Internationaler Tag gegen Rassismus
Internationaler Tag gegen Rassismus
Heiko Frubrich, Prädikant - 21.03.2023
„Unsere Gesellschaft kann Rassismus überwinden. Erfreulich sind die seit Jahren wachsenden Aktivitäten rund um den Internationalen Tag gegen Rassismus. Das ist ein beeindruckendes Zeichen zivilgesellschaftlichen Engagements.“ Diese Worte stammen von Jürgen Micksch, evangelischer Pfarrer und Vorstand der Stiftung gegen Rassismus.
Heute ist der Internationale Tag gegen Rassismus. Er wurde 1966 von den Vereinten Nationen ausgerufen und auf den 21. März gelegt. Sechs Jahre zuvor, am 21. März 1960 hatten über 5.000 Menschen in der Stadt Sharpeville in Südafrika friedlich gegen die diskriminierenden Passgesetze des seinerzeitigen Apartheit-Regimes demonstriert. Die mit großer Brutalität gegen die friedlichen Demonstranten eingesetzte Polizei erschoss 69 Menschen, über 180 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Als „Massaker von Sharpeville“ ging dieses Blutbad in die Geschichte ein.
Viele Jahrzehnte lang gab in unserem Land eine Stimmung und einen Grundkonsens, dass nach den Erfahrungen aus der NS-Zeit das Thema Rassismus in Deutschland ein für alle Mal erledigt wäre. Und tatsächlich gab es so gut wie keine rassistisch motivierten Übergriffe. Bedauerlicherweise hat sich das massiv geändert. Die Angst vor einer drohenden Überfremdung wird insbesondere aus der rechten Ecke des politischen Spektrums geschürt und selbst Parlamentsabgeordnete aus den Landtagen und dem Bundestag scheuen sich nicht davor, ganz offen mit Neonazis gegen Wohnheime für Geflüchtete zu demonstrieren und dabei lauthals Hassparolen gegen diese Menschen aber auch gegen Politikerinnen und Politiker zu skandieren. Die Partei, der sie angehören, sitzt in den Parlamenten passenderweise stets am rechten Rand des Plenums.
Und es bewahrheitet sich vor unser aller Augen die alte Regel, dass aus Gedanken Worte werden und aus diesen Worten Taten. Und diese Taten kosten mittlerweile auch in unserem Land Menschenleben. Erinnern wir uns an die Toten von Hanau, an die Toten von Halle, an den ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten. Ich könnte diese Reihe fortsetzen.
Das Motto des diesjährigen Tages gegen Rassismus lautet: „Misch Dich ein!“ Ich will niemanden für irgendetwas vereinnahmen, aber diese Worte könnten auch der Bibel entstammen, denn sie spiegeln das wieder, was uns Jesus Christus vorgelebt hat. Er hat sich eingemischt, wo Menschenwürde und Menschenrechte gefährdet waren. Und er hat dabei immer die Menschen gesehen und nur die Menschen, unabhängig davon, wo sie herkamen, welchen Glauben sie hatten oder welchen gesellschaftlichen Status. All das war ihm vollkommen egal.
Und so ist auch jegliche Form von Rassismus, gegen wen sie sich auch immer richten mag, mit christlichen Werten absolut unvereinbar. Gottes Liebe ist universell. Sie gilt jeder und jedem. Oder wie Paulus es im Galaterbrief schreibt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Amen.
Download als PDF-Datei DER GEIST DER KRAFT, DER LIEBE UND DER BESONNENHEIT
DER GEIST DER KRAFT, DER LIEBE UND DER BESONNENHEIT
Heiko Frubrich, Prädikant - 20.03.2023
„Herzlich tut mich verlangen nach einem selgen End, weil ich hier bin umfangen mit Trübsal und Elend. Ich hab Lust abzuscheiden von dieser argen Welt, sehn mich nach ewgen Freuden: O Jesu, komm nur bald.“
So lautet die erste Strophe des Chorals, dessen Melodie uns heute in unterschiedlichen Bearbeitungen durch den Abendsegen begleitet. Als Christoph Knoll den Text 1599 verfasste, tobte die Pest in Deutschland. Das erklärt die Düsternis, die die Worte ausstrahlen.
Die Pest ist seit Jahrhunderten bei uns kein Thema mehr und dennoch kann ich verstehen, dass Menschen in Lebenssituationen geraten, in denen sie so denken, wie Knoll es in Worte gefasst hat. Ich hab Lust abzuscheiden von dieser argen Welt, sehn mich nach ewgen Freuden: o Jesu, komm nur bald.
Ich denke an die Menschen in Luhansk, Mariupol oder Donezk, die in den Trümmern ihrer Städte oft ohne Heizung und Strom den Winter überstehen mussten, oft in Angst um Familienmitglieder, die an der Front gegen die russische Armee kämpfen müssen. Ich denke an die Menschen, die in den Erdbebenregionen obdachlos geworden sind, die liebe Menschen verloren haben und die nun noch von einer Flutkatastrophe bedroht werden. Ich hab Lust abzuscheiden von dieser argen Welt. Ja, ich kann verstehen, dass irgendwann die Lebenskraft und der Lebensmut einfach nicht mehr ausreichen, um sich all dem zuversichtlich zu stellen.
Und wir? Ohne Frage treffen auch uns in unserem Leben Schicksalsschläge, die nur schwer zu verkraften und ebenso schwer zu verstehen sind. Und ja, es mag Situationen geben, die tatsächlich so ausweglos erscheinen oder es auch sind, dass wir unser Lebensende herbeisehnen und Jesus bitten, uns zu sich zu nehmen.
Doch grundsätzlich darf eine solche Haltung nicht dazu führen, dass wir vergessen, dass Gott mit uns etwas vor hat auf dieser Welt. Jesus hat keine Hände, nur unsere Hände, so heißt es in einem alten Gebet. Er kann und will durch uns handeln, will durch uns diese Welt zu einem besseren Ort machen, als sie es derzeit ist. Ich finde, dass wir uns dieser Aufgabe erst einmal stellen sollten, jeder und jede so gut es eben geht.
„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken!“ Das ist Jesu Einladung an uns. Und bevor wir resigniert die Hände in den Schoß legen, sollten wir diese Einladung annehmen und bei ihm und in unserem Glauben Kraft und Zuversicht suchen.
Denn schon Paulus wusste: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und Besonnenheit!“ Daran dürfen wir uns erinnern – auch und gerade, wenn uns unser Lebensweg mal wieder über ruppiges Kopfsteinpflaster führt. Amen.
Download als PDF-Datei Wer nur den lieben Gott lässt walten…
Wer nur den lieben Gott lässt walten…
Heiko Frubrich, Prädikant - 18.03.2023
Vor kurzem wurden die aktuellen Zahlen über die Mitgliederentwicklung der beiden großen Kirchen in Deutschland veröffentlicht und erwartungsgemäß sahen diese aus kirchlicher Sicht nicht besonders freundlich aus. Die Zahl der Austritte blieb auf hohem Niveau, teilweise gab es wohl auch Nachholeffekte aus der Coronazeit, weil mach Austrittswilliger oder manch Austrittswillige ihre Vorhaben mangels Termin beim Standesamt nicht umsetzen konnten. Wie dem auch sei: Auch in 2022 sind wir weniger geworden.
Was macht man nun als Kirche, was macht man nun als überzeugter Christenmensch mit diesen Zahlen? Nun ganz wichtig ist natürlich die Frage nach den Gründen, die Frage nach eigenen Fehlern und Schwachstellen und die Frage nach Verbesserungspotentialen. Sind wir als Kirche nah genug bei den Menschen? Hört man uns überhaupt noch zu? Erreichen wir auch jene, die nicht regelmäßig in unsere Gottesdienste kommen und ist der Gottesdienst überhaupt noch die zentrale Lebensäußerung der Kirche? Was erwartet man von uns und können wir diese Erwartungshaltungen erfüllen, ohne dabei das Evangelium aus dem Blick zu verlieren?
Es ist nicht so ganz banal, umfassende Antworten auf diese Fragen zu finden und es ist noch weniger banal, aus den Antworten die richtigen Schlüsse zu ziehen. Hierbei gilt es, einen Mittelweg zu finden zwischen den aus Resignation in den Schoß gelegten Händen auf der einen Seite und einem aus Panik erwachsendem blinden Aktionismus auf der anderen Seite. Das ist nicht immer so ganz leicht.
Lukas Lattau wird gleich über eine Choralmelodie improvisieren und der dazugehörige Choraltext ist, wie ich finde, im beschriebenen aber auch in anderen Entscheidungsdilemmata ein wertvoller Ratgeber. „Wer nur den lieben Gott lässt walten, den wir er wunderbar erhalten“, das lehrt uns die erste Strophe.
Gott walten zu lassen, heißt nun nicht etwa, dass wir damit komplett raus sind aus der Nummer – ganz im Gegenteil. Wir sollen uns sehr wohl engagieren und einbringen. „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das deine nur getreu“, schreibt uns der Verfasser Georg Neumark in unser Pflichtenheft. Doch er fügt hinzu, dass wir bei allem, was wir tun und lassen, unsere optimistische Grundhaltung nicht verlieren sollen. „Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht“, so heißt es weiter im Choraltext.
Schlussendlich sind wir Christinnen und Christen nicht dafür verantwortlich, dass sich der Glaube unter den Menschen vermehrt. Daran würden wir uns auch hoffnungslos überheben. Es ist einzig und allein Gott selbst, der Menschen zum Glauben führt, ihn verschenkt und darüber entscheidet, wie er in dieser Welt wirkt.
„Man halte nur ein wenig stille und sei doch in sich selbst vergnügt, wie unsres Gottes Gnadenwille, wie sein Allwissenheit es fügt.“ Ich finde es wohltuend entlastend, dass wir uns nicht um alles selber kümmern müssen. Wir dürfen sicher sein, dass Gott uns seine Hand auf die Schulter legt und uns freundlich sagt: „Mach, so gut du es kannst. Aber vergiss nicht: Ich bin ja auch noch da!“ Amen.
Download als PDF-Datei Beziehungspflege
Beziehungspflege
Heiko Frubrich, Prädikant - 17.03.2023
Es gibt zwei große Buß- und Fastenzeiten im Kirchenjahr: den Advent vor Weihnachten und die Passionswochen vor Ostern. Der Advent hat diesen Charakter allerdings seit geraumer Zeit vollkommen verloren. Er ist in einem Leben, das sich nicht hinter Klostermauern abspielt so von Aktivitäten und Festivitäten geprägt wie kaum eine andere Zeit im Jahr. Und so bleiben uns tatsächlich nur die sieben Wochen vor Ostern übrig, in denen wir, wenn man so will, „in Ruhe“ das leben und erleben können, was eine Buß- und Fastenzeit ausmacht.
Buße zu tun, bedeutet in diesem Zusammenhang nun nicht, in irgendeiner Form bestraft zu werden, wie es Worte wie zum Beispiel „Bußgeld“ suggerieren könnten. Büßen im christlichen Sinne bedeutet eher, sich selbst, das eigene Verhalten und das eigene Wertesystem auf den Prüfstand zu stellen und konstruktiv kritisch zu hinterfragen. Und dabei soll auch unser Verhältnis zum Glauben und zu Gott nicht außen vor bleiben.
Und ich finde es gut evangelisch, nicht nur auf das zu schauen, was bei uns nicht so toll gelaufen ist, sondern durchaus auch Fragen an Gott zu richten. Ja, Gottes Friede, sein Tun und Lassen und Wirken ist höher als all unsere menschliche Vernunft, das hat schon Paulus erkannt. Aber Fragen an Gott zu richten, ist dennoch erlaubt und absolut sinnvoll, denn wenn wir versuchen, all das, was wir auf dem Herzen haben, allein mit uns selbst auszumachen, werden wir scheitern. Dazu gibt es das Gebet und das sollten wir dann auch nutzen.
Wie sollten die Menschen in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt mit Gott ins Reine kommen, wenn sie ihm gegenüber ihr Unverständnis über ihr eigenes Schicksal nicht mitteilen dürften. Wie schwer wäre es, wenn wir mit Gott nicht auch hadern dürften, weil wir nicht verstehen, wenn uns eine schwere Krankheit trifft oder wir einen geliebten Menschen verlieren.
Gott ist uns treu, das steht außer Frage, doch er selbst räumt ein, dass er sich im Zorn durchaus für einen kurzen Moment von uns Menschen abgewandt und uns für einen kleinen Augenblick verlassen hat. Und wenn wir uns von ihm verlassen fühlen, darf er das wissen.
Für mich sind die Wochen vor Ostern eine gute Zeit für eine solche Beziehungspflege, denn nichts ist schlimmer als ein still vor sich hin gärendes Misstrauen. Das sollten wir in jedem Fall klären – gegenüber unseren Mitmenschen genauso wie gegenüber Gott.
Und wir dürfen uns bei alledem an seine Zusage erinnern, die über allem steht und die lautet: „Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.“ Amen.
Download als PDF-Datei Paul ist wieder da!
Paul ist wieder da!
Heiko Frubrich, Prädikant - 16.03.2023
Paul ist wieder da! Er sitzt in der Sonne auf seinem angestammten Platz und macht einen zufriedenen Eindruck. Ein paar Monate war er weg, hatte, wie jedes Jahr bevor der Winter kommt, wärmere Gefilde aufgesucht. Nun ist er zurück und alle, die ihn sehen, wissen, dass es nun bald wieder Frühling werden wird.
Paul ist einer von mehreren Störchen, die in meinem Heimatort Wendeburg leben. Er hat sein Nest hoch über den Dächern des Ortes und zaubert bei allen, die vorbeikommen, ein Lächeln ins Gesicht. Er ist tatsächlich Dorfgespräch. Die Nachricht über seine Rückkehr verbreitet sich wie ein Lauffeuer, sie ist Gesprächsthema im Wartezimmer und in den Schlagen an den Supermarktkassen. Paul ist wieder da!
Bei mir löst seine Rückkehr mehr aus als nur Vorfreude auf den Frühling. Für mich ist es jedes Mal ein kleines Wunder, was sich dort vollzieht. Denn ich weiß, dass Paul eine Reise von möglicherweise 10.000 Kilometern hinter sich hat und treffsicher aus Zentral- oder Südafrika kommend sein Nest in Wendeburg wiedergefunden hat – ohne Landkarte, ohne Navi, ohne die Möglichkeit, jemanden nach dem Weg zu fragen.
Im 1. Buch Mose heißt es: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Das verspricht uns Gott höchstpersönlich. In vielerlei Hinsicht wird dieses Versprechen erlebbar und eben auch darin, dass die Störche wieder zu uns zurückkommen.
Es gibt Kostanten in dieser Welt und in unserem Leben, auf die wir uns verlassen können. Es gibt Kostanten, die waren, die sind und die bleiben, völlig unabhängig davon, was in dieser Welt und in unserem Leben passiert. Und das ist auch gut so. Wir werden uns auch in diesem Jahr an der wiedererwachenden Natur freuen dürfen. Auch in der Ukraine und in den Erdbebengebieten in der Türkei und in Syrien werden, so wie in Deutschland im Ahrtal, die Bäume wieder grün werden, die Blumen wieder blühen und die Frühjahrssonne die geschundene Erde und die verzweifelten Menschen wärmen.
Und es wird Augenblicke geben, in denen trotz allem Leid und trotz aller Trauer Gottes Gegenwart spürbar und erlebbar sein wird. Denn so hat es uns sein Sohn zugesagt: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Darauf dürfen wir uns verlassen. Amen.
Download als PDF-Datei Vertrauen wagen!
Vertrauen wagen!
Heiko Frubrich, Prädikant - 15.03.2023
Wir sind mittendrin in der Passionszeit, zwischen den Sonntagen Okuli und Laetare. In dreieinhalb Wochen ist Ostern, das Fest, auf das wir in diesen Tagen und Wochen hinleben. Doch bis es soweit ist, kommen wir nicht umhin, uns intensiv mit Jesu Leiden und Sterben auseinanderzusetzen. Und diese Auseinandersetzung wirft zumindest bei mir immer wieder Fragen auf und rüttelt mitunter kräftig an meinem Gottesbild.
Warum all diese Grausamkeiten? Warum dieses unsägliche Leiden und dieses so qualvolle Sterben? „Wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten.“ So heiß es im 103. Psalm. Aber hat Gott sich seinem Sohn gegenüber wirklich als barmherziger Vater gezeigt? Er lässt ihn demütigen, foltern und ermorden. Ganz ehrlich: Von einem Vater erwarte ich irgendwie mehr Fürsorge. Warum all das?
Eine Antwort ist schwer zu finden. Ich will es dennoch versuchen. Ich glaube, dass es genau so sein musste, weil Leben eben auch so sein kann. Gott sei Dank ist es nicht bei uns allen so dramatisch und so grausam wie bei Jesus Christus. Doch kein Mensch wird nur in vollkommenem Glück und tiefer Zufriedenheit leben, um dann kerngesund und hundertjährig sanft und selig zu sterben. So funktioniert Leben nicht.
Die Passionszeit führt uns alljährlich vor Augen, wozu Menschen fähig sind und dass sie in ihrem Größenwahn und ihrer Machtbesessenheit noch nicht einmal vor Gott selbst zurückschrecken. Und der diesen Gewaltexzessen ausgesetzte Jesus Christus zeigt uns, dass selbst in den scheinbar ausweglosesten Situationen unser Gottvertrauen nicht enttäuscht werden wird. Denn am Ende allen Leidens und am Ende aller Dunkelheit leuchtet das Licht des Ostermorgens auf – gegen alle menschliche Vernunft, gegen alle menschliche Erwartungshaltungshaltung, gegen alle Verzweiflung.
Gott begleitet seinen Sohn durch dessen Leid. Er erspart es ihm nicht, aber er lässt ihn nicht allein, sondern trägt ihn hindurch. Und Jesus vertraut darauf. Nur so kann er die Kraft und den Mut finden, all das überhaupt auf sich zu nehmen. Er hätte genug Gelegenheiten gehabt, es von sich abzuwenden. Ein Widerruf seiner Aussagen vor dem Hohen Rat in Jerusalem hätte gereicht und er hätte als freier Mann nach Hause gehen und dort ein ruhiges Leben führen können. Doch das tut er nicht, denn er weiß, dass sein Weg ein anderer ist und er vertraut darauf, dass es am Ende gut werden wird.
So zu vertrauen, lädt er uns ein. Schaut auf mich, sagt er, und seht, wie ich getragen wurde – hinein in eine wunderbare Zukunft. Gott war da für seinen Sohn und er ist da für Sie und für Euch und für mich – gestern, heute und allezeit und in Ewigkeit. Amen.
Download als PDF-Datei Keine Kompromisse!
Keine Kompromisse!
Heiko Frubrich, Prädikant - 13.03.2023
Die Welt ist bunt und wir Menschen sind es auch. Damit meine ich jetzt gar nicht mal die unterschiedlichen Hautfarben, die es gibt, sondern vielmehr den Umstand, dass es unter den mittlerweile rund acht Milliarden Menschen keine zwei gibt, die in Aussehen, Verhalten und Charakter vollkommen gleich sind. Diese Vielfalt ist großartig und im wahrsten Sinne des Wortes wunderbar, doch sie birgt auch echte Herausforderungen in sich.
Denn so unterschiedliche wir Menschen sind, so unterschiedlich sind auch unsere Gedanken, unsere Wünsche und unsere Meinungen. Und da wir nun irgendwie miteinander klarkommen müssen auf dieser Welt, brauchen wir Kompromisse. Die finden sich mal besser und mal schlechter und bedauerlicherweise greift manch einer auch zu gewalttätigem Verhalten, um deutlich zu machen, dass seine Position und seine Ziele die einzig richtigen sind.
Das führt zu Stress, das führt zu Krieg, das führt zu Unterdrückung und es ist ein Zeichen, dass wir Menschen hier deutlich hinter unseren Möglichkeiten zurückgeblieben sind, denn zum Kompromiss fähig sind wir alle sehr wohl.
Doch es gibt offenbar auch Themen, bei denen Kompromissfähigkeit eher fehl am Platz zu sein scheint. Über dieser Woche heißt es: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ Von Jesus Christus stammen diese deutlichen Worte. Von irgendwelchen Kompromissen höre ich darin aber auch so gar nichts!
Die Hand an den Pflug zu legen, bedeutet, sich für Jesu Nachfolge zu entscheiden. Das wird im Zusammenhang mit diesem Zitat aus dem Lukasevangelium deutlich. Und wenn wir diesen Schritt gegangen sind, dann dürfen wir noch nicht einmal einen kleinen Blick zurück auf unser altes Leben werfen. Da ist nicht etwa die Rede von einer Pause am Pflug, von einem freien Wochenende oder gar einem ausgedehnten Urlaub. Nein, es geht nur um einen kurzen Blick zurück. Und selbst der ist nicht erlaubt.
Werden wir da in irgendetwas hineingezwungen, was uns Angst machen sollte? Droht hier eine massive Einschränkung unserer persönlichen Freiheit und das auch noch von Jesus Christus höchstpersönlich? Nein, so ist es nicht. Ich verstehe das Bibelwort so, dass Jesus uns sagen will: Bleibt fokussiert! Wenn ihr euch für ein Leben im Glauben entschieden habt, dann ist das eine lebensverändernde Entscheidung, die sich nicht wie eine Glühbirne an- und wieder ausschalten lässt.
Und ich finde, dass er recht hat. Denn wenn wir uns entschieden haben, nach christlichen Werten zu leben, dann ist das eine Entscheidung, die immer gilt. Es wird nicht funktionieren, christliches Leben nur am Sonntagvormittag im Gottesdienst zu praktizieren und den Rest der Woche nicht. Das wäre ein fauler Kompromiss, mit dem man, wenn man es ernst meint, nicht wird leben können. Davor will uns Jesus warnen und das ist schon irgendwie ein feiner Zug von ihm. Amen.
Download als PDF-Datei Kyrie - Glück - Kyrie
Kyrie - Glück - Kyrie
Cornelia Götz, Dompredigerin - 11.03.2023
Samstagmittag in der Passionszeit. Von der Orgel klingen „Kyrie“ rufen. „Herr erbarme Dich“.
Erbarme Dich auf der Höhe des Tages, mitten im Leben, irgendwo in der Zeit - immer auch auf dem Weg nach Golgatha.
„Erbarme Dich.“
In diesem kalten Frühjahr, im Unfrieden der Welt, in unserem Beharren auf Wohlstand und Sicherheit, in unserer Ignoranz mit Blick auf alle die, die die Ungerechtigkeit nicht genießen sondern erleiden.
„Kyrie!“
Der Ruf erklingt während Jesus Christus inmitten vieler Menschen und doch ganz und gar einsam den Weg zuende geht, der uns für alle Zeit der Schuldfrage entheben wird - nicht aber der Möglichkeit, diese Welt besser zu machen, menschenfreundlicher.
„Kyrie!“ Erbarme Dich rufen wir. Lass uns nicht ins Leere laufen. Lass uns Leben nicht sinnlos vergehen, nicht lieblos, nicht voller Gleichgültigkeit oder ohnmächtiger Resignation.
„Kyrie!“
In der Liturgie unserer sonntäglichen Gottesdienste folgt auf das Kyrie ein „Wort der Güte und der Gnade Gottes“ - eine Antwort, eine Vergewisserung, gehört zu werden. Heute, am Samstag, kommt es aus den Herrnhuter Losungen. Über diesem Tag heißt es aus dem 5. Buch Mose:
„Der Herr, dein Gott, wird dir Glück geben zu allen Werken Deiner Hände.“
Es sind Worte, die fast wie ein Testament klingen.
Als Nächstes wird Mose einen Nachfolger bestimmen.
Glück, Gelingen, Segen - verheißt uns Gott. Nicht im unverfügbaren Fließen, sondern dem Werk unserer Hände. Es wird nicht umsonst sein, wenn wir etwas versuchen, wenn wir handeln, wenn wir arbeiten. Gott wird Segen drauflegen. Glück.
Vielleicht schrieb Hilde Domin deshalb:
„Schöner sind die Gedichte des Glücks /
Wie die Blüte schöner ist als der Stengel / der sie doch treibt / sind schöner die Gedichte des Glücks.
Download als PDF-Datei Fallen
Fallen
Cornelia Götz, Dompredigerin - 10.03.2023
Stella Maris, der jüngste Roman des amerikanischen Autors Cormac McCarty, ist das Zwiegespräch einer genialen Mathematikerin und ihres Therapeuten. Sie hat sich mit einem Berg Bargeld selbst eingewiesen, weil sie die Grenzen des Erkennbaren in den Wahnsinn treiben - oder weil sich das Leben der Erkennbarkeit entzieht?
Es ist jedenfalls weit mehr als ein Gespräch über Mathematik und logisches Denken; es geht um Sehnsucht und Trauer, Gott und Wahrheit, vertane Chancen - und weil das alle betrifft, weiß man auch nie genau, wer spricht.
Gegen Ende des Buches geht es um das Sterben, genauer die Selbsttötung.
Die Mathematikerin erzählt, dass sie überlegt habe, ins Wasser zu gehen - aber sie glaubt, dass sie es nicht schaffen würde, nicht gegen das Ertrinken anzukämpfen, denn so sagt sie:
„Die Panik ist stärker als der Verstand. Wir haben sie mit Ratten gemeinsam. Man könnte meinen, die Angst vor dem Fallen ist ebenfalls etwas Primitives, aber Bergsteiger, die in den, wie sie glaubten, sicheren Tod gestürzt sind, berichten übereinstimmend von Hinnahme und innerer Ruhe. Wie kommt das? - Ich weiß es nicht. - Ich glaube, weil sie keine Entscheidung treffen mussten.“
Diese Stelle geht mir nach. So vieles ist nicht an uns.
„Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand“ klingt dann an; vielleicht auch das Einverständnis der Maria „mir geschehe wie Du gesagt hast“ oder Jesu Ringen in Gethsemane: „nicht mein Wille geschehe sondern deiner.“
Wohlgemerkt: das Buch ist keine Anleitung zum Selbstmord. Beide wissen um menschliche Grenzen, die quälen ja so und entlasten auch, denn wir können unserem Leben keine Stunde dazu tun oder wegnehmen.
Dieses Gespräch ist nicht nur ein Ringen um Verstehen, sondern um das Leben und um das Loslassen.
Über diesem Tag heute heißt es aus dem 1. Petrusbrief: „All eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch.“ Alle. Lass los. Lass dich fallen. In Gottes Hand.
Hand in Hand endet auch das Buch.
Download als PDF-Datei Unilateralismus
Unilateralismus
Cornelia Götz, Dompredigerin - 08.03.2023
Vor vierzig Jahren schrieb Dorothee Sölle in „Aufrüstung tötet auch ohne Krieg“, dass sie selbst in den Jahren nach dem NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 den wichtigsten gedanklichen Fortschritt darin erzielt habe, den Bilateralismus zugunsten des Unilateralismus aufzugeben - also nicht mehr von einem Modell der Beidseitigkeit her zu denken, sondern radikal einseitig zu werden.
Jedwede Beidseitigkeit in der Friedensfrage, also jedwedes abwechselnde Abrüsten oder Verhandeln, bleibt nach ihrer Meinung solange ein Deal, ein Geschäft, wie all das nicht von einer Seite aufgebrochen wird. Mitten im Wettrüsten des kalten Krieges schloss sie: „Ich glaube nicht, dass Wahnsinn, wenn man ihn zu zweit geordnet und verabredet begeht, Vernunft wird.“
Um wirklich einen Schritt in Richtung Frieden zu schaffen, müsse man einseitig handeln und die Logik von Geschäftabsprachen, Verhandlungen, Rücksichten durchbrechen.
Wenn es existentiell wird, handeln wir notwendig einseitig. Wir glauben und entscheiden je für uns, ob wir uns an Gott halten. Ich spreche und entscheide da für mich – weil es eine existentielle Sache ist.
Auch Frieden ist eine existentielle Sache - also sollten wir uns auch da einseitig bewegen. Die Einwände nimmt Dorothee Sölle selbst vorweg: ja, sie höre, das funktioniere nicht, das sei naiv, das sei eben zu einseitig.
Aber beidseitiges Verhandeln und Wandeln, Auf- und Abrüsten habe wohin geführt? Und dann folgt eine düstere Beschreibung des Jahres 2000.
Lesend gerate einmal ich mehr in Ratlosigkeit.
Einseitig nichts tun? Sich einseitig nicht wehren?
Für den Krieg in der Ukraine wage ich das nicht zu denken. Ich müsste es ja von den Menschen in der Ukraine erwarten. Unmöglich. Auch deshalb, weil ich Einseitigkeit auch in den Konflikten meiner kleinen Kreise nicht für denkbar halte. Bewegst Du Dich nicht, tue ich es auch nicht. Und wenn, dann meistens nur, wenn die Augenhöhe verlasse.
So frisst sich alles fest. Frisst sich so alles fest?
Hat Gott darum „einseitig gehandelt habe als er anfing, ein waffenloser, ein verwundbarer, ein Mensch zu werden.“ Ist er daran gestorben? Oder dafür?
Download als PDF-Datei Pizza, Eis & Elternliebe
Pizza, Eis & Elternliebe
Henning Böger, Pfarrer - 07.03.2023
Im US-Bundesstaat Michigan sitzt ein Vater abends auf dem Sofa und schaut fern. Währenddessen spielt sein Sohn, sechs Jahre alt, mit Papas Handy im Kinderzimmer. Nach einer halben Stunde etwa klingelt es an der Haustür: Ein Bringdienst liefert Pizza, die der Papa verwundert entgegennimmt. Fünf Minuten später klingelt es wieder: Ein Lieferdienst bringt Hähnchen. Und so geht es eine Weile weiter. Es klingelt und jemand liefert: Sandwiches, Käsepommes und jede Menge Eis. Schließlich stapelt sich Essen für rund 1000 Dollar im Hausflur.
Der Vater ist fassungslos, er hat all das nicht bestellt. Dann fällt der Groschen: Sein Sohn ordert nach Lust und Laune Pizza, Eis und Pommes, weil er Hunger hat – und Papas Telefon zur Hand. Ja, sagt der Vater später zu einer Journalistin, sein Sohn sei für sein Alter sehr interessiert an technischen Dingen und augenscheinlich auch nicht unbegabt im Umgang mit ihnen.
Eine feine Geschichte, in der man das Wichtigste nur ganz am Rande erfährt: Nein, geschimpft habe er nicht, sagt der Vater. Stattdessen lädt die Familie die halbe Nachbarschaft spontan zum Essen ein. Davon gibt es jetzt ja reichlich, ein echtes Festmahl. Anschließend muss der Sohn sein Sparschwein öffnen. Einen Dollar soll er für jeden Karton mit Essen bezahlen. Das ist eher symbolisch, auch wenn es den Jungen bei seinem Ersparten empfindlich trifft.
So sollte es sein: Es gibt etwas Strafe, ja, aber vielmehr gibt es etwas anderes: Elternliebe! Jeder, der Kinder und Enkel ins Leben begleitet, weiß das im Grunde: Was nützen noch Vorwürfe, wenn das Problem schon längst in der Welt ist? Wer schuldig ist und das auch einsieht, braucht Hilfe und Unterstützung statt Vorwürfen und Schimpftiraden. Mit Schlössern sichert man Telefone, aber keine Herzen.
Ähnlich erzählt es Jesus in der Bibel: Da geht ein Sohn mit seinem ganzen Erbe aus dem Haus und bringt das viele Geld durch. Später, als er nichts mehr hat und nicht mehr weiterweiß, kehrt er voller Reue nach Hause zurück. Dort erwartet ihn kein einziger Vorwurf, erzählt Jesus. Stattdessen sind die Türen zum elterlichen Haus und Herzen weit geöffnet. Ich verstehe das so: Einen Menschen aufzubauen, das heißt auch, ihn trotz seiner Fehler lieben zu können. Nur so können wir zu besseren Menschen werden.
Download als PDF-Datei Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?
Heiko Frubrich, Prädikant - 06.03.2023
„Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an einem Ort, dass man das Trockene sehe. Und es geschah so. Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer. Und Gott sah, dass es gut war.“ Worte aus der Schöpfungsgeschichte im ersten Buch der Bibel. Ich war bis gestern ein paar Tage auf Helgoland und finde, dass man dort besonders deutlich und greifbar erleben kann, was diese Worte bedeuten. Die roten Felsen des Oberlandes fallen steil in die Nordsee ab, Erde und Meer sind scharf abgegrenzt, ohne Übergang, das eine endet so abrupt wie das andere beginnt.
Die Insel beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue. Und wenn ich an der Nordwestspitze stehe und aufs Meer in den Sonnenuntergang schaue, habe ich eine leise Idee davon, was Ewigkeit bedeutet. Vieles relativiert sich dort draußen und auch der Blick auf mich selbst wird ein anderer. Denn Gottes Schöpfung zeigt sich dort einerseits erlebbar unbeeindruckt von uns Menschen. Andererseits offenbart sich aber auch, welch ein wunderbares Geschenk diese Schöpfung ist.
„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ So heißt es im 8. Psalm. Und ja, diese Frage drängt sich geradezu auf, wenn man dort draußen im strammen Nordwestwind steht. Denn all das, was dort zu sehen und spüren und zu erleben ist, braucht uns Menschen nicht. Es ist wunderbar und schön und ewig auch ohne uns, einfach aus sich heraus.
Und doch hat Gott uns hineingesetzt in all das und hat es uns geschenkt. Es ist für mich eine große Gnade, die mir an diesem Ort besonders bewusst wird. Und sie verdeutlicht mir, dass Gott eine Beziehung haben will zu jeder und jedem einzelnen von uns. Denn die Kraft des Windes, das Feuerwerk an Farben der untergehenden Sonne und die unendliche Weite des Meeres, sie werden nicht kleiner, wenn wir sie mit anderen teilen. Für jeden, der da ist, gibt es 100%.
In diesen Momenten habe ich das Gefühl, dass Gott gerade dann meiner gedenkt. Dieses Erleben ist ungetrübt von allem, was unser Leben gerade so schwermacht – Krieg, Erdbeben, Hunger, Hass und Zukunftssorgen. All das tritt für mich für einen Augenblick in den Hintergrund, wird im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Kopf gepustet und macht Platz für das, was gerade dort passiert, zu sehen, zu erleben und zu spüren ist.
Der amerikanische Pfarrer und Schriftsteller John Ortberg spricht von heiligen Augenblicken, in denen man sich Gott so nahe fühlt. Ich finde, er hat recht und ich wünsche Ihnen und mir, dass wir davon noch reichlich geschenkt bekommen – auf Helgoland und auch sonst überall auf dieser Welt. Amen.
Download als PDF-Datei 3. März 1943
3. März 1943
Cornelia Götz, Dompredigerin - 03.03.2023
"Als ich ein Kind war,
sah ich die Steine als Blumen,
bunt waren die Tränen der Hoffnung.
Rot und blau und gelb
blühten sie lächelnd im Beete der Kindheit.
Um meine Schultern den Mantel der Farben,
weiss ich heute, dass es ein Traum war,
ein Traum, der mich zum Leben zwang ..."
Das Gedicht stammt von Philomena Franz. Sie war eine deutsche Sintiza und Auschwitzüberlebende. 1922 wurde sie in eine Musikerfamilie hinein geboren die bis 1938 in bedeutenden Konzerthallen Europas auftrat. Philomena war eins von acht Kindern.
1938 musste Philomena Franz wegen ihrer „rassischen“ Zugehörigkeit die Mädchenoberschule in Stuttgart verlassen. Ihre Familie wurde nach dem „Festsetzungserlass“ gegen „Zigeuner“ erkennungsdienstlich erfasst. Keiner durfte mehr den Wohnort. Das Auto und alle Musikinstrumente hatten sie bereits abgeben müssen. Alle arbeitsfähigen Familienmitglieder mussten von da an Zwangsarbeit verrichten.
Später wurden Philomena und ihre Familie nach Auschwitz deportiert.
Das Romaword für den Holocaust an den Roma und Sinti heißt „Porajmos“, zu deutsch Verschlingen. Philomena Franz verlor so ihre Eltern, Onkel, Neffen, Nichten und fünf ihrer sieben Geschwister.
Die Ghettoisierung und Ermordung der Sinti und Sintize wurde vom nationalsozialistischen Regime systematisch betrieben.
In Braunschweig befand sich das entsprechende Lager in Veltenhof.
Von dort erfolgt die Deportation heute vor 80 Jahren.
Am 3. März 1943.
Erst 40 Jahre später erkannte die Bundesrepublik den Völkermord an.
In der Anthologie „Morgendämmerung“ heißt es in einem anderen Gedicht von Margarete Horvath-Stojka, auch sie eine Überlebende des Konzentrationslagers:
"die sonnenblume ist die blume des rom
sie gibt nahrung, sie ist leben.
und die frauen schmücken sich mit ihr.
sie hat die farbe der sonne.
als kinder haben wir im frühling ihre zarten,
gelben blätter gegessen und im herbst ihre kerne.
sie war wichtig für den rom.
wichtiger als die rose,
weil die rose uns zum weinen bringt.
aber die sonnenblume bringt uns zum lachen."
Download als PDF-Datei Unverzagt
Unverzagt
Cornelia Götz, Dompredigerin - 02.03.2023
Unfassbar
Unglaublich
Unzumutbar
Unbegreiflich
Unerträglich
Untröstlich
Unerschütterlich
Unentbehrlich
Unermüdlich
Unverhofft
Diese kleine Vorsilbe „un“ - macht nicht nur eine Kehrtwende auf (es ist eben nicht), sondern auch eine neue Dimension.
Das ist gut so, denn wir vergessen manchmal, dass nicht alles zu wissen und zu verstehen ist, schon gar nicht einzufügen oder einzuhegen in den begrenzten Apparat unserer Sprache.
Wann trauen wir uns schon anzuzeigen, dass das was passiert unser Verstehen übersteigt und wir keine scharfe Beschreibung hinkriegen, weil uns der Abstand fehlt?
Es klingt nach emotionaler Kapitulation, wenn wir sagen, dass diese Welt manchmal so un - absehbar daher kommt, un- sicher.
Un-vorstellbar ist, wo alles hinführt.
Und mittendrin ermuntert und sie Fastenaktion in diesem Jahr, sieben Wochen „unverzagt“ zu sein und für den Fall, dass wir angesichts aller schlimmen Nachrichten und Prognosen vergessen haben sollten, wie das geht, wird uns gleich noch eine Dimension mitgegeben, die über die Sinne geht.
Sieben Wochen unverzagt, heißt: sieben Wochen leuchten.
Sieben Wochen Glaube, Liebe, Hoffnung ausstrahlen.
Sieben Wochen Gottes Verheißung etwas zutrauen.
Sieben Wochen Unverzagtheit einüben -
Und frohgemut, mit Hilde Domin -
„Nicht müde werden, sondern dem Wunder
leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.“
Download als PDF-Datei Deserteure
Deserteure
Cornelia Götz, Dompredigerin - 01.03.2023
Immer wieder stolpert man im wahrsten Sinne des Wortes über etwas, das man obwohl zahllose male vorbeigekommen, bisher nicht zur Kenntnis genommen hat.
So erging es mir mit dem Gedenkstein, der an das Denkmal für Deserteure an der Magnikirche erinnert. Das Denkmal, 50 Jahre nach Kriegsende, mühsam erstritten, stand keine 35 Stunden, dann war es in Teilen zerstört und der Schriftzug „den Deserteuren“ zerhämmert. Wenige Wochen später wurde e saus dem Boden gehebelt und auf die Straße gerollt. Als es schließlich gestohlen wurde, hatte das Denkmal kein halbes existiert.
Heute findet sich eine Platte. Darauf steht: „Also seid ihr verschwunden, aber nicht vergessen, niedergeknüppelt, aber nicht widerlegt, zusammen mit allen unbeirrbar auf der Wahrheit Beharrenden uns Mahnung und Beispiel …“
Die Geschichte der unscheinbaren Gedenkplatte zeigt, wie heikel das Thema ist, auf welchen Zorn Rehabilitation und Ehrung der Deserteure immer noch stößt.
Schaut man sich um, so zitiert das NS-Dokumentationszentrum in Köln Gerhard Zwerenz, der 1942 als 17-jähriger freiwillig zur Wehrmacht ging, zwei Jahre später desertierte und in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet, wie folgt:
„Die Fahnenflucht ist, neben dem bewaffneten Widerstand, radikale Verweigerung. Sie ist der Widerstand des kleinen Mannes und einfachen Soldaten, der keine Gruppe befehligt und in seiner Einsamkeit noch nicht einmal andere zur solidarischen Aktion anstiften kann. Der Deserteur ist nichts anderes und nicht mehr und nicht weniger als nur er selbst, eine lächerlich zitternde Masse von Fleisch und Angst, und wenn er gut ist, von Zorn, denn es kann sein, dass er verfolgt und exekutiert wird, und es kann sein, dass er kämpfen und seiner Haut sich wehren muss. Der Deserteur … weiß, dass er seine Heimat verlässt, ohne dass er wissen kann, ob er jemals wieder irgendwo zu Hause sein wird. Ja, er ist sich nicht mal sicher, ob diejenigen, zu denen er jetzt geht, ihn auch am Leben bleiben lassen. Was er erreicht, ist ungewiss, gewiss ist nur, was er verlassen hat.“
Gewiss ist auch, dass Deserteure hingerichtet oder in Zuchthäuser und Strafbatallione geschickt wurden, dass ihre Familien in Sippenhaft gerieten.
Ihrer zu gedenken, heißt, sich daran zu erinnern, dass hinter den schlimmen Nachrichten dieser Tage zahllose Lebensgeschichten von allermeist jungen Männern zerbrechen, die in den Krieg gezwungen werden.
Sich dem zu entziehen braucht Mut.
Es ist ein leises Zeichen. Wir können es sehen lernen.
Download als PDF-Datei Gut gepflegte Vorurteile
Gut gepflegte Vorurteile
Heiko Frubrich, Prädikant - 23.02.2023
Vor ein paar Tagen bin ich durch unsere Fußgängerzone gegangen, hatte es etwas eilig, kam allerdings an zwei jungen Leuten nicht vorbei, die mir in sehr gemütlichem Tempo, mit angewinkelten Armen und nach vor geneigten Kopf den Weg versperrten. Klassischer Fall von weltvergessener Handy-Daddelei dachte ich mir. Als es mir dann nach einiger Zeit gelang, die beiden zu überholen, musste ich über mich selbst schmunzeln. Denn die Beiden waren nicht etwa in ihr Handy versunken, sondern, man glaubt es kaum, in ein Buch.
Da hatte ich mir mal wieder unter Zuhilfenahme meiner wohl gepflegten Vorurteile meine eigene Wahrheit zurechtgebastelt. Junge Leute, die mit gesenktem Kopf den Weg blockieren, daddeln natürlich auf ihren Handys rum – was sollen sie auch sonst machen? Das Leben belehrte mich eines Besseren – gut so!
Denn Vorurteile sind ein echtes Problem, was unser Miteinander angeht. Und wenn sie dann noch mit Verallgemeinerungen verknüpft werden, wird es besonders kritisch. Dann sind auf einmal alle jungen Leute faul, alle Geflüchteten gefährlich, alle Gläubigen naiv, alle Politiker korrupt, alle BMW-Fahrer rücksichtslos.
Aus einer solchen Weltsicht heraus, auf andere Menschen, die sich in einer solchen Vorurteilsschublade befinden, offen und unvoreingenommen zuzugehen, ist nahezu unmöglich. Und somit sind auch offene Gespräche, faire Konfliktlösungen und Versöhnungsideen nahezu unmöglich, weil für mich ja klar ist, dass ich mich nicht bewegen muss, sondern der faule Jugendliche, der korrupte Politiker oder der rücksichtslose BMW-Fahrer.
Der Apostel Paulus kannte diese Problematik auch. Zwar haben ihm wahrscheinlich keine mit ihren Handys beschäftigen Menschen den Weg versperrt, doch er erkannt dennoch, dass er sich sein eigenes Weltbild und seine eigene Wahrheit zusammengebastelt hatte. Paulus ist bewusstgeworden, wie selbstgerecht er doch war, ganz und gar verstrickt und versunken im Kosmos von biblischen Regeln und Verboten und Vorschriften. Er konnte sich daraus lösen und es ist ihm gelungen, seine Selbstgerechtigkeit abzulegen und Platz zu schaffen für die Gerechtigkeit, die von Gott aus dem Glauben kommt. So hat er es selbst beschrieben.
Gottes Gerechtigkeit zeichnet dadurch aus, dass sie keine Vorurteile kennt. Gott sieht einzig und allein den Menschen, und er sieht ihn freundlich an. Vieles wäre erreicht, wenn uns das auch gelänge – wenn wir zunächst einmal den Menschen sehen würden, auch, wenn der sich anders verhält, als wir es uns wünschen oder es erwarten. Denn dann könnten wir mit ihm reden, über sein Verhalten, wie es auf uns wirkt, einfach von Mensch zu Mensch.
Dazu müssen wir unsere gedanklichen Vorurteilsschubladen öffnen und die Leute, die wir dort hineingesteckt haben, wieder herauslassen. Das ist nicht immer leicht, aber es lohnt sich auf jeden Fall! Amen.
Download als PDF-Datei Sieben Wochen ohne
Sieben Wochen ohne
Heiko Frubrich, Prädikant - 22.02.2023
Am Aschermittwoch ist alles vorbei, so titelt ein alter Karnevalsschlager. Doch glücklicherweise stimmt das nicht. Klar, mit Jubel, Trubel, Heiterkeit mag es vielerorts ein Ende haben, wofür so manche Leber dankbar sein wird. Doch das Leben insgesamt geht natürlich weiter. Kirchenjahreszeitlich betrachtet, kommen wir nun in eine ganz besondere Zeit, die für mich persönlich zu den eindrücklichsten und wichtigsten gehört: die Passionswochen als Vorbereitung auf Gottes größte Liebesbeweise: Christi Tod am Kreuz und seine Auferstehung im Licht des Ostermorgens.
Die Zeit bis dahin ist Buß- und Fastenzeit. Es geht also wie in jedem Jahr darum, Verzicht zu üben, um sich zu fokussieren, um zu erkennen, wie schwer, aber auch wie segensreich es sein kann, etwas links liegen zu lassen, was ansonsten zum eigenen Leben fest dazugehört. Das können ganz unterschiedliche Dinge sein: Süßigkeiten, Alkohol, Fernsehkonsum, Kaffee, Handynutzung, oder, oder, oder.
Die Evangelische Kirche in Deutschland unterstützt jedes Jahr mit einem Fastenvorschlag, der mit einem bestimmten Thema durch die Fastenzeit führt. „Leuchten – sieben Wochen ohne Verzagtheit“, darum geht es in diesem Jahr. Begleitet durch biblische Texte, Denkanstöße und kleine Andachten können wir so auf Ostern zugehen. Dabei geht es um das Ausleuchten der eigenen Ängste, das Beleuchten dessen, was uns trägt uns was uns Kraft gibt, das Durchleben dunkler Nächte in Richtung auf den hellen Morgen, der die Finsternis vertreibt. Doch nicht nur wir sollen und können uns erleuchten und beleuchten lassen. Wir selbst haben eine Ausstrahlung auf andere, können es im Leben unserer Mitmenschen hell werden lassen. Sieben Wochen ohne Verzagtheit – eine gute Perspektive, wie ich finde.
Dabei ist das zugegebenermaßen gerade in diesen Zeiten leichter gesagt als getan. Ich will gar nicht erst anfangen, aufzuzählen, was uns das Leben schwermacht. Nur, und das dürfte allen klar sein, durch Verzagtheit wird es ganz sicher nicht leichter – weder für unsere Mitmenschen, noch für uns selbst.
Wenn die Verzagtheit weicht, entsteht Raum für Zuversicht. Und die wiederum ist eine große Kraftquelle aus der heraus sich vieles ändern lässt. Den Kopf in den Sand zu stecken, löst keine Probleme – fragen Sie bei nächster Gelegenheit mal einen Straußenvogel. Zuversichtlich nach vorne zu blicken, ist die eindeutig bessere Wahl.
Wir werden hier am Dom immer mal wieder hineinschauen in die Fastenbegleitung der EKA und laden herzlich ein, mit uns gemeinsam auf Ostern zuzugehen, leuchtend, und sieben Woche ohne Verzagtheit. Amen.
Download als PDF-Datei Von Kaffee und Verzagtheit
Von Kaffee und Verzagtheit
Jakob Timmermann, Pfarrer - 21.02.2023
Wenige Stunden bleiben noch und dann sollten Sie sich entschieden haben, damit Sie antworten können. Auf die Gretchenfrage der kommenden Wochen: Und, was fastest du? Worauf verzichtest du in diesem Jahr sieben Wochen lang? Alkohol? Süßigkeiten? Fleisch? Oder sogar Kaffee?
Morgen beginnt die Fastenzeit. Und die evangelische Fastenaktion „7 Wochen ohne“ schlägt in diesem Jahr vor auf „Verzagtheit“ zu verzichten. 7 Wochen ohne Verzagtheit. Was für ein schönes Wort, für ein so unschönes Gefühl!
Zagen, zaudern, zögern. Unsicherheit, Angst, Mutlosigkeit. Den nächsten Schritt eben nicht wagen. Den Mut nicht aufzubringen, der erforderlich wäre. Zu wissen, was man will, aber den Mut nicht zu haben, es auch zu sagen. Sich unwohl zu fühlen mit einer Entscheidung, aber noch nicht zu wissen, warum. All das und noch vielmehr steckt drin in der Verzagtheit.
Es klingt himmlisch darauf zu verzichten. Mehr Mut, mehr Sicherheit, mehr Kraft. Und diese Erfahrung habe ich mit dem Fasten gemacht. Dass es mich kräftiger und sicherer macht.
Schon nach wenigen Tagen fühlt es sich nicht mehr nach verzichten an. Es fehlt mir an nichts. Im Gegenteil: ich habe neue Freiheit gewonnen. Auf etwas zu verzichten heißt auch, zu merken, dass ich von vielen Dingen gar nicht so abhängig bin, wie ich gedacht habe. Zum Beispiel vom Kaffee.
Und das Fasten hat keineswegs dazu geführt, dass ich nach der Fastenzeit keinen Kaffee mehr getrunken habe. Aber es hat dazu geführt, dass ich ihn jetzt trinke und weiß, dass ich ihn eigentlich gar nicht brauche.
Und das ist meine Hoffnung, wenn ich in diesem Jahr auf Verzagtheit verzichte, dass ich am Ostersonntag mit der Gewissheit aufwache, dass ich nicht auf Verzagtheit angewiesen bin. Dass ich auch ohne kann. Aber dass da auch ein Kraft drin liegt, auf die ich nicht verzichten will. Denn wer zagt, der gibt auch auf sich acht. Der ist vorsichtig mit anderen und sich selbst.
Diesen Bereich will ich ab morgen ausloten. Den Bereich zwischen Verzagtheit und Achtsamkeit. Und vielleicht machen Sie ja mit
Download als PDF-Datei Narrenfreiheit
Narrenfreiheit
Heiko Frubrich, Prädikant - 21.02.2023
Rosenmontag. Hier im Braunschweiger Land übersieht man das schnell mal. Unser bemerkbarer und erlebbarer Karneval findet ja traditionell am Sonntag vor dem Rosenmontag statt, wird eröffnet durch einen Polizeiwagen, beendet durch die Stadtreinigung und dauert in etwa drei Stunden. Und unser Rosenmontag unterscheidet sich dann kaum vom Aschermittwoch, zumindest, was das öffentliche Leben und das Verhalten und Aussehen von uns allen angeht.
Im Süden und Westen unseres Landes ist das deutlich anders. Da herrscht heute, wie man so sagt, Stillstand der Rechtspflege. Die Menschen feiern ausgelassen, manchmal auch haltlos und tun Dinge, die ihnen ansonsten im Jahr niemals einfallen würden. Karneval hat neben dem genannten Partyeffekt eben auch eine Art Ventilfunktion. Man darf sich mal so ganz anders benehmen und so ganz anders fühlen und im Schutz der Narrenkappe auch Dinge sagen, die man sonst nicht sagen darf oder zumindest nicht sagen würde.
Es ist die oft zitierte Narrenfreiheit, die jedes Jahr an Karneval Hochkonjunktur hat. In der feudalen Gesellschaft vor vielen Hundert Jahren hatten die Narren am Hofe der Regenten eine wichtige Funktion. Und die bestand nicht nur darin, Heiterkeit und gute Laune zu verbreiten. Nein, auch damals schon durften die Narren alles sagen, ohne dafür bestraft zu werden. Und wenn es jedem anderen den Kopf gekostet hätte, den König oder den Herzog zu kritisieren, so konnte es sich der Narr leisten. Und so wurde er manchmal eben auch vorgeschickt, um unangenehme Botschaften zu überbringen und dem Herrscher zu sagen: „Du, lieber König, hier hast Du Mist gebaut!“
Das passiert auch noch heute. In Büttenreden, Motivwagen und frechen Liedtexten wird die Politik und werden die Politiker durch den Kakao gezogen – meist augenzwinkernd, manchmal aber auch recht ruppig. Ob die Narren dabei den Finger in die Wunde gelegt haben, lässt sich häufig am Verhalten der Betroffenen ablesen. Denn je treffender die Kritik, desto deutlicher fällt die Reaktion aus und geht vom Spiel der beleidigten Leberwurst bis hin zur Einschaltung von Rechtsanwälten.
In der Tat ist der Karneval kein Hochfest des Drumherum-Redens, sondern viel mehr der klaren Kante. Ich will nicht so weit gehen, Jesus zu einem Karnevalisten zu erklären, doch klare Kante war absolut sein Ding. „Sagt „Ja“, wenn Ihr „Ja“ meint und „Nein“, wenn Ihr „Nein“ meint.“ So fordert er uns auf.
Damit will er verhindern, dass wir durch faule Kompromisse vom rechten Weg abkommen, dass wir aus Furcht, die Wahrheit zu sagen, unsere Orientierung verlieren und uns bis zur Unkenntlichkeit verbiegen, nur, um nicht anzuecken. Ich bin fest davon überzeugt, dass Jesus sich uns als aufrechte Christenmenschen wünscht, die die Dinge beim Namen nennen. Dabei haben wir ihn ganz sicher an unserer Seite und das nicht nur im Karneval. Amen.
Download als PDF-Datei Bleiben oder Gehen
Bleiben oder Gehen
Cornelia Götz, Dompredigerin - 17.02.2023
Im Kino – genauer im Universum – läuft ein wichtiger Film. „Die Aussprache“. Basierend auf einem Roman und einer wahren Begebenheit wird kammerspielartig ein Entscheidungsprozess erzählt. Die Frauen und Mädchen einer abgeschiedenen streng religiösen Gemeinschaft erleben sexuelle Gewalt in unvorstellbarem Ausmaß. Dank eines Zufalls wurde einer der Männer überführt und während nun alle Männer in der Stadt sind, um eine Kaution zu hinterlegen, haben die Frauen Zeit zu entscheiden, ob sie vergeben oder das Dorf verlassen und in eine unbekannte Welt aufbrechen wollen.
Sie stimmen ab, lernen dabei wie man wählt und entscheiden sich zwischen den drei Optionen „vergeben“, „bleiben und kämpfen“, „fortgehen“. „Vergeben“ scheidet aus. Sie finden kein Argument dafür. Sie halten Vergebung, zu der sie gezwungen werden für falsch. Sie sehen nicht, wo Schutz herkäme. Das ist verzweifelt mutig, denn sie entscheiden sich damit gegen alles, was sie geglaubt, gelernt und als Lebensziel begriffen haben: nur das Leben unter diesen Bedingungen, in dieser Gemeinschaft, führt in den Himmel.
Noch schwerer ist die Entscheidung zwischen den beiden anderen Optionen: Fortgehen in eine fremde Welt, in unsere Moderne, wenn man ohne Strom und Außenkontakt, ohne Lesen und Schreiben zu können, gelebt hat, ist hochriskant. Fortgehen bedeutet, Männer, Brüder und Söhne zurückzulassen. Ist es dann nicht besser zu bleiben und zu kämpfen.
So schauen wir dem quälenden Ringen zu.
Alle Überlebensmechanismen, jeder hilfreiche Selbstbetrug, Scham und Ohnmacht müssen Worte finden und ausgesprochen werden. Jede weiß, dahinter gibt es kein zurück. Jede weiß, alles, was bisher erduldet und erlitten ist, alles was geschafft ist, alles, was überlebt worden ist, bleibt zurück, zählt womöglich nicht mehr. Aber sie verstehen auch, bleiben und kämpfen, wird nicht ohne Gewalt abgehen. Sie werden sich nicht verteidigen können, ohne selbst blutige Hände zu bekommen. Sie werden nicht frei sein.
Zuletzt entscheiden sich die Opfer, die Angegriffenen, die, die Nacht für Nacht überfallen werden, für die Gewaltlosigkeit.
Sie eröffnet, so sehen sie nach tränenreichem Ringen den Weg in die Freiheit.
Sie spannen ihre Pferde an, heben Kinder, Körbe mit Hühnern und Strohsäcke in die Wagen und fahren los, auf einen fernen Horizont zu. Wer weiß, wohin sie dieser Weg führt.
Der Film ist ein Beitrag zur Me-too Debatte aber er könnte aktueller nicht sein.
Download als PDF-Datei Was für ein Unglück
Was für ein Unglück
Cornelia Götz, Dompredigerin - 16.02.2023
Ein Kind fährt zur Ski-Freizeit und kommt nicht lebend nach Hause zurück.
Was für ein Unglück!
Es schnürt einem das Herz zusammen, wenn man daran denkt, was für schreckliche Tage die Familie des Jungen erlebt hat, als die Nachricht kam, später als Ärzte noch um sein Leben kämpften, wie ratlos und verloren die verwaisten Eltern, vielleicht Geschwister und Großeltern nun vor dem Loch in ihrer Familie stehen,
wie die Gruppe gestern nach Hause gekommen sein muss…
Ich denke an die armen Lehrer*innen, die die Reise begleitet haben. Das ist der Alptraum, der jeden begleitet, der mit anvertrauten Kindern auf Freizeiten fährt.
Ich kenne das auch. Was immer da in Südtirol passiert ist, ich sehe mich mit Jugendgruppen dort während des Konfimandenferienseminars im Sommer. Im Grunde ist es ein gutes Zeichen, wenn man die Kinder wieder in ihre eigenen Zimmer zurücksortieren muss, wenn sie spielen und toben, flirten – viel besser, als wenn sie scheu und verstört auf ihren Zimmern hocken, so wie wir das nach den langen Lockdowns in der Pandemie erlebt haben.
Und ja, die Balkone der Südtiroler Häuser verleiten dazu, mal rüber zu klettern. Genauso, wie es sich über das Deck eines Plattbodenschiffes genial schlittern lässt.
Wie gesagt, ich weiß nicht, was passiert ist und will nicht spekulieren – aber ich weiß, dass einem als Gruppenleiterin manchmal der Kragen platzt und manchmal das Herz stehen bleibt, weil ein Unglück hätte passieren können.
Es ist immer große Erleichterung und Dankbarkeit dabei, wenn so eine Reise gut zu Ende gegangen ist.
Über diesem Tag heißt es in den Herrnhuter Losungen:
„Ich rief zum Herrn in meiner Angst und er antwortete mir“
Die Zeile stammt aus der Geschichte des Jona. Den hatte Gott aus Lebensgefahr gerettet. Aber nun saß er in einem Fischbauch in tiefer Dunkelheit und wusste nicht, ob und wo der Fisch ihn wieder ausspeien würde. Das ist eine entsetzliche Erfahrung.
Jona findet ins Gebet und in die Hoffnung, dass etwas weitergehen wird.
Wir können dieses Gebet stellvertretend anstimmen für die, über die das Unglück hereingebrochen ist, die Trost brauchen und die Hoffnung, dass die Tage in tiefster Dunkelheit vorübergehen werden.
Download als PDF-Datei Heuschrecke und Kanone
Heuschrecke und Kanone
Cornelia Götz, Dompredigerin - 15.02.2023
Im Jüdischen Museum in Berlin widmet sich die aktuelle Sonderausstellung „Paris Magnétique 1905-1940“ jüdischen Künstler*innen der Pariser Schule. Neben weltberühmten Namen wie Chagall und Modigliani begegnet man auch Künstler*innen, ihren Lebensgeschichten und Kunsthändlern, die nicht in aller Munde sind.
Eine von ihnen, Chana Orloff, ist eine Bildhauerin ukrainischer Herkunft. 1939, mit dem Grauen des ersten Weltkrieges im Rücken und unter dem Eindruck der Judenverfolgung und des bevorstehenden Krieges schuf sie eine Figur „Heuschrecke und Taube“, die eine Heuschrecke in Form einer Kanone zeigt.
Sie trug sich mit diesem harmlos-schrecklichen Wesen in die Geschichte ihres Volkes ein und erinnerte an die Plagen, mit denen Gott den Pharao bewegen wollte, sein Volk in die Freiheit ziehen zu lassen.
Kanonen wie Heuschrecken. Unübersehbar.
Kanonen, die den Blick verstellen wie ein Heuschreckenschwarm. Jede einzelne eine brutale Waffe und zugleich ein Nimmersatt, der auch die
Ernte kostet, Hunger und Not bringt.
Chana Roloff war 22 als sie 1910 ganz allein nach Paris ging und dort miterlebte, welches Leid der erste Weltkrieg brachte. Als sie ihre Plastik schuf, war Jürgen Habermas zehn Jahre alt, brach der 2. Weltkrieg.
Jetzt schreibt er ein „Plädoyer für Verhandlungen“ und benennt dabei auch unsere Mitverantwortung im Ukrainekrieg.
Nachdem ein Nato-Frontberichterstatter die Bilder aus dem Stellungskrieg im Norden des Donbass mit Verdun verglichen hatte, schreibt er: „Berge von Toten und Verwundeten, die Trümmer von Wohnhäusern, Kliniken und Schulen, also die Auslöschung eines zivilisierten Lebens, darin spiegelt sich der destruktive Kern des Krieges, der die Aussage…, dass wir mit unseren Waffen Leben retten, doch in ein anderes Licht rückt.“
Kanonen und Heuschrecken retten kein Leben.
Sie führen, dass muss auch die Erfahrung von Channa Orloff gewesen sein, auch nicht in die Freiheit, sondern in die Vernichtung.
Und trotzdem.
Es bleibt unsere Möglichkeit, um den Frieden zu ringen, für den Frieden zu beten und darauf zu vertrauen, dass es so ist, wie der Prophet Jesaja ausrichtete und es über diesem Tag steht: „Ich werde an diesem Volk weiterhin wundersam handeln, wundersam und überraschend.“
Download als PDF-Datei Was bleibt, stiften die Liebenden
Was bleibt, stiften die Liebenden
Henning Böger, Pfarrer - 14.02.2023
„Es war das Schönste, was ich seit langem gehört habe“, sagt sie und ihre Augen strahlen beim Erzählen. Sie arbeitet schon lange als Altenpflegerin. Das, was sie tut, macht ihr Spaß, vor allem wegen ihrer Kolleginnen und Kollegen. Es werde viel gelacht auf dem Flur und, wann immer möglich, auch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Und manchmal erlebe man dann ganz unerwartet unglaublich schöne Dinge
mitten in der Alltagsroutine; Begegnungen wie diese:
Vor kurzem war sie gerade bei einem alten Ehepaar, beide Ende achtzig. Deren Sinne sind durcheinander. Manchmal sehr, manchmal weniger. In letzter Zeit mehr. Als sie ins Zimmer kommt, streitet das Paar gerade ein bisschen. Er möchte noch liegen bleiben,
sie will schon zum Frühstück. Die Frau drängelt, der Mann trödelt. Und dann zeigt die Frau plötzlich auf ihren Mann und sagt: „Ich weiß seinen Namen nicht. Aber ich weiß, dass er mich liebt und immer auf mich achtgibt.“
Oft ist in der Demenz so viel Vergessen und Durcheinander der Sinne. Aber manchmal
ist da auch das Andere, diese eine, große Erinnerung: an die Liebe, die Fürsorge und
den Schutz des anderen. Der Name, das Zimmer, der Wochentag - alles irgendwie weg oder durcheinander. Aber dieses große Gefühl ist immer noch da. Und muss plötzlich heraus, als die alte Dame sagt: „Du da, dessen Namen ich nicht kenne, du bist der Mensch, der mich liebt.“
„Das war das Schönste, was ich seit langem von einem dementen Menschen gehört habe“, sagt die Altenpflegerin. Das wünsche sie sich auch für sich selbst:
dass sie bis zum Ende Menschen fühlen könne, die sie lieben.
Die Liebe ist stark für die Ewigkeit, weiß die Bibel. Der Theologen Jörg Zink hat
dafür vor vielen Jahren folgende Worte gefunden: „Liebe geht immer davon aus,
dass das Wort ein Ohr findet, auch wenn keine Antwort mehr ist. Liebe geht davon aus, dass die Hand eine Hand fühlt, auch wenn sie nichts mehr zeigt. Und sie dankt weiter, leise, in das Ohr, das nicht mehr zu hören scheint. Was bleibt, stiften den Liebenden.“
Download als PDF-Datei heute in dresden
heute in dresden
Cornelia Götz, Dompredigerin - 13.02.2023
Heute Abend, jetzt, werden sich zahllose Menschen in Dresden auf den Weg zur Menschenkette machen, mit der an die Bombardierung der Stadt vor 78 Jahren erinnert werden soll. Die Kolleg*innen der Bundespolizei werden sich formiert haben, der Oberbürgermeister wird gleich zum Auftakt sprechen und um 18.00 werden sich die Menschen die Hände reichen. Tausende Hände werden sich dann verbinden und berühren – nach der Pandemie und dem Kriegsausbruch ist das ein Zeichen der Friedensbereitschaft und Verletzlichkeit aller. Hoffentlich.
Wäre ich heute dran, dort eine Andacht zu halten, dann wäre ich dankbar, dass es über diesem Tag in den Herrnhuter Losungen aus dem Lukasevangelium heißt: „Der Zöllner stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach:
Gott sei mir Sünder gnädig!“
Denn wie soll man sich sonst zu all dem Unglück verhalten, dass Menschen über Menschen bringen?
Als ich ein Schulkind war, reisten wir zu Wandertagen nach Dresden. Der gemeinsame Weg durch die Stadt führte nahezu immer zu den schwarzen Ruinenresten der Frauenkirche. Angloamerikanische Bomber sind das gewesen. Unvergleichlicher Terror. Schutzlose unschuldige Zivilisten starben massenhaft, weil sie sich in der Annahme in das Elbflorenz geflüchtet hätten, dass nur Barbaren solche Kulturschätze zerstören würden.
Ja, so war es. Nein, das ist nicht die ganze Wahrheit.
Kein Wort von Rotterdam und Coventry, Hamburg oder Köln. Dafür Beschwörungsformeln zugunsten des besseren entnazifizierten Teiles Deutschlands, zu dessen Kernaussage Ernst Thälmanns „Nie wieder Krieg“ gehörte.
Halbwahrheiten, Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid tragen faule Früchte und verengen den Blick. Deshalb muss auch heute die Polizei auflaufen. Deshalb werden solche Anlässe missbraucht. Deshalb ist zu hoffen, dass es wirklich friedliche Bilder werden heute Abend.
Der Zöllner im Lukasevangelium war sich seiner eigenen Unvollkommenheit und Vergebungsbedürftigkeit bewusst. Seine Haltung tut not, wenn wir urteilen, erinnern, mahnen, beten.
Download als PDF-Datei Wort, Arche, Rettung
Wort, Arche, Rettung
Cornelia Götz, Dompredigerin - 09.02.2023
Im Hildesheimer Dom steht die „Tintenfassmadonna.“ 600 Jahre ist sie alt. Hier in der Gegend wurde sie geschnitzt und bemalt. Maria ist jung und sie strahlt. Das Gotteskind sitzt auf ihrem Arm und hat – man staunt - einen Federkiel in der Hand. Es kann schon schreiben, natürlich. Seine Worte sind kostbar. Er ist dieses lebendige Wort.
Fraglos hat Maria ein Wunderkind im Arm. Sie lächelt versonnen. Sie behielt ja all die besonderen Worte zu Weihnachten in ihrem Herzen.
Auch wir leben von Worten.
Manche tragen wir lange mit uns herum, weil sie jemand gesagt hat, der uns wichtig ist. Manche werden uns mitgegeben, manche haben wir selbst gefunden.
Heiner Wilmer, Bischof in Hildesheim, erinnert in einem Text über die ungewöhnliche Marienfigur in seiner Stadt daran, dass die hebräische Wurzel für „Wort“ auch für die „Arche“ steht oder das „Bastkörbchen“ meint, in dem Mose auf dem Nil trieb und so aus Lebensgefahr gerettet wurde.
Rettung = Rettung = Wort = Rettung …
Denn in Wörtern können wir uns bergen – wie in der Arche.
Sie sind ein Rettungsboot, das uns vorwärtsbringt, weg von unheilvollen toxischen Situationen.
Sie sind so handgreiflich.
Sie sind lebendig.
Während sie laut werden, passiert es schon:
Ich liebe dich.
Ich entschuldige mich.
Ich segne dich.
Während des Vietnam-Krieges schreib Dorothee Sölle ein Buch und teilte in der Einleitung ihre Bestürzung, dass sie kaum Menschen mit ihrer Not angesichts des Krieges und massenhaften Sterbens erreichen würde, nicht mal die Frau, die ihre Manuskripte tippte, würde sie verstehen. Sölle schloss daraus, dass wir eine andere Sprache brauchen – eine aus er alles herausgestrichen ist, was vergisst, dass Gott die Liebe ist.
Die Madonna in Hildesheim wusste es schon.
Ihr Sohn hat uns die Worte dieser Sprache längst geschenkt.
Download als PDF-Datei So viel auf einmal...
So viel auf einmal...
Cornelia Götz, Dompredigerin - 08.02.2023
Gestern Abend sagte Sabine Dressler hier: Naturkatastrophen kommen über die Menschen willkürlich und oft unabwendbar. Kriege werden von Menschen gewollt. Jedenfalls von denen, die sie anzetteln.
Jetzt kommt beides zusammen und verklumpt sich zu einer furchtbaren Tragödie, bei der nicht alles Menschenmögliche getan werden kann, um Verschüttete zu bergen, Wasser, Verbandszeug, Zelte und Schlafsäcke zur Verfügung zu stellen, weil Krieg ist.
Arnd Henze, der gestern Abend hier aus unmittelbarer Nähe zu Politik und Berichterstattung im Zusammenhang des Ukrainekrieges erzählte, war deutlich anzumerken, dass es zu den schwersten Aufgaben eines Journalisten gehört, Bilder auszusuchen – für uns – und dabei die Grenzen auszuloten, was eigentlich noch zumutbar ist – für uns.
Für einen Moment dachte ich, die Tränen von denen er angesichts der schrecklichen Abwägungen zu Beginn des Krieges mit Blick auf die Flugrverbotszone erzählte, würden gleich wieder fließen…
Kein Wunder angesichts dessen was in der Welt geschieht.
Auf dem Titelbild der Süddeutschen Zeitung heute Morgen sieht man ein herzzerreißendes Bild – es ist sicher nicht das Schlimmste unter denen, die sich die Bildredakteure ansehen mussten. Eine schluchzende Frau kauert, die Hände vor dem Mund, Pflaster auf der Stirn, auf einem Schutthügel. Sie sieht so fassungslos aus. Keins der Bilder ums sie herum, die wir nicht sehen, kann sie sich vom Leib halten. Auch nicht die Geräusche.
Es ist die bittere Wirklichkeit.
Wer weiß, was sie sehen muss?
Über dieser Woche heißt es aus dem Danielbuch:
„Wir liegen vor Dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“
Auch das ist die Erfahrung einer bitteren Wirklichkeit:
Auf uns zu Menschen zu vertrauen, wird nicht weiterhelfen. Wir werden immer wieder vergessen, was anderswo geschieht, sind gefangen von unseren eigenen Sorgen, nehmen was uns nicht zusteht.
Dass Gottes Barmherzigkeit größer ist, bleibt ein Wunder – das die Menschen, die keiner schont, brauchen und wir für sie erbitten können.
Download als PDF-Datei Sally Perel
Sally Perel
Heiko Frubrich, Prädikant - 03.02.2023
Gestern ist Braunschweigs Ehrenbürger Sally Perel, einer der letzten Holocaust-Überlebenden im Alter von 96 Jahren in Israel verstorben. 1925 wird er in Peine geboren. Seine Eltern betreiben dort ein Schuhgeschäft. Als dieses 1935 von den Nazis verwüstet wird, emigriert die Familie nach Polen. Doch auch dort finden die Perels keine sichere Zukunft. 1939 wird Polen von Nazi-Deutschland überfallen und zwischen Russland und Deutschland aufgeteilt. Sally Perel verlässt seine Familie und flüchtet nun in den russischen Teil Polens. Seine Eltern und seine Schwestern wurden von den Nazis ermordet. Perel hat sie nie wiedergesehen.
Als er später von der Deutschen Wehrmacht gefangengenommen wurde, gelang es ihm erfolgreich, seine jüdische Herkunft zu verschleiern. Aus dem Sally Perel wird Josef Perjell. Das rettet ihm das Leben. Er arbeitet in verschiedenen Positionen für das Militär. Ein ranghoher deutscher Offizier, der Perel mag und ihn nach dem Krieg sogar adoptieren will, bewirkt, dass er 1943 nach Braunschweig an die Akademie für Jugendführung der Hitlerjugend kommt. Bei Volkswagen erlernt er den Beruf des Werkzeugmachers. 1948 wandert Perel nach Israel aus, um dort am Aufbau des jüdischen Staates mitzuwirken.
Es dauerte 40 Jahre, bis Sally Perel über seine Erlebnisse berichten und schreiben konnte. In seinem Buch „Ich war der Hitlerjunge Salomon“ bringt er sie Ende der 80er Jahre zu Papier. Seit der Veröffentlichung unternahm Perel jedes Jahr mehrere Lesereisen nach Deutschland, in denen er regelmäßig Schulen besuchte und von seinen Erlebnissen erzählte.
Mit Perel stirbt einer der letzten Zeitzeugen des Holocausts. Wer ihn einmal erlebt hat, kann ermessen, was für ein großer Verlust das ist. Er hat selbst erlebt, wie gefährlich Indoktrination sein kann, denn an der Akademie für Jugendführung der Hitlerjugend hier in Braunschweig begann er nach eigenen Angaben trotz seiner Geschichte, sich mit der Ideologie der Nazis zu identifizieren. Über diese Zeit sagte er: „Die Diktatur ist wie ein Gift, dass jeden Tag in die jungen Gehirne geträufelt wurde.“
Auch heute erleben Menschen genau das. Durch einseitige und falsche Informationen entstehen in unseren Köpfen Weltbilder, die weit ab von der Realität liegen. So wird einer Bevölkerung die Alternativlosigkeit eines Krieges suggeriert, so werden Verschwörungstheorien verbreitet, so werden Hass und Hetze gegen Geflüchtete, Muslime oder in zunehmendem Maße auch gegen Menschen jüdischen Glaubens genährt.
Sally Perel kann seine eigenen Erfahrungen und Mahnungen nicht mehr selbst weitergeben. Es ist nun einmal mehr an uns, Verantwortung zu übernehmen, wachsam zu sein und zu bleiben und gegen das Vergessen einzutreten. Möge der Herr Sally Perel den ewigen Frieden schenken. Amen.
Download als PDF-Datei Das Nachsehen haben
Das Nachsehen haben
Heiko Frubrich, Prädikant - 02.02.2023
Es gilt für Süßigkeiten, für Alkohol, für Arbeit, fürs Faulenzen und sogar für den Sport: Zu viel ist ungesund. Maß zu halten ist bei so manchen Dingen in unserem Leben ebenso wichtig wie schwierig. Meine Waage erinnert mich allmorgendlich daran, dass ich da noch Luft nach oben habe. Glücklicherweise gibt es aber auch anderes, für das gilt: Je mehr, desto besser! Ehrlichkeit, Freundlichkeit und Gerechtigkeit gehören dazu und, wie ich finde, ebenso unser Glaube. Je intensiver der ist, desto näher fühlen wir uns Gott, desto besser meinen wir ihn zu kennen und in unserem Leben zu erfahren.
Unsere Nähe zu Gott – für die gilt nicht, dass zu viel ungesund wäre. Hier könnte man abgewandelt sagen: Je mehr, desto besser. Aber stimmt das tatsächlich? Einer, der an Gott ganz nah ran wollte, wurde abgewiesen. Ich rede von Mose.
Gott war schon mehrfach in sein Leben getreten, hatte zu ihm gesprochen und ihm Zeichen seiner Gegenwart gesandt. Doch irgendwann reichte Mose das nicht. Er wollte mehr, er wollte noch dichter dran sein an Gott, und so forderte er von ihm: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Doch daraus wurde nichts. Gott hat es ihm nicht gestattet. „Kein Mensch wird leben, der mich sieht“, so seine abschlägige Antwort.
Moses Reaktion auf diesen Korb ist nicht übermittelt. Doch ich könnte mir gut vorstellen, dass er zunächst einmal enttäuscht war. Und vielleicht sind ihm Fragen durch den Kopf gegangen, wie: Liebt er mich also doch nicht so unbedingt und uneingeschränkt? Will er mich auf Abstand halten, vielleicht sogar seine Ruhe vor mir haben?
Nein, so ist es nicht. Aber Gott tanzt eben nicht nach unserer Pfeife. Und so, wie er uns frei entscheiden lässt, welchen Platz wir ihm in unserem Leben geben, so bestimmt er, was er von sich preisgeben will und was nicht. „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“, gibt er Mose zu verstehen. Gott ist nicht verfügbar. Er hält das Heft des Handelns in der Hand, nicht wir.
Und doch kommt er Mose entgegen. Gott zieht an ihm vorüber, zum Greifen nah, doch er hält ihm die Augen zu und lässt ihn erst hinter sich her blicken, als er ihm bereits seinen Rücken zukehrt. Mose hat im wahrsten Sinne des Wortes das Nachsehen. Doch in unserer Beziehung zu Gott ist allein das schon ein großes Geschenk. Amen.
Download als PDF-Datei Stromausfall
Stromausfall
Heiko Frubrich, Prädikant - 01.02.2023
Im Harz war der Strom weg, für Hunderttausende, in den vergangenen Tagen, gleich mehrfach. Zwar dauerte es jeweils nur ein paar Stunden, dennoch schaffte es dieser Stromausfall in den Medien bis ganz nach vorne. Und nachvollziehbarerweise dachten viele der Betroffenen an einen Sabotageakt oder an den oft diskutierten großen Blackout, der sich als Folge einer allgemeinen Energiekrise nun tatsächlich ereignet haben könnte. Doch es war nur das Wetter, das schuld war. Eisregen hatte sich auf den Überlandleitungen zu einer schweren Last angehäuft, unter der die Kabel rissen, Kurzschlüsse verursachten und so die Stromversorgung unterbrachen. Es war einfach nur das Wetter.
Dennoch wurde uns vor Augen geführt, wie abhängig wir von einer störungsfreien Stromversorgung sind. Denn ohne Strom funktioniert unser gewohntes Leben überhaupt nicht mehr. Die Supermärkte sind geschlossen, weil die Kassensysteme nicht mehr laufen, gleiches gilt für Tankstellen, Arztpraxen und Restaurants. In den Krankenhäusern und Pflegeheimen laufen lebenserhaltende Apparaturen nur noch mit Notstrom und zu Hause wird es kalt und dunkel, weil weder Heizungen noch Beleuchtung ohne Strom ihren Dienst tun.
Nur ein paar Stunden dauerte der Stromausfall im Harz, dann war wieder alles gut. An vielen anderen Orten dieser Welt wird nichts in ein paar Stunden wieder gut. In ukrainischen Städten ist die Stromversorgung seit Monaten unterbrochen. Ebenso ist es in Syrien, in Haiti, im Jemen und diese Liste ließe sich fortsetzen.
Ja, auch in unserem Land gibt es Dinge, die nicht optimal laufen und ja, wir können uns auf diese Dinge fokussieren und uns so suggerieren, dass wir es so richtig schwer haben in unserem Leben. Aber das stimmt nicht! Mit einem nur kurzen Blick über den Tellerrand werden wir feststellen, wie privilegiert wir sind. Denn wir haben, wenn mal nicht gerade ein Eisregen kommt, kontinuierlich ein helles und warmes Zuhause, unsere Kühlschränke sind in der Regel gut gefüllt und wenn es uns schlecht geht, können wir uns Hilfe holen.
Ich will nicht kleinreden, dass die Armut auch bei uns wächst, dass es soziale Ungerechtigkeiten gibt und die Anzahl der Menschen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen, eher zu- als abnimmt. Doch wir haben die Chance, diese Probleme aus eigener Kraft anzugehen. Die Menschen in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt haben diese Chance nicht.
Und so denke ich, dass wir trotz allem viele Gründe haben, dankbar zu sein dafür, dass es uns im Vergleich zu so vielen anderen Menschen auf dieser Welt wirklich gut geht. Diese Dankbarkeit kann uns Antrieb sein, anderen zu helfen, die unserer Hilfe bedürfen. Wir können teilen und abgeben, wovon wir mehr haben, als wir für uns selbst brauchen. Und das ist – auch bei elektrischem Lichte betrachtet – gar nicht mal so wenig. Amen.
Download als PDF-Datei Unverschämt glauben
Unverschämt glauben
Heiko Frubrich, Prädikant - 31.01.2023
„Nun werden Sie mal nicht unverschämt!“ Haben Sie diesen Anwurf schon einmal zu hören bekommen? Da weist jemand darauf hin, dass aus seiner Sicht eine Grenze überschritten wird, die Schamgrenze. Scham ist komplex. Wir empfinden Scham, wenn wir uns bloßgestellt fühlen, wenn wir moralische Grundsätze selbst verletzt haben oder sie uns gegenüber verletzt wurden. Scham ist einerseits unangenehm, andererseits sichert sie aber auch in gewisser Weise ein verträgliches Miteinander. Wir laufen im Sommer auch bei 35 Grad nicht nackt durch die Fußgängerzone, weil wir uns selbst dafür schämen und unser Schamgefühl durch andere verletzt würde. Wir halten ein gewisses Maß im Umgang miteinander, abgesichert durch Scham.
Aber wir können uns auch selbst blockieren, dann nämlich, wenn unsere eigene Schamgrenze uns einengt. Da trauen sich Menschen nicht ins Schwimmbad oder in die Sauna, weil sie sich ihres Äußeren schämen. Da werden persönliche Nöte und Sorgen totgeschwiegen, da zieht man sich in die Armut zurück, ohne sich helfen zu lassen, da versteckt man die Depression, die Angst, die Sucht.
Dass ein solches Verhalten nichts besser macht, ist hinlänglich bekannt, auch den Betroffenen. Und dennoch schaffen sie es nicht, diese aus ihrer Sicht viel zu hohe Hürde zu nehmen. Sprechenden Menschen kann geholfen werden, sagen wir so locker, doch manchmal ist das Sprechen über sich selbst, über die eigenen Gefühle, die Sorgen und Ängste unendlich schwer. Wir wollen nicht noch mehr Verletzungen erleiden durch die Reaktionen unserer Mitmenschen und deshalb schweigen und leiden wir still vor uns hin.
Nicht ganz so dramatisch, dafür aber umso unverständlicher ist ein solches Verhalten, wenn es um unseren Glauben geht. Auch den verschweigen wir gerne mal im Kreis von Menschen, von denen wir meinen zu wissen, dass sie es komisch finden würden, wenn wir sagen: „Ich glaube an Gott. Und manchmal lasse ich es sogar zum Äußersten kommen und gehe in die Kirche!“
Dabei ist es im Grunde genommen ziemlich gemein, anderen Menschen vorzuenthalten, was für ein wunderbares Geschenk der Glaube ist. Ich möchte auf die Gewissheit, getragen, gewollt und geliebt zu sein, jedenfalls nicht mehr verzichten. Und ich wünsche es jeder und jedem von Herzen, dieses Grundvertrauen zu Gott auch zu erfahren und zu erleben, wie Gott uns freundlich ansieht.
Paulus schreibt: Ich schäme mich des Evangeliums nicht! Er lässt die Welt teilhaben an seinen stärkenden und lebensverändernden Glaubenserfahrungen – bis heute. Er sieht in der frohen Botschaft eine Kraft Gottes, die uns selig macht und ich finde: Er hat recht! Und deshalb ist es unseren Mitmenschen gegenüber tatsächlich nur fair, wenn wir ihnen von unserem Glauben erzählen, wenn wir sie neugierig machen auf diese Kraft Gottes und ihnen so ermöglichen, sie selbst einmal zu erfahren.
Scham ist in diesem Zusammenhang wirklich fehl am Platz. Wir sind vielmehr eingeladen ohne Wenn und Aber unverschämt zu glauben. Amen.
Download als PDF-Datei 90. Jahrestag der Machtergreifung
90. Jahrestag der Machtergreifung
Heiko Frubrich, Prädikant - 30.01.2023
Heute vor 90 Jahren erlebte unser Land einen der schwärzesten Tage seiner Geschichte. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Dieser Schritt markiert den Beginn der zwölf Jahre andauernden Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland. In nur wenigen Wochen wurden die Freiheitsrechte der Bürger massiv beschnitten und das Parlament entmachtet. Instrumentalisiert wurde dazu der Brand des Reichstags vom 27. Februar 1933, dessen Hintergründe bis heute nicht final geklärt sind.
Der Machtergreifung vorausgegangen waren Wahlen im November 1932, bei denen die NSDAP zwar mit gut 33% stärkste Partei wurde, jedoch im Vergleich zur letzten Wahl im Sommer 1932 über 4r Stimmen verloren hatte. Das Parlament jedoch war mit seinen 14 darin vertretenen Parteien kaum handlungsfähig und so gelang es Hitler mit einer Koalitionsregierung an die Macht zu kommen.
Der Aufstieg der NSDAP basierte auf gezielter Propaganda, mit der die Partei erfolgreich Wählerstimmen gewann. Die Prinzipien hatte Hitler in seinem Buch „Mein Kampf“ offen dargelegt: Beschränkung auf wenige Themen; geringer geistiger Anspruch; Abzielen auf Emotionen; Vermeidung von Differenzierungen; tausendfache Wiederholungen.
Die seinerzeitige Medienlandschaft war mit der heutigen kaum vergleichbar. Es gab die Presse und den Rundfunk und das war es dann auch schon. Heute gibt es das Internet mit seiner kaum kontrollierbaren Multiplikatorenfunktion, in dem auch nach den genannten Kriterien demokratiefeindliche Propaganda verbreitet werden kann und wird. Und tatsächlich haben sich die Methoden und Merkmale kaum verändert: Es sind wenige Themen, zum Beispiel Corona, Flüchtlinge, der Ukrainekrieg. Es sind einfache und undifferenzierte Antworten auf komplexe Problemstellungen. Und es ist die immerwährende Wiederholung von Halbwahrheiten und Lügen: Die Impfung wird uns umbringen. Alle Migranten sind potentielle Terroristen.
Damit hatten die Nazis Erfolg und wir sehen auch heute, dass dieses Instrumentarium noch immer funktioniert. Warnende und mahnende Hinweise schienen und scheinen dabei vielfach ungehört zu verhallen. Und wenn heute in Thüringen gemäß einer Umfrage bei einer möglichen Direktwahl über 30% einen Mann zum Ministerpräsidenten wählen würden, den man mit gerichtlicher Billigung einen Faschisten nennen darf, dann sollten wirklich alle Alarmglocken läuten.
Apropos Glocken: Die Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus ist ambivalent. Ja, es gab viele aufrechte Christenmenschen, die gegen die Gewaltherrschaft Widerstand geleistet haben. Zu nennen sind hier beispielhaft Dietrich Bonhoeffer oder auch Clemens August Graf von Gahlen. Aber es gab auch die Deutschen Christen unter Reichsbischof Müller, die die Nazis hoffierten und unterstützten.
Insofern sehe ich gerade die Kirche in einer besonderen historischen Verantwortung, jede Form von wiedererstarkendem Rechtsextremismus, ja, jede Form von Angriffen auf unsere freiheitlich demokratische Grundordnung beim Namen zu nennen und sich ihr entgegenzustellen. Denn Unterdrückung, Ausgrenzung und extremistisches Gedankengut sind mit christlichen Werten nicht vereinbar.
Der heutige Jahrestag von Hitlers Machtergreifung mahnt uns alle zur Wachsamkeit, denn Bertold Brecht lag richtig, als er schrieb: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Amen.
Download als PDF-Datei Keine Könige
Keine Könige
Cornelia Götz, Dompredigerin - 28.01.2023
Dieser Tage werde ich immer mal wieder gefragt, wie lange denn die Weihnachtsbäume noch stehen bleiben. Bis kommenden Samstag. Denn morgen ist der letzte Sonntag nach Epiphanias, das Fest der Verklärung Jesu und dann schließt sich der Weihnachtsfestkreis. Mit den Bäumen verschwinden dann auch der Adventsstern und die Krippe und vielleicht fällt dann auf: die Krippe ist dieses Jahr gar nicht vollständig geworden!
Zu Weihnachten hat alles noch gestimmt: Maria und Josef, das Kind, die Schafe und die Hirten waren liebevoll zwischen Tannengrün und Kerze aufgestellt. Zu Epiphanias hätten dann die Hirten und Schafe eingepackt und die heiligen drei Könige mitsamt ihren Kamelen aufgestellt werden müssen.
Aber das ist nicht passiert. Vermutlich wusste unser neuer Domvogt gar nicht, dass wir auch Könige haben… - und auch denjenigen, die sonst hier immer alles merken ist es entweder nicht aufgefallen oder sie haben nichts gesagt.
Und so ist es nun.
Die Könige sind nicht angekommen.
Die Reichen und Mächtigen haben die Krippe nicht gefunden.
Vielleicht haben sie den Stern nicht gesehen.
Vielleicht haben sie keine Zeit gehabt, zur Krippe zu gehen.
Vielleicht glauben sie nicht, dass das, was da in Bethlehem geschehen ist, irgendeine Bedeutung für ihr Leben hat.
Oder wollten sie die Knie nicht beugen vor dem Kind dessen Mutter gesungen hatte:
„Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. / Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen…“
Man kann es ihnen nicht verdenken.
Wir hören das ja auch mit Sorge.
Uns, die wir vermutlich eher zu den Königen als zu den Hirten dieser Welt zählen, könnte deshalb an dieser Leerstelle bewusst werden, dass es mitnichten selbstverständlich ist, dass Könige zur Krippe kommen und ein Kind anbeten, das kein weltliches Herrschaftsattribut ziert, das Reiche niederknien, wo sie leer ausgehen..
Und so verstanden, klingen die nächsten beiden Zeilen des Magnifikat neu und anders:
„Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener auf.“
Wie man jemanden hilft, der nicht allein hochkommt, wenn er gekniet hat.
Wie man jemandem hilft, der nicht allein in Bewegung kommt.
Wie man jemandem hilft, der mutlos ist.
So gedenkt Gott unserer aus lauter Barmherzigkeit – auch dann, wenn wir den Weg zur Krippe nicht gefunden haben oder nicht gegangen sind, wenn wir ihre Bedeutung nicht mehr verstehen können oder ihre Konsequenzen nicht erleben wollen.
Auch dann.
„Denn er hat große Dinge an uns getan.“
Download als PDF-Datei Housing first
Housing first
Cornelia Götz, Dompredigerin - 26.01.2023
Vielleicht erinnern Sie sich an die Fotoausstellung „Wohnungslos in Braunschweig“. Damals hatte der Künstler Klaus Kohn mit Wohnungslosen gemeinsam unsere Stadt erkundet. Es waren zunächst gar nicht die Bilder, die wir gut Behausten vermutet hätten: eine Parkbank mit Rucksack, Wanderschuhe, eine Brücke. Die gab es auch - aber nicht gleich. Zunächst fotografierten die Wohnungslosen das, was alle schön finden: Naturstimmungen, Sonnenauf- und Untergänge, Blüten. Warum auch nicht… ??? Die Überraschung beschämte, weil wir spürten, dass wir, die wir sicher wohnen, uns schon auf eine Perspektive festgelegt hatten.
Eine defizitäre Perspektive.
In einer zweiten Phase entstanden andere Bilder. Vielleicht, ein sehr behutsames und vorsichtiges „vielleicht“ ist das, war Vertrauen gewachsen. Diese Fotos zeigten Braunschweig so, wie wir es nicht kennen. Ich sehe noch Carola Reimannn zwischen den Ausstellungswänden hin und hergehen und sich wundern. Das ist also auch Braunschweig.
Und dann kamen eben jene Bilder, die von dem schweren Leben auf der Straße erzählen und von der Sehnsucht, endlich ein eigenes Zuhause zu haben - eines mit Wänden und einer Tür, die man abschließen kann, einer eigene Toilette, einem richtigen Bett. Denn so leicht findet sich das nicht. Um bei der Wahrheit zu bleiben, es ist ziemlich aussichtslos.
Ganz anders in Finnland: Marika, 42, erzählte der Süddeutschem Zeitung, wie sie im Strudel ihrer Probleme versank und zuletzt nur noch ihr Auto hatte. Schon in der ersten Nacht klopfte eine Sozialarbeiterin an die Scheibe, in der nächsten schlief sie in einem Provisorium, in der übernächsten Nacht hatte sie wieder ein Zuhause. Kein Wunder sondern Methode: „Housing first“ heißt sie. Während in den meisten Ländern die Wohnung einer Belohnung gleichkommt, wenn man die Sucht, den Schicksalsschlag oder die Krankheit in den Griff bekommen und einen Job gefunden hat, beginnt es in Finnland mit dem Recht auf Wohnen. Und danach geht es aufwärts. Die Obdachlosigkeit geht rasant zurück. Und nein, es ist nicht teurer als all die Folgekosten der Wohnungslosigkeit anderswo…
In der Bergpredigt hieß es gestern: „Selig, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Und auch, selig, die uns mit guten Geschichten beschenken, denn es geht so viel.
Download als PDF-Datei Glitzer
Glitzer
Jakob Timmermann, Pfarrer - 23.01.2023
Meine Tochter sitzt am Mittagstisch und erzählt mir, dass sie heute im Kindergarten Farben gemischt haben. „Also Papa, wenn man Rot und Gelb miteinander vermischt, dann wird das Orange. Und wenn man Rot und Blau miteinander vermischt, dann macht das Lila.“
Dann hörte sie auf. Und weil ich aus meinen eigenen Kindertagen weiß, dass es eine grandiose Erkenntnis war, dass Blau und Gelb Grün ergibt, hake ich natürlich nach: „Und was passiert, wenn man Blau und Gelb mischt?“
Meine Tochter schaut nachdenklich aus dem Fenster. Offensichtlich weiß sie es nicht. Nach einigen Momenten schaut sie mich fragend an: „Vielleicht Glitzer“?
Glitzer! Wäre das nicht fantastisch, wenn Glitzer eine Farbe wäre, die man im Tuschkasten mischen könnte? Ist das nicht ein wundervoller Blick auf die Welt, wenn Glitzer eine Farbe ist? Wenn Glitzer eine Möglichkeit im Denken ist?
Es sind die letzten Tage der Epiphaniaszeit. Das Licht des Weihnachtssterns ist in den letzten Wochen blasser geworden. Längst hat der Alltag mich wieder eingeholt. Aus dem hellen Licht des Weihnachtssterns, der meinen Blick auf das Geschehen in der Krippe gelenkt hat; aus dem Licht, das mir noch vor wenigen Wochen gezeigt hat, wie Gott sich in den Körper eines Babys zwängt, ist nur noch Sternenstaub übriggeblieben – aber es ist Sternenstaub, der glitzert!
Was passiert, wenn man diese merkwürdige Welt mit Glauben vermischt? Vielleicht entsteht dann Hoffnung. Was passiert, wenn ich die Sehnsucht nach Frieden mit einem Gebet vermische? Vielleicht entsteht dann Wärme. Was passiert, wenn ich mein kleines Leben mit Gott vermische? Ich glaube, dann entsteht Glitzer.
Und so, sind wir das Licht der Welt. (Mt 5, 14)
Download als PDF-Datei Losungen
Losungen
Werner Busch, Pfarrer - 20.01.2023
Seit 292 Jahren gibt es die Losungen in gedruckter Form. Sie kennen vielleicht diese kleine blaue Büchlein, das für jeden Tag des Jahres zwei Bibelverse und ein Gebet oder eine Liedstrophe bietet. Angefangen hat in Herrnhut, jener kleinen pietistischen Siedlung in der Oberlausitz, heute östlichster Zipfel unseres Landes, nur 2 Stunden mit dem Auto von Prag entfernt.
Ende der 1720er Jahre wurde dort für jeden Tag ein Bibelvers als Parole für den Tag ausgegeben. Eine Anregung zum Nachdenken, zum Glauben und zur Fürbitte. Morgens ging dort in Herrnhut ein Mitglied der Gemeinschaft von Haus zu Haus, ein Besuch bei jeder Familie, und man unterhielt sich über Bibelverse. Abends berichtete dieser Bruder in der Tagesversammlung von den Gesprächen und man betete füreinander. Bald fing man an, diese Verse auszulosen, einer für alle. Einmal im Jahr gab und gibt es in Herrnhut noch heute eine feierliche Versammlung, in der dieses Losen für jeden Tag eines noch kommenden Jahres durchgeführt wird.
Kein Orakel, kein Zauberspruch, nur eine Parole, ein Motto. Ein zufällig ausgewählter Spruch. Nicht selbstgewählt, damit man nicht nur im eigenen Saft schmort und sich nur die Rosinen herauspickt, um sie zu essen oder – in meinem Fall – doch lieber zur Seite zu legen. Lass die Bibelverse so zufällig und kunterbunt kommen, wie sie gezogen wurden. Manchmal treffen die Verse einen Menschen mitten ins Herz. Als Trost, als Erfrischung, als Warnruf. Manchmal musst Du nachlesen, aus welchem Zusammenhang das eigentlich kommt. Gut, wenn eine brauchbare Bibel in der Nähe ist. Manchmal kommt es Dir auch verschroben, unverständlich oder schlicht nichtssagend vor.
Die heutige Losung ist sicher nicht unverständlich. Sie steht im 3. Buch Mose, also in denTiefen von Gebotssammlungen für Leben und Gottesdienst. „Wenn du deinem Nächsten etwas verkaufst oder ihm etwas abkaufst, soll keiner seinen Bruder übervorteilen.“ (3. Mose 25,14)
Nun möchte man wie damals in Herrnhut den Führungsetagen der Energiekonzerte einen Besuch abstatten und ihnen dieses Verschen genüsslich vortragen. Nicht überall herrscht gleiche Knappheit, aber überall stiegen die Preise in gleicher Weise. Dort würde man uns vielleicht sogar zustimmen und in die Ministerien schicken, in die Parlamente, in die Ausschüsse und so ginge es weiter.
„Wenn du deinem Nächsten etwas verkaufst oder ihm etwas abkaufst, soll keiner seinen Bruder übervorteilen.“ Güter und Dienstleistungen werden längst nicht mehr nur nach ihrem materiellen Wert und der investierten Arbeit bepreist. Nachfrage, Börsenwert, Weltpreis und gutes Marketing – vieles spielt mit.
Die Erinnerung daran, dass es im Wirtschaften möglichst fair zugehen soll, klingt vielleicht hilflos. Aber sie gehört trotzdem und gerade deswegen in unsere Zeit. Sie ist nicht überholt, denn diese Worten schützen ein menschliches Bedürfnis nach Fairness.
Übrigens: Die Losung funktioniert auch andersherum. Nicht nur als kritischer Zwischenruf gegen die Mächtigen. Sie wendet sich auch an uns als Verbraucher. Manches wird unter Wert verscherbelt. Milch zum Beispiel, der Markt drückt die Preise und Landwirte baden es aus. Auch in unserer Innenstadt gibt es Geschäfte, die Kleidung, Spielzeug, Kaffee u.a. zu Preisen erschwinglich machen, die zu irgendjemandes Schaden sind. „Wenn du deinem Nächsten etwas verkaufst oder ihm etwas abkaufst, soll keiner seinen Bruder, seine Schwester übervorteilen.“
Zu dieser Losung ist noch eine Ergänzung ausgewählt werden. Ein Vers aus dem Neuen Testament bestärkt oder erklärt die tägliche Losung. Der steht heute im 2. Korintherbrie und weist auf etwas bzw. auf jemanden hin. „Wir sehen darauf, dass es redlich zugehe nicht allein vor dem Herrn, sondern auch vor den Menschen.“ (2. Korinther 8,21)
Redlichkeit vor Gott und den Menschen. Nicht nur im Herzen, nicht nur gefühlt und religiös. Redlichkeit muss auch konkret werden. Wir rühmen Aufrichtigkeit und ein waches Gewissen, eine verbindliche Art. Und lassen uns heute daran erinnern, dass die gesunde Balance in dieser Dreiecksbeziehung gefunden wird. Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du, und liebe Gott, der dich und jeden Menschen mit einem eigenen Gesicht und eigener Würde geschaffen hat.
Download als PDF-Datei Durch Finsternis zum Licht
Durch Finsternis zum Licht
Peter Kapp, Pfarrer - 18.01.2023
Das größte Landfahrzeug der Welt heißt einfach Bagger 288. Er wurde 1978 in Dienst gestellt und steht heute im Tagebau in Garzweiler. Von der Abbruchkante, die in diesen Tagen so viel im Fernsehen zu sehen war, kann man ihn sehen und hören. Sein Schaufelrad allein hat einen Durchmesser von 22 Meter. Er wiegt 13.000 Tonnen, ist so hoch wie der Kirchturm von St. Andreas und kann 240.000 Kubikmeter pro Tag abbaggern. Die Erde verschwindet förmlich in seinen riesigen Schaufeln. Wie ein Dinosaurier, ein Relikt aus alten Zeiten. Er steht für höher, schneller weiter, für eine damals neue Dimension in Fördermengen. Heute ist er ein riesiges Sinnbild für die Bedrohung unserer Erde, ein Zeichen für eine Form von Industrie, die eigentlich keine Zukunft mehr hat. Er frisst sich durch die Landschaft, lässt riesige Krater zurück, verwandelt die Erde in eine braune Mondlandschaft. Und dieses Ungetüm mit den beeindruckenden Ausmaßen fördert einen Rohstoff, der einst gefeiert wurde, der für Wachstum und Reichtum und Fortschritt stand und von dem wir heute längst wissen, dass er das Leben auf diesem Planeten ernsthaft bedroht und wir so schnell wie möglich aussteigen müssen aus dieser Form von Energieerzeugung.
Mich haben die Bilder von den Auseinandersetzungen rund um diesen Tagebau in der letzten Woche bewegt. Die Menschen, die dort friedlich demonstrieren, die sind ja fest davon überzeugt, dass eben diese Kohle, die dort noch lagert, zur Sicherheit unserer Energieversorgung nicht gebraucht wird. Studien unterstützen diese These. Formal ist der Konzern, der dort tätig ist, im Recht. Und zugleich ist klar, dass es eigentlich der Gesundung unseres Planeten dienen würde, wenn ab sofort so wenig Kohle wie möglich zur Energieerzeugung eingesetzt wird. Ein Dilemma. Wie so oft. Die uns anvertraute Schöpfung muss bewahrt werden. Wir müssen unser Tun und Lassen immer neu überprüfen. Wir müssen fragen, ob wir den Anforderungen, die eine gute und lebenswerte Welt an uns haben, noch gerecht werden können.
In diesen Wochen nach Epiphanias geht es um Licht. Um neue Erkenntnisse im Licht der Weihnacht. Die Jahreslosung ist wie eine hilfreiche Überschrift über dieses Jahr: Du bist ein Gott, der mich sieht. Wir dürfen sehen und hinsehen, wir dürfen Fragen stellen und nach den richtigen Wegen suchen. Damit wir nicht an den Abbruchkanten dieser Welt scheitern und in die Tiefe fallen. In einem Lied zu Epiphanias heißt es: Bleib bei uns, Herr, verlass uns nicht, führ uns durch Finsternis zum Licht.
Download als PDF-Datei Nur mit Lippenstift
Nur mit Lippenstift
Henning Böger, Pfarrer - 17.01.2023
„Nur mit Lippenstift,“ sagt sie, Anfang zwanzig: „Ohne Lippenstift gehe ich nicht aus dem Haus. Niemals. Ich will ja leuchten.“ So ist sie, seit sie dreizehn ist. Damals wurde ihr klar, wie sie aussieht. Mit der großen Narbe im Gesicht. Als sie ein Kind war, hat sie sich verbrannt. Ein Unglück mit Folgen. Es sei zwar besser geworden, sagt sie, aber damals mit dreizehn war es schlimm. Am liebsten hätte sie sich für immer verkrochen. Oder die Haare über die Narbe gekämmt. Aber das ging nicht.
„Lippenstift geht", sagt sie. Als sie gemerkt habe, wie hübsch ihre Lippen sind,
da gingen ihre Eltern mit ihr zur Kosmetikerin. Die bot freie Auswahl: hell leuchtend, dunkel geheimnisvoll und so viel mehr. Sie habe damals in den Spiegel gesehen und
sich gleich gemocht, sagt sie. Die Wirkung sei bis heute verblüffend: Andere schauen
ihr ins Gesicht - und lächeln. Kaum jemand achtet mehr auf die Narbe. Die ist immer
noch da, aber: „Ich bin nicht nur die Verbrannte. Ich bin auch die mit den schönen Lippen!“
Leben bedeutet zuallererst: Gesehenwerden. Mensch bin ich, weil ich gesehen und geachtet werde. Und ich bin ein Mensch, der andere wahrnehmen und achten soll.
Leben ist immer Gesehenwerden - auch von Gott. Daran erinnert die biblische Jahreslosung für dieses noch junge Jahr 2023. Es ist knapper Satz aus dem ersten Mosebuch: „Du bist ein Gott, der mich sieht!"
Ich höre diesen Satz so: Das, was wir Menschen sind, die Persönlichkeiten, die wir werden im Laufe unseres Lebens, die sind wir immer im Blick der Liebe Gottes.
Gott weiß um das, was gut ist und gelingt, und sieht auch auf das, woran wir zuweilen schwer zu tragen haben, wofür wir manches mal weder Kraft noch Worte finden können. Gott zieht mit seiner Liebe in dieses Leben ein und er bleibt uns darin verbunden.
Sie ist jetzt Anfang zwanzig und studiert. Ihr Regal für Lippenstift ist größer geworden. Aber danach fragt niemand, wenn sie Besuch hat. Nur sie denkt daran, denn ohne Lippenstift geht sie nicht aus dem Haus. „Ich will ja leuchten“, sagt sie:
„Alle Kinder Gottes leuchten. Und ich bin eines davon.“
Download als PDF-Datei Du bist ein Gott der mich sieht!
Du bist ein Gott der mich sieht!
Peter Kapp, Pfarrer - 16.01.2023
Keiner will sterben
Das ist doch klar
Wozu sind denn dann Kriege da?
Herr Präsident
Du bist doch einer von diesen Herren
Du musst das doch wissen
Kannst du mir das 'mal erklären?
Keine Mutter will ihre Kinder verlieren
Und keine Frau ihren Mann
Also: Warum müssen Soldaten losmarschieren?
Um Menschen zu ermorden mach mir das mal klar…
Diese Worte stammen von Udo Lindenberg, 1981 hat er sie geschrieben, sie sind also inzwischen mehr als vier Jahrzehnte alt. Vor ein paar Tagen bin ich ihnen wieder begegnet und merke, wie sehr sie noch aktuell sind und die Sehnsucht nach Frieden in unseren Tagen treffen. Tragisch ist das eigentlich. Lernen Menschen nichts? Nach dem ersten Weltkrieg wurde 1920 der Völkerbund gegründet, nach dem zweiten Weltkrieg die Vereinten Nationen. Sicherheitsrat, Vollversammlung, zahlreiche Gremien. Und doch sterben Menschen auf beiden Seiten der Kriegsparteien, weinen Mütter und Väter und Kinder um Söhne und Töchter.
Wozu sind Kriege da? Die Frage wird offen bleiben, sie ist eines der vielen Rätsel, mit denen wir leben müssen, so scheint es. Wer hätte vor ein paar Jahren oder nur Monaten gedacht, dass die Bilder des Schreckens wieder aus Europa stammen, dass die längst vergessenen Bilder der Trümmerberge wieder so aktuell werden können?
In unserer Stadt arbeiten Schülerinnen und Schüler der Gaußschule gerade an einer Geschichts- und Erinnerungstafel für die 1870/71 in Braunschweig verstorbenen französischen Kriegsgefangenen. Wir wollen sie im März auf dem Friedhof aufstellen. Es ist mühsam, hier die Fakten nach einer solch langen Zeit noch ans Licht zu bringen. Vieles wurde vergessen, vielleicht manches auch besser nicht erwähnt. Nach mehr als 150 Jahren kümmert sich der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als Teil seiner Bildungsarbeit mit jungen Manchen hier um Aufklärung und will damit dem Vergessen wehren. Das ist ein gutes Zeichen. Es dient dem Frieden. Andere Gedenktafeln stehen bereits auf unserem Friedhof und auch auf dem Stadtfriedhof. Es lohnt sich, diese Tafeln zu entdecken.
Die Jahreslosung dieses noch jungen Jahres lautet: Du bist ein Gott der mich sieht. Ein Gott also, der uns beim Namen kennt, der niemanden übersieht, bei dem jede und jeder ein Gesicht hat. Auch die, die in diesen Tagen sterben müssen, die oft in aller Schnelle beigesetzt werden, wenn überhaupt.
Auch wenn wir keine Antwort haben, müssen wir die Frage lebendig halten, die Udo Lindenberg schon vor mehr als 40 Jahren gestellt hat: Wozu sind Kriege da? Vielleicht gelingt es ja irgendwann doch, dass wir einander als Menschen begegnen und nicht mehr in den Krieg sondern in den Frieden ziehen.
Download als PDF-Datei Glück ?!
Glück ?!
Cornelia Götz, Dompredigerin - 13.01.2023
Vorgestern landete eine Anfrage auf meinem Schreibtisch ob ich bereit wäre, mich mit Vertretern anderer Religionen zu treffen und über „Glück“ zu sprechen. Ich bin ein bisschen skeptisch.
Die Frage nach dem „Glück“ scheint mir ein Hype zu sein. Es gibt jede Menge Definitionen und Anleitungen zum Glücklich-Sein. Die Google-Suchmaschine zeigt so viele Websiten an, dass sich in mir der leise Verdacht regt, dass es sich um eine riesige Welle handelt, denn, so lese ich:
„Jeder will es, kaum jemand hat es. … Trotzdem dreht sich unser ganzes Leben um Glück … Glück ist das letzte Ziel menschlicher Handlungen. Glück ist das einzige, worüber hinaus nichts anderes mehr gewünscht werden kann …“ Oder ein bisschen nüchterner: „Glück ist im Grunde nichts anderes als der mutige Wille, zu leben, indem man die Bedingungen des Lebens annimmt".
Glück ist systemrelevant.
Darum wird versucht zu messen, wer am glücklichsten ist und da wir uns schließlich jede und jeder selbst als unseres Glückes Schmied begreifen sollen, gibt es auch jede Menge praktische Tipps, von denen ich nicht weiß, ob
sie glücklicher machen.
Jedenfalls scheinen folgende Fragen, die ich nun beantworten möge, gut dazwischen zu passen:
1. Kann Religion heutzutage noch glücklich machen?
2. Was macht Sie glücklich innerhalb Ihres religiösen Spektrums?
3. Gibt es bestimmte Methoden / Rituale in Ihrer Religion, um Glück zu finden?
5. Welcher Glaubenssatz hat Sie zu Ihrem persönlichen Glück geführt?
6. Wie ist Glück in den jeweiligen religiösen Schriften verankert?
Diesen sechs Fragezeichen füge ich viele weitere hinzu und vielleicht geht es Ihnen ähnlich wie mir. Vielleicht haben Sie aber auch Antworten.
Ich frage mich: Soll Religion überhaupt glücklich machen, ist das ihr Sinn? Sind Sie deshalb heute Abend hier? Suchen Sie hier Glück?
Vielleicht finden Sie hier einen geborgenen Ort oder einen hilfreichen Gedanken, gehen unter Gottes Segen heim. Dann könnten Sie Glück haben. Aber ist das Ergebnis religiöser Methode?
Ich denke, unser Glauben kann trösten und Orientierung schenken, Hoffnung erst recht, er kann Mut machen und unseren Blick weiser, er setzt uns in Bewegung. Ist das Glück?
Ja, schon. Denn so finden wir in ein erfülltes Leben.
Und nein, das hat nichts mit einem religiösen Spektrum zu tun oder mit einem Glaubenssatz, meinem Bekenntnis. Da halte ich es eher mit dem sumber warumbe der Mystiker – Glück ist „ohne warum“, wir können es nicht machen, sondern nur bestaunen. Und während ich das noch bewege sehe ich eine schöne Szene draußen: das fährt eine Frau mit ihrem e-Bike und ordentlichem Tempo und verliert etwas aus dem Korb. Ein Mann sieht es, hebt es auf und ruft. Aber sie hört es nicht. Da rennt er hinterher. Windschnell. Und holt das e-Bike ein.
Und dann ein Moment voller Glück: Sie, weil das Verlorene gefunden wurde. Er, weil er so schnell rennen kann.
Download als PDF-Datei Winterschlaf beendet
Winterschlaf beendet
Cornelia Götz, Dompredigerin - 12.01.2023
Gestern ist unsere Schildkröte aus ihrem Häuschen rausgekommen.
Am 11. Januar! Mit blitzblanken Augen hat sie um sich geguckt und es würde mich nicht wundern, wenn sie gehofft hat, frische Erdbeeren vorzufinden oder doch wenigstens ein Löwenzahnblatt. Aber nichts dergleichen ist im Hause, wie gesagt: es ist Januar und da hält eine brave Landschildkröte normalerweise Winterschlaf.
Wenn es denn Winter ist.
Früher haben wir die Winterschlafkiste gedämmt und die Temperatur kontrolliert und gebibbert, dass die kleine Schildkröte weder erfriert noch verfault oder von Mäusen gefressen wird. Jetzt sind wir froh, wenn sie im Herbst den Stoffwechsel runterfährt und es kühl genug ist, dass er nicht anspringt und sie verhungert. Denn das kleine Panzertier gehört seit fast zwanzig Jahren zur Familie und ist als Vortester ein Garant für schmackhafte Tomaten, Gurken und Erdbeeren – was nach nichts schmeckt, lässt sie stehen. Weißkohl und Möhren verschmäht sie. Also gibt es Trockenfutter.
Es ist ja Januar.
Sie wird es überstehen. Sie ist kein Jungtier mehr. Aber ein Seismograph für die Klimakrise. In einem Kinderbuch könnte sie vielleicht Radio hören und wäre rausgekommen, weil im Wetterbericht eine Warmfront angekündigt wurde. Oder sie hätte sich aufgeregt als ein Interviewpartner auf die Frage nach der Berechtigung für die Besetzung von Lützerath gemeint hat, er wäre wahnsinnig stolz auf unsere Klimagesetzgebung und jetzt scheitere es nur noch daran, dass es dauern Protest gegen Windparks gäbe. Da sollten sich die Aktivisten lieber mal darum kümmern.
Schildkröten haben keine Hände, mit denen man sich die Augen reiben könnte. Sie können also nur friedlich protestieren gegen die zu hohen Temperaturen und den Winterschlaf abbrechen.
Und wir?
Was tun wir?
Über diesem Jahr heißt es: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Ich höre das auf viele verschiedene Weise. Eine könnte sein, dass er uns aus den Augen seiner Geschöpfe ansieht und uns erinnert, dass wir in Frieden miteinander leben wollten. Oder mit Dorothee Sölle: „Zärtlich dreht sich die erde / der kleine blaue planet / zur liebe geschaffen / auf unsere liebe wartend“.
Download als PDF-Datei Wie die Schafe...
Wie die Schafe...
Cornelia Götz, Dompredigerin - 11.01.2023
Im Matthäusevangelium heißt es in dieser Woche: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe, darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“
Es braucht keine Sendung, um dieses Gefühl wachzurufen: denn zwischen den Mechanismen von Macht und Gewalt, angesichts der Krisen und politischen Radikalisierung fühlt man sich ohnehin deutlicher als irgendwem lieb sein kann wie ein Schaf: unbedarft, schutzlos, ungeeignet zur Verteidigung, nicht ernstgenommen - bestenfalls mit Lieferanteneigenschaften gesegnet.
Dass einem in solcher Haut nicht wohl ist - jedenfalls nicht unter Wölfen, braucht keine gesonderte Erklärung. Darum kann ich verstehen, wenn Menschen, denen es um etwas geht, versuchen, aus der Herde auszubrechen und nicht länger wie die Schafe hin- und hergetrieben werden wollen. Und ich ahne, dass die Wahl der Methoden dann einem Ritt auf der Rasierklinge gleicht.
Ob es so denen in Lützerath geht, die in Baumhäusern und Zelten verhindern wollen, dass der Braunkohletagebau erweitert und die letzten Häuser abgebaggert werden? Man sieht kommen, wie schweres Gerät ihre Trutzburgen und Barrikaden beiseiteschiebt und mit ihnen die Angst vor dem Klimawandel und die Wut über all die vertane Zeit, die ungefällten Entscheidungen nach den großen Klimaabkommen; es geht schließlich nicht nur um den Ausstieg sondern vor allem um den erfolgreichen Umstieg in eine andere nachhaltigere Energiewirtschaft.
So braucht es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie schwer es ist, zu vermitteln zwischen Verzweiflung und Zorn, Sanftmut und Trauer.
So braucht es ungemeine Klugheit: um Gewalt zu vermeiden, die Gruppe zusammenzuhalten, Polizisten nicht zu verletzten.
So braucht es Lauterkeit und Klarheit, um sich nicht instrumentalisieren zu lassen.
Und nicht zuletzt brauchen wir Menschen, die dieses „es“ sein wollen und können, die klug sind wie Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben. Hoffentlich gibt es die auch in Lützerath und an all den anderen Orten in unserer Welt, an denen Krieg und Krisen Menschen auseinander und gegeneinander treiben.
Download als PDF-Datei Kranitz
Kranitz
Cornelia Götz, Dompredigerin - 09.01.2023
Ich weiß nicht, ob Sie Kaus Kranitz kennen? Ich bin überhaupt keine Serienguckerin und deshalb niemals mit Empfehlungen vornedran, sondern werde immer von anderen vor den Fernseher geschoben (bis auf Downton Abbey natürlich).
Jetzt also „Kranitz“. Ein Paartherapeut bietet jeweils drei Sitzungen zum bescheidenen Vorzugspreis von 1500,00€ an – mit Geld-zurück-Garantie falls am Ende doch die Trennung ansteht.
Jede Folge widmet sich einem Paar und seinen allermeist ziemlich schrägen aber dann doch zeitgemäßen Problemen, Ärgernissen und Missverständnissen und es ist schon sehr witzig zu sehen, wie die diversen Schauspielerinnen und Schauspieler sich improvisierend in Ökofreaks, YouTuber und Verschwörungstheoretiker verwandeln und dabei den Beziehungscrash forcieren.
Der Therapeut hört zu, spiegelt, verteilt Schuld um und vor allem: er bestärkt seine Klienten in ihrem jeweiligen Irrsinn, so dass die weder an sich selbst noch an ihrer verqueren Weitsicht zweifeln. Frisch ermutigt und von sich selbst überzeugt, erscheint die etwas festgefahrene Beziehung und der schwierig gewordene Partner in neuem Licht. Keine Rede von Geld zurück.
Kranitz zuckt mal kurz, wenn Weltanschauungen oder Liebesspiele gar zu bizarr daherkommen aber er verkneift sich jede irritierte Reaktion. Sein Erfolgsrezept heißt: genau hinsehen aber nicht einmischen, nicht kommentieren, nicht urteilen.
Und so schaut man durch seine Augen auf sehr verschiedene Menschen und ihre Versuche mit dem Leben klarzukommen und schämt sich zugleich ein bisschen für die eigene Spezies.
Was wir erleben ist ein bisschen Nabelschau, ein bisschen Voyeurismus und jedenfalls ein Geschäft. Klug spielen die Serienmacher mit einer schlichten Einsicht: Ohne die Macht des Geldes, wäre der Ausgang all dieser Gespräche offen – wäre der Blick auf die Menschen ein anderer, trauriger vielleicht aber auch klarer, barmherziger.
Auch hinter der Jahreslosung steht ein Beziehungskonflikt. Es geht um ein soziales Gefälle und um Liebe, um unerfüllte Träume. Hagar flieht aus all dem in die Wüste. Dort lässt sie sich von Gott finden. Dort schöpft sie Mut für den nächsten Schritt, denn „Du bist ein Gott, der mich sieht“, der hinsieht.
Er entlässt Hagar nicht aus der Verantwortung.
Er erspart ihr nicht die Demütigung.
Aber er öffnet ihr eine Zukunft, die sich nicht darauf stützt, sich selbst zu belügen sondern bei der Wahrheit zu bleiben. Und wir sehen: Die Menschen der biblischen Geschichte sind nicht die besseren Exemplare unserer Art – aber sie werden anders angesehen.
Download als PDF-Datei Das alte Jahr vergangen ist
Das alte Jahr vergangen ist
Heiko Frubrich, Prädikant - 07.01.2023
„Das alte Jahr vergangen ist“ – wir haben gerade die Choralbearbeitung von Johann Sebastian Bach gehört. Es ist eine ruhige Melodie, die eine mögliche Stimmung eines Jahreswechsels zum Ausdruck bringt: ein besinnlicher Blick zurück und ein vorsichtiger und vielleicht auch hoffnungsvoller Blick nach vorne. Das spiegelt auch der Text der ersten Strophe wider: „Das alte Jahr vergangen ist; wir danken dir, Herr Jesu Christ, dass du uns in so groß Gefahr bewahrt hast lange Zeit und Jahr.“
Schön, wenn man das überzeugt so singen kann. All jenen, die im abgelaufenen Jahr auch Schweres und Schmerzhaftes erleben mussten, werden diese Worte nicht so leicht über die Lippen gehen. Es ist tatsächlich schwer, dankbar zu sein für herbe Schicksalsschläge – zumindest, wenn die Wunden noch frisch sind und die Schmerzen noch stark. Oftmals brauchen wir Zeit, damit diese Wunden heilen und dann kann sich auch unser Blick verändern und wir erkennen im Nachhinein, dass auch vermeintlich Schlechtes seine positiven Seiten haben kann.
Dazu lässt uns der Choraltext allerdings keine Zeit, denn er verändert auf einmal seinen Duktus. Da wird aus dem ruhigen Danklied auf einmal beinahe ein reformatorischer Revolutionshymnus. Die dritte Strophe heißt in einer alten Textfassung: „Entzieh uns nicht dein heilsam Wort, welchs ist der Seelen höchster Hort: Vor Papst Lehr und Abgötterei behüt uns, Herr, und steh uns bei.“
Donnerwetter, da ja mal einer nun wirklich kein Blatt vor den Mund genommen. Da werden die päpstlichen Lehren und die Abgötterei im wahrsten Sinne des Wortes in einem Atemzug genannt und gesungen und es wird darum gebeten, dass Jesus uns vor beidem behüten möge. Bei einem ökumenischen Gottesdienst sollte man diese Strophe vielleicht lieber weglassen. Und überhaupt hat sich ja das Thema Ökumene hier bei uns ein Stück weit, man könnte fast sagen, in eine gute Richtung verselbstständigt.
Während der jüngst verstorbene emeritierte Papst uns Protestanten ja noch abgesprochen hat, eine eigene Kirche zu sein, funktioniert die Ökumene an Basis sehr pragmatisch und segensreich. So feiern katholische Glaubensgeschwister regelmäßig gemeinsam mit uns Gottesdienst und auch Abendmahl und ich finde: Das ist wirklich prima. Wir müssen auf das schauen, was uns verbindet und nicht auf das, was uns trennt. Und von diesem Verbindendem gibt es überreichlich – Gott sei Dank!
Und so schließt der Choral dann auch wieder versöhnlich mit Worten, die für alle Menschen gelten, die sich zu Christus gehörig fühlen: „Wir loben und wir preisen dich mit allen Engeln ewiglich. O Jesu, unsern Glauben mehr' zu deines Namens Ruhm und Ehr.“ So sei es. Amen.
Download als PDF-Datei Leitsterne
Leitsterne
Heiko Frubrich, Prädikant - 06.01.2023
Wir kommen von Weihnachten her. Wir sehen das Licht in der Krippe und auch von den Weihnachtsbäumen im Hohen Chor leuchtet es warm zu uns herunter. Licht spielt an Weihnachten eine große Rolle, doch heute, am Epiphaniastag ebenso. Die biblischen Texte überbieten sich geradezu, was dieses Thema angeht. „Die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint jetzt“, lesen wir im 1. Johannesbrief. „Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir!“ schreibt der Prophet Jesaja und Paulus formuliert: „Gott hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben.“ Last but not least berichtet das Evangelium für den heutigen Tag von den drei Weisen aus dem Morgenland, die dem Licht des Sterns gefolgt sind, um zum Kind in der Krippe zu gelangen.
Welchem Licht, welchem Leitstern folgen wir? Gibt es da diesen einen, in dessen Leuchten alles andere verblasst und nebensächlich wird? Oder sind es eher eine Vielzahl von Leitsternen, die unser Leben bestimmen, zwischen denen wir unseren Weg finden müssen und auf die wir je nach Lebenssituation und der Rolle, die wir gerade spielen, abwechselnd schauen?
Es ist nicht leicht, in einem solchen Lichtgewirr, sauber auf Kurs zu bleiben und manchmal bemerken wir erst sehr spät oder sogar zu spät, dass wir dem Falschen oder den Falschen nachgelaufen sind. Wenn die Karriere im Beruf und der schicke Sportwagen und das gut gefüllte Bankkonto unsere Leitsterne sind, dann werden wir irgendwann die Erfahrung machen, dass unsere Wahl nicht die beste war, denn wenn die wirklich existenziellen Fragen unseres Lebens den Wind etwas anfachen, dann pustet er diese Leitsterne aus wie eine Kerze im Sturm und wir finden uns im Dunklen wieder.
Das kann uns mit den Lichtern, von denen die Bibel heute spricht, nicht passieren. Sie funktionieren auf unserem Lebensweg besser als jedes Navigationssystem. Sie schenken uns eine universelle Orientierung, die tatsächlich auf alle und in allen Lebenssituationen passt.
Denn das Licht, an dem wir uns ausrichten sollen und dürfen, führt uns zu unseren Zielen über die Wege des Respekts, der Vergebungsbereitschaft, der Barmherzigkeit und der Liebe. Und es schenkt uns Erleuchtung, die uns davor bewahren kann, uns in dunkle Sackgassen zu manövrieren oder finsteren Gestalten hinterherzulaufen, die im wahrsten Sinne des Wortes zwielichtig sind. Mangel herrscht an diesen in unserer Zeit leider nicht.
Einer, der sich höchstpersönlich anbietet, unser Leitstern zu sein, ist Jesus Christus. Ich bin das Licht der Welt, sagt er von sich. Wer mir nachfolgt, der wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben. Klingt doch ganz ordentlich, wie ich finde. Sich darauf einzulassen, ist allemal einen Versuch wert. Amen.
Download als PDF-Datei Ein Hobby?
Ein Hobby?
Cornelia Götz, Dompredigerin - 05.01.2023
An der Krippe ist es ruhig geworden. Dir Hirten sind wieder bei ihren Herden und die Könige werden erst morgen eintreffen.
Maria und Josef sind allein mit ihrem Kind und teilen so die Situation von Eltern, die sich auf sich selbst gestellt finden …– alleingelassen mit den Fragen kindlicher Daseinsfürsorge als wären, so stand es am Wochenanfang in der Süddeutschen Zeitung, Kinder ein aufwendiges kompliziertes Hobby. Selbst schuld, wer glaubt, sich mit kleinen Menschen umgeben zu müssen.
Wer keine funktionierende Großfamilie in nächster Nähe, ausreichend Geld und Riesenglück beim Ergattern von Krippen-oder Hortplätzen hat, rennt von Job zu Job, schweißgebadet angesichts all der Infekte nach zwei Jahren Isolation mit Maske und Desinfektionsmitteln, in denen ein kindliches Immunsystem nichts trainieren konnte.
Wo es keinen Fiebersaft gibt, machen Eltern nachts Wadenwickel, wenn sie wissen, wie das geht. Wo es kein freies Bett im Krankenhaus gibt, wird manche bisher beherrschbare Krise zum lebensbedrohlichen Nervenkrieg.
Ist das Kind endlich genesen, beginnt alles von vorn. Eingewöhnung in die Kita, in der Erzieherinnen fehlen und kaum Zeit ist für individuelle Zuwendung. Schule in zu großen Klassen mit zu wenig Lehrerinnen…
Und alles immer auf dünnem Eis.
Ich könnte das noch lange ausmalen.
Die SZ hat recht, wenn sie schreibt, jedes Zucken von Elon Musk oder Boris Becker bekommt mehr Aufmerksamkeit, als der Notstand, in dem sich Familien mit Kindern befinden.
Dabei gilt, dass es Kinder, die hier unter uns geboren worden sind, sehr viel besser getroffen haben als die allermeisten auf dieser Erde. Wer denkt an das Lebensrecht eines Kindes in Afghanistan, wen kümmern die kleinen Menschen in den Flüchtlingslagern an den Rändern Europas, im Kriegsgebiet?
Maria und Josef werden noch eine Weile mit ihrem Kind unterwegs sein. Was zunächst nur eine staatliche Schikane war, wird sich nun zu einem Fluchtgrund ausweiten und es wird dauern, bis sie mit ihrem Kind einigermaßen normale häusliche Verhältnisse haben… -
Darum sollten wir uns von der Weihnachtsgeschichte nicht nur freundlich bescheinen sondern aufrütteln lassen, denn in dem Gotteskind begegnet uns jedes Kind. Und braucht uns – auch in unserem reichen Land auf beschämend dringliche Weise.
Download als PDF-Datei 20*C+M+B+23
20*C+M+B+23
Heiko Frubrich, Prädikant - 04.01.2023
Es ist eine schöne und eine, wie ich finde, wertvolle Tradition, dass Ihr, liebe Sternsingerinnen und Sternsinger zu Beginn eines jeden Jahres zu uns in den Dom kommt. Ihr habt uns gerade Eure Segensformel über die Tür geschrieben, unter der auch in diesem Jahr wieder einige Hunderttausend Menschen unseren Dom betreten werden. Und wenn diese vielen Menschen dann einen kurzen Blick nach oben werfen, dann werden sie daran erinnert, dass Gottes Segen sie auf ihrem Lebensweg begleitet. Das ist ein großes Geschenk.
Caspar, Melchor, Baltasar, das bedeuten die drei Buchstaben CMB in der Segensformel über unserer Domtür – nicht! Gerade wir Protestanten brauchen ja immer mal wieder eine kleine Erinnerung daran, denn nicht jede und jeder von uns hat diesen Segen über seiner Haus- oder Wohnungstür. Also erst einmal eine kleine Segenskunde:
Die Drei Buchstaben CMB bedeuten „Christus mansiom benedicat“ Christus segne dieses Haus. Der Stern zwischen der 20 und dem C ist ein Symbol für den Stern von Bethlehem, dem die drei Weisen aus dem Morgenland gefolgt sind. Hinter jedem Buchstaben ist ein Kreuz zu finden. Diese drei Kreuze sind ein Symbol für die Dreifaltigkeit Gottes, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Und, nun wir es ganz einfach, die 20 am Anfang und die 23 am Ende bilden die Jahreszahl 2023.
Die Sternsinger segnen unsere Häuser. Das ist großartig. Doch sie tun noch viel mehr. Denn sie werden durch ihr Tun selbst zum Segen für viele andere. In diesem Jahr lautet das Motto der Aktion: „Kinder stärken, Kinder schützen“. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sind jährlich eine Milliarde Kinder physischer, sexualisierter oder psychischer Gewalt ausgesetzt. Dem entgegenzuwirken, kostet Geld und dafür sammeln die Sternsinger. Asien ist dieses Mal die Schwerpunktregion. So wird beispielsweise die ALIT-Stiftung in Indonesien unterstützt, die jungen Menschen unter anderem in Präventionskursen Werte und Verhaltensweisen nahebringt, mit denen sie sich selbst besser schützen können: Zusammenhalt, Freundschaft, zuverlässige Beziehungen und respektvolle Kommunikation.
In der Sternsingerbewegung helfen Kinder Kindern. Und längst ist all das keine rein katholische Bewegung mehr. In vielen Gruppen sind auch evangelische Kinder mit unterwegs. Das ist gelebte Ökumene – pragmatisch, freundlich und im wahrsten Sinne des Wortes: segensreich!
Kurzum: Ein herzliches Dankeschön an Euch! Es ist großartig, dass Ihr unterwegs seid und uns heute hier im Dom besucht und ich bin mir sicher, dass Ihr den Segen nicht nur über die Türen schreibt, sondern dass unser großer Freund Euch auch mit seinem Segen bei Eurem Tun begleitet und sich über Euch freut. Amen.
Download als PDF-Datei Glück gehabt!?!
Glück gehabt!?!
Heiko Frubrich, Prädikant - 03.01.2023
Glück gehabt – lediglich zwei durch Feuerwerk verletzte Menschen im Braunschweiger Klinikum, so war es heute in der Zeitung zu lesen – zwei von 250.000, naja, das geht ja noch. Bei letzten Böller-Jahreswechsel 2019 auf 2020 wurde in Braunschweig eine Frau im Gesicht schwer verletzt und ein Mann, den ich persönlich gut kenne, verlor ein Auge. Ja, da haben wir dieses Mal ja richtig Glück gehabt. Klar, die Feinstaubmessgeräte registrieren Höchstwerte, die Stadtreinigung muss tonnenweise Knaller- und Raketenreste entsorgen und so manches Tier ist total traumatisiert, aber irgendwie doch: Glück gehabt.
Weniger Glück gehabt haben hingegen ein junger Mann aus der Nähe von Leipzig, der durch Pyrotechnik ums Leben kam, der zweijährige Junge aus Unna, der durch einen Knallkörper schwer verletzt wurde, der Bewohner eines Hauses in Elmshorn, dass durch Feuerwerkskörper in Brand geriet und der dann an einer Rauchgasvergiftung starb und die anderen circa 8000 leicht und schwer Verletzten, die es dieses Jahr gab. Naja, man kann halt nicht immer Glück haben.
Dann soll man eben zu Hause bleiben, wenn einem das alles zu riskant ist. Ja, das ist durchaus eine Option, wenn man dann nicht derart vom Pech verfolgt ist, dass einem, wie dem genannten Elmshorner die eigene Bude in Brand gesetzt wird. Ach ja, und es ist auch keine Option für die Rettungskräfte der Sanitätsdienste, für die Feuerwehr und die Polizei, denn die haben schließlich Dienst.
Und wenn die dann in mehreren Städten in Deutschland, so auch in Peine gleich nebenan, mit Böllern und Raketen beschossen, oder so wie in Berlin gezielt in Hinterhalte gelockt und verletzt werden, dann haben die eben auch mal kein Glück gehabt – Berufsrisiko.
Ja, natürlich, das Problem sind nicht die Böller. Das Problem sind die Menschen, denen es an Verständnis, an Kontrolle, an Willen, an Hirn oder auch an einer Mischung aus all dem fehlt. Doch es bleibt eben festzustellen, dass es in 2020 und 2021, in denen das Böllern verboten war, nur einen Bruchteil von Ausschreitungen und Verletzungen und Toten gab, von der sauberen Luft zum Jahreswechsel mal ganz zu schweigen.
Und ja, die Ausschreitungen gegen Rettungskräfte, Feuerwehr und Polizei, sie sind ein deutliches Zeichen dafür, dass es noch viel zu tun gibt, unter anderem bei der Vermittlung unserer gesellschaftlichen Werte. Daran gilt es zu arbeiten, auf allen Ebenen. Und jene, die man bei den Ausschreitungen hat dingfest machen können, sollten die Konsequenzen durchaus auch spüren.
Vielleicht bin ich ja zu einfach strukturiert, aber es scheint mir eine zwingende Logik zu sein: Mit Böllern: Ausschreitungen durch Chaoten, Verletzte und Tote im ganzen Land - ohne Böller: weitgehend friedlicher Jahreswechsel – so bewiesen in 2020 und 2021. Das könnte man ja erst einmal so belassen, bis die anderen Probleme gelöst sind. Ich drehe doch bei einem Rohrbruch auch erstmal den Haupthahn zu und kümmere mich dann um die lecke Stelle. Und wer partout nicht weiß, was er mit dem nicht ausgegebenen Geld machen soll: Brot für die Welt ist immer eine gute Adresse.
Der Apostel Paulus schreibt: „So zieht nun an herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld.“ Vielleicht würden diese Werte in aktuellen Debatte ja weiterhelfen. Amen.
Download als PDF-Datei Du bist ein Gott, der mich sieht!
Du bist ein Gott, der mich sieht!
Heiko Frubrich, Prädikant - 02.01.2023
Für jedes neue Jahr gibt es ein Bibelwort, so auch für 2023. Doch die Geschichte, aus der die Jahreslosung für 2023 stammt, ist komplex und sperrig. Da ist das kinderlose jüdische Ehepaar Abram und Sarai und da ist die ägyptische Sklavin Hagar, die zur Leihmutter gemacht wird. Durch ihre Schwangerschaft begehrt die Sklavin gegen ihre Herrin auf und die wehrt sich so massiv, dass die Sklavin Hagar flüchtet. Sie bricht auf zurück in ihre Heimat Ägypten. Doch dort kommt sie nicht an, denn unterwegs an einem Brunnen in der Wüste begegnet ihr ein Engel des Herrn. Und der geleitet sie nun nicht sicher weiter nach Ägypten in ihre Heimat und damit in die Freiheit, nein, er schickt sie dahin zurück wo sie hergekommen ist und sagt zu ihr: Demütige dich unter deine Herrin.
Erstaunlicherweise gehorcht Hagar. Aber sie geht nicht einfach so wieder zurück, wie sie gekommen ist. Hagars Lebenssituation hat sich durch die Begegnung mit dem Engel verändert. Sie ist Ägypterin. Sie wird an ihre ägyptischen Götter geglaubt haben, nicht an den Jahwe, den Gott der Juden, den Gott Abrams und Sarais. Und nun wendet sich dieser Gott ihr zu. Er schickt seinen Engel. Das ist im Übrigen überhaupt das erste Mal, dass Gott durch einen Engel zu einem Menschen spricht. Und es ist eine Frau, die überdies auch noch an andere Götter glaubt und nicht an ihn.
Hagar erkennt in dieser Situation, welche Gnade ihr zuteilwird, und sie nennt Gott beim einem Namen, der nun unsere Jahreslosung für 2023 ist: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“
Hagar, die Sklavin, von ihrer Herrin unterdrückt und übel behandelt, Hagar, die Sklavin, über deren Körper verfügt wird, wie über einen Gegenstand, sie erfährt Ansehen bei Gott – sie, die zuvor noch nicht einmal an ihn geglaubt hat. Gott sieht in ihr den Menschen, der Hilfe braucht, den Menschen, dem übel mitgespielt wurde, den Menschen, der aber auch selbst hochmütig gegenüber Sari war. Gott sieht den Menschen – und das genügt ihm, um sich Hagar zuzuwenden.
Dieser Gott, der sich Hagar zuwendet, ist auch unser Gott. Es ist unser Gott, der seine Liebe so wenig an Bedingungen knüpft, dass er sie sogar Menschen zuteilwerden lässt, die nicht an ihn glauben. Gottes Motivation speist sich nicht aus unserer Frömmigkeit, nicht aus der Anzahl spiritueller Höchstleistungen und auch nicht aus der Summe der von uns gezahlten Kirchensteuer. Gott sieht uns Menschen in unserem Leben und er sieht uns aus seinem Fokus der Barmherzigkeit und der Liebe.
Du bist ein Gott, der mich sieht – das können auch wir sagen, jeden Tag aufs Neue. Es ist ein Wort, dass wir uns gut an den Badezimmerspiegel kleben können, um damit in jeden neuen Tag zu starten, denn dieses Wort gilt immer und in jeder Lebenssituation. Gott sieht uns. Wir haben Ansehen bei ihm.
Das war in 2022 so, und das wird auch in 2023 ganz sicher so bleiben. Gott sei Dank! Amen.
Download als PDF-Datei