100kg sein – erzählt hingegen von Wohlstand und Fülle, von Gottes reichem Segen.
Wer in Ruhe unter seinem Feigenbaum sitzen und von seinen Früchten essen kann, der lebt in Frieden.
Kein Wunder, dass es den Paradiesbaum auch im verheißenen Land geben sollte, denn Feigen gehören neben Öl und Wein, Honig und Granatäpfeln, Weizen und Gerste zu den sieben Früchten Israels.
Feigenpflaster halfen schließlich bei Geschwüren und auch das Holz der Feige war eine Kostbarkeit – im Spätmittelalter diente es als Malgrund.
Im Neuen Testament wird der Feigenbaum zum Zeichen.
Wie wir an den austreibenden Blättern erkennen können, dass der Sommer kommt – und vielleicht haben Sie ja ein Feigenbäumchen und schon einmal erlebt, mit welcher Wucht und Geschwindigkeit das passiert - so können wir auch erkennen, wenn Gottes Reich unter uns anbricht.
Es wird unübersehbar sein.
Zuletzt und vielleicht am einprägsamsten ist die Geschichte aus dem Lukasevangelium vom Feigenbaum, der drei Jahre lang keine Früchte trägt. Er scheint unnütz und soll darum umgehauen werden. Abe der Gärtner erbittet eine Gnadenfrist, eine Chance, eine Hoffnung – und bekommt sie.

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