Noch eine Chance
Noch eine Chance
Cornelia Götz, Dompredigerin - 20.11.2024
Die Geschichte vom Feigenbaum also..
Sie wird zuerst Menschen erzählt, die Hunger kannten und für die die Feige nicht irgendeine Frucht sondern ein ganz besonders wichtiges und wertvolles Nahrungsmittel war.
Sie konnten einordnen, wie dramatisch es ist, wenn solch ein Baum keine Früchte trägt, sondern jahrelang guten Boden blockiert.
Ganz zu schweigen von der Wasserverschwendung.
Jede und jeder weiß: das ist nicht zu verantworten.
Boden, Wasser, Pflege können nicht jahraus jahrein ohne Ertrag vertan werden.
Kein Wunder, dass der Besitzer nach drei fruchtlosen Jahren, in denen eine Ernte erwartbar gewesen war - und diesen drei Jahren gehen weitere voraus, in denen das Bäumchen erst einmal heranwachsen muss - sagt: „Hau ihn ab.“
Der Preis ist zu hoch.
Drei Jahre Stagnation.
Drei Jahre Krise.
Drei Jahre Krieg.
Niemand kann die Augen davor verschließen, dass es so nicht weitergeht.
Aber man kann verschieden reagieren.
Die Situation ist nicht alternativlos.
Der Besitzer konstatiert eine Fehlinvestition von Zeit und Geld, einen Irrweg. Er muss, wenn er nicht ruiniert werden will und also auch den Ruin des Gärtners mit einpreisen will, eine vernünftige Entscheidung treffen. Das tut er.
Den Gärtner wird das treffen. Er soll den Baum abhauen. Das schmerzt, denn er hat geackert und gewässert, hat Tag für Tag nach dem Bäumchen gesehen und seine Hoffnung hineingesetzt.
Natürlich, er versteht ja sein Handwerk, hat auch er gesehen, dass der Baum mickert und sich Sorgen gemacht.
Aber er hat auch sein Herz und seine Hoffnung daran gehängt.
Wegwerfmentalität, Resignation, Kapitulation kann und will er sich nicht leisten.
Erfolglosigkeit auch nicht.
Und so bittet er: Gib ihm noch ein Jahr!
Es ist die Bitte um begrenzten Aufschub,
die Bitte darum, genau jetzt noch eine Frist zu bekommen.
Der Gärtner verschiebt das Problem nicht auf irgendwann ans Ende der langen Bank. Er sieht es. Er teilt die Erwartung an den Baum. Er verschließt sich der Verantwortung für die vergeblich eingesetzten Ressourcen nicht.
Er bitte konkret. Gib mir ein Jahr.
Wenn es dann keine Früchte gibt, hau ich ihn ab.
Buß- und Bettag.
Wir leben in anderen Zusammenhängen als die, die diese Geschichte zunächst hörten – aber auch wir sorgen uns, sind beschäftigt mit den aktuellen Krisen,
manches scheint bedrohlich zu sein.
Insofern hören wir eine beunruhigende Geschichte mit offenem Ende.
Und eine ehrliche. Denn deutlich ist zunächst, dass es in fruchtloser gefährdeter Zeit nicht hilft, zu verharmlosen oder wegzuschauen.
Und doch beinhalten diese wenigen Verse ein kleines Wunder: denn der Text endet zwar nicht mit einer Erfolgsgarantie, das Scheitern ist noch nicht abgewendet - aber er endet auch nicht mit Enttäuschung.
Denn obwohl der Fürsprecher für das Bäumchen nur der Kleine in der Hierarchie ist, der Anwalt der Hoffnung, erwirkt er einen Aufschub, eine letzte Chance.
Offenbar kommt es genau auf ihn an.
Denn es ist nicht egal, ob der Gärtner Verantwortung übernimmt, sich solidarisch verhält, sich einsetzt oder eben nicht.
Dass er bereit ist, zu graben und zu wässern - also deutlich mehr zu geben, als vernünftig scheint, denn Feigen brauchen das Umgraben nicht, Wasser genügt - verändert die Situation, verhindert das unmittelbare Aus.
Das Engagement dieses Einzelnen, der weder Besitzer noch Entscheidungsträger ist, hat in diesem konkreten Moment für ein konkretes Geschöpf existentielle Bedeutung.
Der Gärtner bittet für seinen Baum.
Es ist eine Fürbittaktion - mit offenem Ausgang.
Es ist eine Fürbittaktion ins Offene hinein.
Sie erzählt absolut realistisch von Mut und Vertrauen.
Sie wird erzählt von dem, mit dem hier und jetzt nicht eine Gnadenfrist beginnt, sondern eine Gnadenzeit.
Download als PDF-Datei Schmetterlingsprinzip
Schmetterlingsprinzip
Henning Böger, Pfarrer - 19.11.2024
Ali mag es bunt. Wenn er durch seine Stadt geht, blüht seine Fantasie auf. Er sieht viel braun und grau und wenig Farbe. Das möchte er ändern. Ali lebt in Bagdad, der Hauptstadt des Irak. Das ist weit weg von uns. Rund 3500 Kilometer Luftlinie entfernt.
Wenn Ali durch seine Heimatstadt geht, hat er einen kleinen Holzwagen dabei, dicht bepackt mit Farbtöpfen und Pinseln, oben drauf eine Leiter. Er bemalt Mauern und Fassaden von Häusern. „Sag, dürfen wir dein Haus ein wenig bunt machen?“, fragt er
die Besitzer. „Aber gerne, sagen viele.“
Nun ist Ali da. Und hat ein paar Freunde dabei. Sie haben einen Plan gemacht für das Bild, das sie heute auf das Haus malen wollen: zwei Menschen Hand und Hand, ein Liebenspaar, das sich gefunden hat. Sie machen sich an die Arbeit. Liebe ist ihnen wichtig in einer Stadt, die von vielen Kämpfen zerrissen ist.
Ali hat ein Prinzip, wenn er zu malen beginnt. Er nennt es das Schmetterlingsprinzip:
Der Flügelschlag eines kleinen Schmetterlings sei harmlos, sagt Ali. Und doch löse er etwas aus: Erst bewegt sich die Blüte, dann ein Blatt, vielleicht ein Ast und schließlich
der ganze Busch. „Genau das will ich auch: Ich will Farben auf ein Haus malen. Das ist harmlos, einerseits. Andererseits kann es Menschen verändern, Freude auslösen,
eigene Bilder wecken.“ Ali ist sich sicher: Es bleibt nie ohne Folgen, wenn eine Hauswand bunt wird. Es bewirkt etwas bei denen, die hinschauen.
Einfach und genial, das Schmetterlingsprinzip, oder? Ich finde, es ist ein starkes Bild dafür, wie Friedenshoffnung in uns Menschen wachsen kann - als gute Kraft zum Leben, der ein kleiner Flügelschlag genügt, um uns in Bewegung zu bringen. Kleine Ursache mit großer Wirkung! So soll es sein mit dem Frieden unter uns!
„Ich will, dass sich etwas bewegt. Wenn ich ein Haus bemale, soll das nicht ohne Folgen sein,“ sagt Ali, der Farbe und Vielfalt liebt. Als die Sonne untergeht, ist das Bild auf der Hauswand fertig. Sie räumen die Farbtöpfe auf den Wagen.
Ali schaut noch einmal auf das fertige Bild: zwei Menschen, die sich an den Händen halten. „Vielfalt können wir nicht wegreden“, sagt er, „aber wir können sie achten,
sogar lieben lernen.“ Dann zeiht er mit seinem Wagen davon. Er sieht zufrieden aus.
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Erzähl mir vom Frieden III
Heiko Frubrich, Prädikant - 18.11.2024
„Erzähl mir vom Frieden“ So lautet das Motto der diesjährigen ökumenischen Friedensdekade, Sie haben es in den vergangenen Tagen hier im Dom schon des Öfteren gehört. „Erzähl mir vom Frieden“, für mich klingt das beinahe so, als wären wir kurz davor, zu vergessen, was Frieden bedeutet.
Die Gefahr ist groß, dass wir uns an das gewöhnen, was in dieser Welt passiert und was uns pausenlos an Informationen um die Ohren gehauen wird. Die Gefahr ist groß, dass wir uns gewöhnen an die Bilder aus der Ukraine, aus Israel und Gaza, dass wir uns gewöhnen an das Drohen und Säbelrasseln der Putins, Kims und Chameneis. Die Gefahr ist groß, dass wir uns gewöhnen an Hassparolen gegen Menschen anderer Hautfarbe, anderer Religionen oder anderer sexueller Orientierung.
Erzähl mir vom Frieden! Erzähl mir davon, wie unsere Welt aussehen könnte, wenn wir Lebensmittel und Lebenschancen gerecht verteilten. Erzähl mir davon, dass kein Mensch mehr verhungern oder verdursten müsste, wenn wir nur ein einziges Jahr lang keine neuen Waffen kaufen, sondern Ernährungs- und Entwicklungsprojekte finanzieren würden. Erzähl mir davon, dass alle Nationen einander gute Nachbarn sein könnten, wenn sie in jeder und jedem zuerst den Menschen sähen, dessen Würde unantastbar ist und der Gott, so wie wir alle, zum Ebenbild geschaffen wurde.
Sind das alles Wolkenkuckucksheime oder dürfen wir darauf hoffen? Die Hoffnung stirbt bekanntermaßen zuletzt. Aber lebt Ihre Hoffnung noch angesichts der vielen Kriege auf dieser Welt? Lebt Ihre Hoffnung noch angesichts des Wahlergebnisses in den USA? Lebt Ihre Hoffnung noch angesichts der immer tiefer werdenden Spaltung unserer Gesellschaft, der Verrohung der Sprache und der zunehmenden Gewaltbereitschaft?
Auf der Kerze auf unserem Marienaltar ist das Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ zu sehen. Es bezieht sich auf ein Wort des Propheten Micha, der prophezeit, dass die Völker und Nationen aus ihren Schwertern Pflugscharen machen werden. Vielleicht können wir ja schon einmal damit anfangen?
Es müssen ja nicht gleich die ganz großen, echten Schwerter sein. Wir können mit den kleinen beginnen: mit den Schwertern, die sich als Diskriminierung und Abwertung anderer Menschen in unserer Sprache festgesetzt haben; Schwerter, die wir in Form von Vorurteilen mit uns herumtragen; Schwerter, die sich in Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid unserer Mitmenschen zeigen. An denen können wir beginnen zu arbeiten und sie in Pflugscharen umschmieden.
Und ganz offen gesagt: Wenn wir als Christenmenschen den Glauben daran verlieren, dass die Menschheit eine Chance hat, umzukehren, dann können wir doch wirklich gleich einpacken. Gott, der uns kennt, wie kein anderer, traut uns den Frieden zu. Und so, wie er uns nicht enttäuscht, sollten wir ihn auch nicht enttäuschen.
Und ich bin mir sicher, dass er uns begleitet bei unseren kleinen und vielleicht auch zaghaften Schritten, wenn sie denn auf die Wege des Friedens führen. Amen.
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Erzähl mir vom Frieden II
Cornelia Götz, Dompredigerin - 16.11.2024
Friedensdekade 2024.
„Erzähl mir vom Frieden.“
Und ich höre darin: lasst uns zu all den schlimmen ernüchternden und düsteren Nachrichten eine Gegengeschichte erzählen.
Lasst uns erzählen!
Da gibt es zum Beispiel den Parents Circle. In diesem Kreis haben sich mehr als 600 israelische und palästinensische Familien zusammengeschlossen, die durch den Konflikt zwischen ihren Völkern Kinder oder nahe Verwandte verloren haben. Gemeinsam setzen sie sich für ein Ende des Blutvergießens ein. Gemeinsam sagen sie: „Wir haben zu viel Schmerz erlitten, zu viele Tränen geweint. Dies ist ein Moment für alle … über die Sinnlosigkeit des anhaltenden Konflikts nachzudenken und die gemeinsame Menschlichkeit zu erkennen, die uns alle verbindet.“
Mütter und Väter, Geschwister, teilen ihr Leid, wechseln erzählend die Perspektive, erleben sich und einander als Trauernde. So unterbrechen sie Hass und Gewalt, erzählen sie ihren Kindern eine andere Geschichte als von Vergeltung und Schmerz.
Oder:
Die Combatants for Peace. Diese bi-nationale Friedensbewegung, die 2006 von ehemaligen israelischen Soldatinnen und Soldaten und palästinensischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern ins Leben gerufen wurde, ist die einzige Organisation weltweit, in der bewaffnete Kämpferinnen und Kämpfer in einem anhaltenden Konflikt die Waffen niedergelegt haben, um sich gemeinsam für Frieden einzusetzen.
Einer ihrer Mitgründer Chen Alon, sagte: „Ich weiß nicht, wie eine friedliche Lösung aussehen wird: ein Staat, zwei Staaten, drei Staaten. Aber ich weiß, dass sie aussehen wird wie wir: Menschen aus Israel und Palästina, die sich gemeinsam und gewaltfrei für Gerechtigkeit einsetzen…“
Alle Mitglieder der Gruppe sind Wege gegangen, an deren Ende die Überzeugung steht: „Krieg ist kein Schicksal, sondern eine Entscheidung – es gibt einen Ausweg.“
Lasst uns erzählen:
Von Maria Kalesnikowa, von der es nach 600 Tagen im belarussischen Gefängnis endlich ein Lebenszeichen gibt. Und was für eins: die überwältigende Menschlichkeit dieser Frau, deren Symbol das Herz aus Händen ist, hat so vielen Mut gemacht. Und auch jetzt strahlt sie aus dem Gefängnis aber doch auch aus den Armen ihres Vaters, in dessen Gesicht sich so viel durchgestandene Angst und Sorgen eingeschrieben haben, als wäre es nicht sie, die Trost und bestand braucht – sondern wir anderen alle, wir draußen, die wir gefährdet sind, zu vergessen.
Keiner wird sie zwingen können, zu hassen.
Erzähl mir vom Frieden!
Lasst uns nach Geschichten suchen, die Frieden stiften.
Lasst uns festhalten, an dem alten immer lebendigen Wort: „Selig sind die sanftmütigem, denn sie werden das Erdreich besitzen“ Oder in einer anderen nicht weniger präzisen Übersetzung: „Selig sind die Gewaltlosen, denn sie werden das Land erben.“
Download als PDF-Datei "Glück und Hoffnung sind kein Luxus"
"Glück und Hoffnung sind kein Luxus"
Cornelia Götz, Dompredigerin - 15.11.2024
Am Anfang der Woche schrieb A.L.Kennedy im Feuilleton der SZ einen Brief an uns: „Liebe Deutsche…“ Er endet mit den Worten: „Glück und Hoffnung sind kein Luxus. Wenn zu viele Menschen sie verlieren, gehen Staaten unter. … Ich vermute, dass sehr viele Menschen in den Vereinigten Staaten so viel Schmerz empfanden, dass sie einfach die Hoffnung verloren. Die Freude anderer inspirierte sie nicht, sie machte sie wütend. Sie sahen darin einen Ausdruck für sie selbst unerreichbare Privilegien. Und wenn man diesen Zustand erst einmal erreicht hat, wird es sehr finster.“
Das ist ein kluger Gedanke, denn er bietet eine Erklärung dafür, warum Bitterkeit so irrational werden lässt bzw. warum Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit Demokratie, Frieden und Freiheit gefährden.
Menschen, die sich abgehängt fühlen oder womöglich sogar abgehängt worden sind, kann man mit einer strahlenden Kampagne kaum erreichen - sie vermuten dahinter Leere und spüren: Nicht für mich...
Dabei wäre eine gerechtere Welt möglich.
Dabei sind wir noch längst nicht am Ende - unter uns gibt es Fantasie und Tatkraft und auch noch immer sehr viel Geld.
Dabei ist unsere Erfahrung doch auch eine im Sinne der Tageslosung aus dem fünften Buch Mose: „Du hast doch gesehen, wie dein Gott dich getragen hat, wie ein Vater sein Kind trägt auf dem ganzen Weg, den ihr gewandert seid.“
Darum ist es an uns Christinnen und Christen von der Hoffnung erzählen, auf die wir bauen und die nach dem Ende des Kirchenjahres aufscheint.
Unsere Wirklichkeit in dieser Welt ändert sich mit der Geburt Jesu - das ist keine Geschichte, die den Verdacht nähren kann, nur denen Glück und Freude, Zuversicht zu bescheren, die ohnehin privilegiert und insgesamt weniger von Angst und Not betroffen sind. Es ist vielmehr eine, die die Verhältnisse umkehrt - nicht, weil alles zusammenbricht oder durchgeknallte Tyrannen und ewig Gestrige die bekannte Welt an die Wand fahren, sondern weil Gott tut, was er uns rät und noch immer über diesem Jahr steht:
„Alles, was ihr tut, lasst in der Liebe geschehen.“ Auch das ist kein Luxus - sondern eine Grundvoraussetzung dafür, dass Menschen sich gesehen und ernstgenommen fühlen, dass sie Vertrauen fassen.
Das werden wir brauchen.
Und zuletzt: dieser Tag ist einer mitten in der Friedensdekade. Zehn Tage beten Menschen an vielen vielen Orten um Frieden, verbinden sich unter dem Motte: „Vom Frieden erzählen.“
Lasst uns auch das tun. Und zwar so, dass Freude und Hoffnung anstecken,
Download als PDF-Datei Vorsicht, zerbrechlich!
Vorsicht, zerbrechlich!
Lisa Koch, Vikarin - 13.11.2024
Vorsicht zerbrechlich! Die Welt liegt in Scherben und wir sollen vom Frieden erzählen? Von diesem zerbrechlichen Traum, der so weit weg scheint von unserer Welt?
Von dem Gefühl, dass alles vor uns in Scherben liegt und nichts so richtig zusammenpasst, schreibt auch der Apostel Paulus:
9Was wir erkennen, sind nur Bruchstücke und was wir als Propheten sagen, sind nur Bruchstücke.10Wenn aber das Vollkommene kommt, vergehen die Bruchstücke.
12Jetzt sehen wir nur ein rätselhaftes Spiegelbild. Aber dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke. Aber dann werde ich vollständig erkennen,
so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.
13Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei. (1Kor 13,9f.12f.)
Wie gut ich das kenne, Gott. Manchmal sehe ich deine und meine Welt in Scherben liegen. Überall Krieg, Zerstörung, zerplatze Träume und gebrochene Versprechen. Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz, Tränen über schmerzhafte Brüche und gerissene Lücken. Und ich weiß nicht, wie das alles jemals wieder ganz und heil werden soll. Und dabei sehne ich mich so sehr danach. Nach diesem Heilsein, diesem Ganzsein, diesem Vollkommenen. Nach deinem Frieden.
Aber vielleicht, Gott, versteckt er sich ja genau da. Unter den Trümmern und Scherben. Vielleicht, Gott, kann ich dabei helfen, ihn zu finden, wenn ich meine Bruchstücke hineinlege in die vielen anderen? Wenn wir gemeinsam den Scherbenhaufen ansehen und nicht wegschauen? Hast du uns vielleicht den Kleber für die Scherben und die Leinwand für das bunte Friedensbild schon in diese Welt, in unsere Hände gegeben? Nicht damit alles perfekt wird und wieder gut und heil und ganz. Aber vielleicht können wir sie finden, die Bruchstücke deines Friedens. Wenn wir ganz genau hinschauen und danach suchen. Und dann die vielen kleinen Geschichten weitererzählen, sie zusammensetzen und so das bunte Bild des Friedens immer größer werden lassen. Diese Hoffnung, dass es anders sein kann. Ja, Gott, darauf möchte ich vertrauen, dass Frieden hier und jetzt möglich ist – in Einzelteilen und mit all den Bruchstücken. Wenn wir gemeinsam daran bauen.
Denn deine Friedenswerkzeuge hast du uns doch schon auf die Zungen und in die Hände gelegt, in die gebrochenen Herzen, in die dunklen Lebenslücken, auf den größten Scherbenhaufen: Glaube, Liebe und Hoffnung. Den Mörtel, der die Scherben kitten kann. Die Ideen für immer neue Muster und den Blick für die kleinsten Bruchstücke.
Noch einmal der Apostel Paulus: Der Gott, der Hoffnung schenkt, erfülle auch euch in eurem Glauben mit lauter Freude und Frieden. So soll eure Hoffnung über alles Maß hinaus wachsen durch die Kraft des Heiligen Geistes. (Röm 15,13
Vorsicht zerbrechlich! Ja, das gilt auch für den Frieden. Wir müssen gut auf ihn achtgeben und immer wieder die Scherben zusammensammeln, sie kitten und neu zusammensetzen. Nicht damit alles sofort wieder gut wird und heil und ganz. Aber um die Hoffnung zusammen zu halten, dass Frieden möglich ist: Erzähl mir vom Frieden, von Glaube, Liebe und Hoffnung!
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Frieden stiften
Henning Böger, Pfarrer - 12.11.2024
Morgens auf dem Bahnhof. Es ist voll auf dem Bahnsteig. Sie steht am Kiosk
und will ihr Wasser bezahlen. Gleich fährt die Bahn. Sie hat es eilig. Nur noch
ein Mann vor ihr. Er trägt eine Beinschiene und hat eine Gehhilfe. Als er dran ist,
drängelt sich jemand unsanft vor: ein älterer Mann mit Hut. Er greift nach einer
Zeitung auf dem Tresen.
„He, ich war dran!“, empört sich der Mann vor ihr. „Hab‘ Sie nicht gesehen“,
murmelt der Hut-Mann über die Schulter und will bezahlen. „Ach was, ich komm
Ihnen gleich hin“, ruft der mit der Beinschiene und Gehilfe - und macht einen drohenden Schritt nach vorne. Der mit dem Hut wird nun auch laut: „Ich sag doch: Ich hab‘ Sie
nicht gesehen!“ Er dreht sich um und streckt den Kopf vor: „Sehen Sie das?“
Er trägt eine Augenklappe.
„Gleich gibt’s Ärger“, denkt sie. Da sagt der junge Mann an der Kioskkasse:
„Moment, ich hätte ja sehen müssen, wer dran ist. Tut mir leid. Kein Grund zum Streit, oder? Schauen Sie sich an: Sie haben es ja beide nicht leicht!“
Die beiden Kontrahenten schweigen. Sie schauen sich nicht direkt an. Aber der Hut-
Mann weicht ein Stück zurück, tippt kurz auf seine Augenklappe, nimmt die Zeitung, bezahlt und geht. Und der mit der Schiene am Bein flucht nur noch leise vor sich hin.
Und ist nun endlich dran.
Ihr Zug ist weg, aber sie ist erleichtert. „Wie gut, wenn Menschen sich gesehen fühlen, selbst in ihrer Wut“, denkt sie. „Schauen Sie sich an: Sie haben es ja beide nicht leicht!“ Hat er gesagt. Jetzt steht sie selbst vor dem Verkäufer. „Nur das Wasser oder noch etwas?“, fragt er. „Nur das Wasser“, sagt sie, „nein, noch etwas: Das war stark
von Ihnen, die Zwei so zu beruhigen.“ „Ach was“, sagt der jungen Mann und lächelt:
„Das hätte doch jeder gekonnt. Ich bin doch nicht wie Jesus.“
Sie zögert einen Moment, bevor sie geht. „Eigentlich schon ‚wie Jesus‘“,
denkt sie und lächelt.
Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Download als PDF-Datei Friedensdekade I
Friedensdekade I
Cornelia Götz, Dompredigerin - 11.11.2024
Im Frühjahr 1944 schreib Dietrich Bonhoeffer an seinen Freund:
„Wer leistet sich heute noch ein starkes persönliches Gefühl, eine wirkliche Sehnsucht, wer macht sich die Mühe und verschwendet seine Kraft darauf, eine Sehnsucht in sich auszutragen, zu verarbeiten und ihre Früchte reifen zu lassen?“ Ja, wer leistet sich schon eine Sehnsucht, die wirklich an ihm zieht und zerrt?
Ja, wer leistet sich das oder würde gar wagen, solche Sehnsucht zu verteidigen?
Dabei brauchen wir Sehnsucht ganz dringend.
Sie hilft uns, Bilder und Worte zu finden, Zuversicht zu gründen.
Sie hilft, vom Frieden zu erzählen.
Eine solche weltberühmte Friedenssehnsucht ist in unserer Bibel aufgehoben.
Micha schreibt dort, bzw. richtet Gottes Wort aus und ich schreibe ich mit meiner Sehnsucht da hinein:
„In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen, und viele Heiden werden hingehen und sagen:
Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem.“
In der Zukunft, also in der Zeit die kommt, können und werden Menschen aller Nationen und unterschiedlichen Glaubens zusammenkommen. Es wird möglich sein, sich Jerusalem aufzumachen, einander zuzuhören und miteinander auf das zu hören, was Menschen verbindet und dem Frieden dienen könnte.
Ausgerechnet von dort also, dem großen Zankapfel, um den mit so viel Blutzoll gestritten wird, wird etwas ausgehen, das uns allen Wege weisen kann – Wege hin zu Frieden und Versöhnung.
Micha schreibt weiter:
„Er, Gott, wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“
Die Menschen überall auf der Erde, und darunter die Mächtigen und Machtgierigen, die Einflussreichen und Wohlhebenden zuerst, werden sich irgendwann unter Gottes Urteil beugen, womöglich dankbar sein diese Instanz.
Und dann werden sie ihre Fantasie und Tatkraft gebrauchen, um statt Waffen Dinge zu entwickeln und bauen, die dem Frieden dienen, damit alle satt werden.
Und schließlich werden, ja! werden, sie verlernen einander zu bekämpfen.
Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“
Diese Sehnsucht gönne ich mir.
Lasst uns davon erzählen!
Download als PDF-Datei Der
Der
Cornelia Götz, Dompredigerin - 08.11.2024
Es ist der Abend davor.
Den gibt es seit dem zweiten Schöpfungstag, seitdem Gott am ersten Tag Licht und Finsternis, die Zeit, geschaffen hat. Seither gehen Menschen in die Nacht voller Hoffnung auf den neuen Tag oder voller Sorgen.
Gott kann uns morgen mit einer Neuschöpfung überraschen, die wir nicht für möglich gehalten hatten. Und genauso kann morgen etwas über uns hereinbrechen, das unser Leben für immer verändern wird.
Der Abend davor ist immer der letzte, an dem es ist wie es war.
Gut, dass unsere Zeit in Gottes Händen liegt.
Gut, dass wir nicht wissen, wann je unser eigener letzter Abend sein wird.
Und in allem gibt es besondere Abende „davor“.
Die voller Abschied und Vorahnung.
Die, an denen wir spüren, dass wir in etwas hineingeraten sind, das wir vielleicht hätten aufhalten können.
Die, die später eine Zäsur markieren werden.
Der Montag dieser Woche hatte solch einen Abend davor.
Und auch dieser 8. November ist einer dieser Art.
Vor 86 Jahren sind auch in unserer Stadt jüdische Menschen das letzte Mal zu Bett gegangen ehe die Synagogen brannten und Scheiben splitterten, ehe auch der Letzte verstanden haben konnte, dass mitten unter uns Böses geschieht.
Vor 35 Jahren brach die letzte Nacht der Berliner Mauer an. In der nächsten würden Menschen darauf tanzen, Stacheldraht und Schießbefehl ausgedient haben - wenigstens hier an dieser einen konkreten Stelle.
Und heute Abend?
Wovor wird dieser Abend im Lauf der Geschichte zu stehen kommen?
Werden wir rückblickend irgendwann auf diese Tage schauen und wissen: es waren die Tage davor - und hätten wir nicht?
So kann es einen überfallen.
Und wie gut, sich dann zu erinnern, dass es den einen entscheidenden Abend davor längst gegeben hat - den im Garten Gethsemane.
Jesus Christus hat den Seinen an diesem Abend mit dem Abendmahl ein unglaubliches Geschenk gemacht: stärkend und vergewissernd, erinnernd, Frieden und Gemeinschaft stiftend.
Wir werden es jetzt miteinander feiern, dessen gedenkend, was war und Hoffnung schöpfend, für das was kommt:
Und immer wird Abend und Morgen, ein neuer Tag.
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Nie wieder ist jetzt!
Heiko Frubrich, Prädikant - 07.11.2024
„Und jetzt gehe ich ganz schnell schlafen und hoffe, dass bis morgen früh keine Aliens gelandet sind!“ Das postete gestern Abend ein Journalist auf Instagram angesichts eines Tages, der seinesgleichen sucht. Trump wird zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt und wir müssen uns um eine neue Bundesregierung kümmern. Und irgendwie finde ich die Erwartung, dass nun auch noch ein paar Aliens durch unsere Fußgängerzone watscheln, gar nicht mal so abwegig.
Natürlich sind Funk und Fernsehen voll mit Berichten über diese Ereignisse, doch es gab auch weitere Nachrichten heute Morgen im Radio, die mir persönlich guttaten. Da wurde heute im Deutschen Bundestag ein fraktionsübergreifender Antrag beraten und wohl auch verabschiedet, der folgenden Titel trägt: „Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken.“
Wie wohltuend, dass es gelingt, demokratische Kräfte über alle Parteigrenzen hinweg hinter so einem wichtigen Thema zu versammeln. Und es ist gut gewählt, dass sich der Bundestage gerade jetzt, zwei Tage vor dem Jahrestag der Novemberpogrome öffentlichkeitswirksam damit befasst.
Spätestens seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres verstärkt sich der Antisemitismus in unserem Land deutlich. Der Hass gegen Menschen jüdischen Glaubens wird dabei mittlerweile ganz unverhohlen auf der Straße herausgeschrien. Ohne Frage kann ich nachvollziehen, dass Menschen mit der einen oder anderen Entscheidung der israelischen Regierung nicht einverstanden sind. Das muss jede Regierung aushalten, ganz egal ob sie in Jerusalem oder in Berlin sitzt. Doch dass Synagogen in unserem Land geschützt werden müssen und Juden sich nicht mehr trauen, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen, ist eine nicht hinzunehmende Eskalation.
Gerade uns als Christinnen und Christen kann das nicht gleichgültig sein. Denn unser Glaube hat jüdische Wurzeln. Genauso wenig, wie Maria katholisch war, war Jesus ein Christ. Beide waren jüdischen Glaubens und die Evangelien sind ohne das Alte Testament, also ohne die jüdische Bibel, nicht verstehbar. Jesus Christus sagt selbst, dass er nicht gekommen ist, um den alten Bund zu verwerfen, sondern um ihn zu erfüllen.
Auch unsere evangelische Kirche hat in diesem Zusammenhang schwere Schuld auf sich geladen, als im Dritten Reich die regimetreuen Deutschen Christen haarsträubende Versuche unternommen haben, alles Jüdische aus der Bibel herauszulöschen, um sie so mit der Nazi-Doktrin in Einklang zu bringen. Auch die Lehren aus unserer eigenen Kirchengeschichte verpflichten uns hier zur Solidarität mit unseren jüdischen Glaubensgeschwistern.
Morgen können wir diese Solidarität sichtbar werden lassen, wenn wir uns um 12:30 Uhr an der Synagoge in der Alten Knochenhauerstraße anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht versammeln, hören und beten. Amen.
Download als PDF-Datei Apfelbäumchen pflanzen
Apfelbäumchen pflanzen
Heiko Frubrich, Prädikant - 06.11.2024
Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Dieser Satz wird Martin Luther zugeschrieben und als ich heute morgen die ersten Nachrichten auf meinem Handy las, kam er mir in den Sinn. Anderes aber auch. Unter anderem die Frage: Wie kann man nur? Wie kann man nur so einen Typen Vertrauen schenken, einem rechtskräftig verurteilten Betrüger, der wie gedruckt lügt und wirre Gewaltphantasien vor laufender Kamera von sich gibt?
Doch dann schaue ich vor meine eigene deutsche Haustür und erinnere mich an die letzten Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg und ich denke daran, dass vielleicht heute der Tag ist, an dem unsere Bundesregierung auseinanderfliegt – ausgerechnet heute!
Ja, das ist alles großer Mist und stünde ich nicht hier auf der Kanzel, würde ich das uns allen wohlbekannte Wort verwenden, das mit „Sch“ beginnt. Aber wir, die wir heute Abend im Dom sitzen, können all das im Moment nicht ändern. Und selbst wenn wir uns von all den bedrückenden Nachrichten runterziehen lassen und unsere Zuversicht und unsere gute Laune verlieren, wird Trump Wahlsieger bleiben und werden sich Lindner, Habeck und Scholz wie die Kesselflicker streiten.
Da sind doch Gedanken an Luthers Apfelbäumchen ganz eindeutig die bessere Alternative. Denn in so einem Apfelbäumchen lassen sich Dinge erkennen, die uns zu leben helfen. In ihm wird das Wunder der Schöpfung sichtbar. Er wächst und trägt aus sich heraus seine Früchte. Und Äpfel kann tatsächlich nur er. In ihm sehen wir den Lauf der Jahreszeiten, das frische Grün im Frühjahr und ein Farbenfeuerwerk im Herbst. Und im Sommer ist in seinem Schatten gut sein.
Und so ein Baum ist ein Symbol der Hoffnung darauf, dass es weitergeht – trotz allem. Er erinnert uns an unseren Glauben und an unser Gottvertrauen. Jede irdische Botschaft verblasst doch vor Gottes „Fürchte dich nicht!“, das er uns allen immer wieder zuspricht. Und was könnte größer sein als das „Friede sei mit dir!“, das uns Jesus Christus verheißt.
Ich will hier nichts mit einer klebrigen Soße aus frommer Gefühlsduselei zuschütten. Aber gerade in herausfordernden Zeiten und in Momenten, in denen wir berechtigterweise mit Sorgen in die Zukunft sehen, hilft mir, mich darauf zu besinnen, dass ich mich in allem auf Gott verlassen darf, der mich trägt und hält und liebt. Und aus dieser Position heraus fällt es mir leichter, einem tief durchzuatmen, die Ärmel hochzukrempeln und fröhlich weiterzugehen in den nächsten Tag und in alle Tage die noch kommen und mein Leben so zu führen, wie ich denke, dass Gott es für mich gemacht hat. Denn ich weiß, ich kann es tun mit seiner Hilfe und in Jesu Namen. Amen.
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Obrigkeit
Cornelia Götz, Dompredigerin - 05.11.2024
Am Sonntag hatten wir einen schwierigen Predigttext. Paulus schreibt im Römerbrief: „Jeder sei untertan der Obrigkeit … Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott … Wer sich ihr widersetzt, widerstrebt der der Anordnung Gottes … Denn vor denen, die Gewalt haben, muss man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tute Gutes…“
Ich hatte mich zunächst mit dem Gedanken rumgeschlagen, wann wir der Obrigkeit widerstehen und eben trotz dieses Textes unserem Gewissen folgen müssen. Dies umso mehr als die aktuelle politische Situation befürchten lässt, dass es Obrigkeiten geben könnte, die dem antiken Herrschaftsideal, von dem Paulus hier ausgeht, nicht entsprechen.
Aber die Aktualisierung des Textes angesichts unserer parlamentarischer Demokratie könnte auch heißen: wir selbst sind die Obrigkeit.
Es liegt in unserer Hand, wen wir wählen und autorisieren, Souverän des Volkes zu sein. Obrigkeiten fallen mithin nicht von Himmel, egal wie sie geartet sind oder sich selbst verkaufen.
Das soll nicht zynisch klingen.
Wahlen werden immer wieder manipuliert und vielerorts ist es auf unserer Welt, lebensgefährlich, als Oppositionspolitiker*in öffentlich sichtbar zu werden, zahlen Menschen Widerstand aus Gewissensgründen mit ihrem Leben.
Aber an einem Tag wie diesem – während in den Vereinigten Staaten die Wahlbüros geöffnet sind und sich in Berlin eine demokratisch gewählte Regierung zerlegt und friedensdienliche, zukunftstaugliche, gerechte Politik diversen Wahlkampfinteressen oder einzelnen Machtgelüsten geopfert werden könnte – kann so ein Text stören, wachrütteln, Orientierung geben.
„Tue Gutes.“
Und das heißt auch. Lasst uns unsere Stimmen nicht denen geben, denen die Armen und Fremden, die Schwachen und Leisen im Weg sind. Beruhigend und bestärkend immerhin ist es doch, dass es über diesem Tag bei Hesekiel heißt: Ich will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben, damit sie in meinen Geboten wandeln und meine Ordnungen halten und danach tun.“
Indikativ. So ist es. Amen
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Beten und Handeln
Heiko Frubrich, Prädikant - 04.11.2024
Über dieser Woche heißt es aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an seinen Begleiter Timotheus: „Dem König aller Könige und Herrn aller Herren, der allein Unsterblichkeit hat, dem sei Ehre und ewige Macht!“ Ich höre und lese diese Worte und denke: Ja, so soll es wohl sein. Und ja, es ist gut, dass wir uns das immer wieder vor Augen führen, damit wir demütig bleiben vor unserem Gott und nicht die Bodenhaftung verlieren.
Eine solche Standortbestimmung ist wichtig und will nicht schon wieder damit anfangen, Beispiele aufzuzählen, die uns zeigen, wo wir landen, wenn wir diese Bodenhaftung nicht haben. Die Welt ist voll davon. Und doch reicht mir dieses Pauluswort irgendwie nicht aus. Mir fehlt da was, irgendein weitergehender Impuls, der mir Orientierung gibt, der mich ins Denken, Reden und Handeln bringt. Denn das Leben eines Christenmenschen besteht, so wie ich es sehe, nicht nur aus demütiger Anbetung des Herrn, sondern auch in der sehr praktischen Umsetzung dessen, was er uns in seinem Sohn vorgelebt hat.
Heute vor 35 Jahren fand ist Ostberlin auf dem Alexanderplatz eine Demonstration statt, an der um die 500.000 Menschen teilnahmen. Es war die erste offiziell genehmigte Demonstration, die sich kritisch mit dem Regime auseinandersetzte und gleichzeitig die größte, nicht staatlich organisierte in der DDR. Viele namhafte Rednerinnen und Redner traten auf, unter anderem der Schriftsteller Stefan Heym. Der sagte: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen.“
Anfang dieses Jahres konnte man ein solches Gefühl neu erleben. Es waren Wochen und Monate, in denen in unserem Land Hunderttausende auf die Straßen und Plätze zogen und friedlich für Demokratie und für unsere offene und liberale Gesellschaftsordnung demonstrierten. Auslöser waren unter anderem Informationen über Remigrationspläne, die in rechten Zirkeln unter Beteiligung der AfD diskutiert wurden und auch heute noch werden.
Damit war bei vielen eine rote Linie überschritten und sie gingen auf die Straße, um klarzumachen, dass sie für derlei menschenverachtende Ideen nicht zu haben sind. Ein starkes Band der Solidarität war zu spüren, das die Demonstrierenden verband, ganz egal, woher sie kamen. Doch es ist dann schnell wieder ruhig geworden auf den Straßen und Plätzen unseres Landes.
Jeder Vergleich hinkt und der folgende vielleicht ganz besonders; aber ich sehe Parallelen zwischen der Ehre Gottes und unserer Demokratie. Bei beiden reicht es nicht aus, sie im stillen Kämmerlein anzuerkennen, bewahrenswert zu finden oder anzubeten. Wir müssen ins Tun kommen. Unsere Demokratie braucht unsere aktive Mitwirkung, mindestens mal dadurch, dass wir zur Wahl gehen und unser Kreuz nicht bei ihren Gegnern machen. Und von Gottes Ruhm und Ehre sollten wir erzählen, davon, wie gut es sich im Vertrauen auf Gottes frohe Botschaft leben lässt und in der Hoffnung, dass er es gutmachen wird mit jeder und mit jedem einzelnen von uns.
Gut, wenn uns gelingt, dafür unsere Herzen zu öffnen – mit Gottes Hilfe und in Jesu Namen. Amen.
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Komm in unsre stolze Welt!
Heiko Frubrich, Prädikant - 01.11.2024
„Darauf kannst Du stolz sein!“ Ein Satz, den man gerne hört, oder? Da wird uns Respekt entgegengebracht für etwas, was uns in den Augen unserer Mitmenschen wohl ganz gut gelungen ist. Darauf kannst Du stolz sein. Gemeint ist vielleicht die erreichte Position im Beruf, eine Familie, in der alle glücklich sind, das Erreichen selbstgesteckter Ziele, oder das Durchhalten in schwierigen Lebensphasen.
Solcher Stolz tut gut. Er ist so etwas wie eine Belohnung, die wir uns selbst geben können, das Klopfen auf die eigene Schulter. Doch da gibt es einen schmalen Grat, an dem wir uns befinden. Auf der einen Seite ist der Stolz, auf der anderen Seite die Überheblichkeit. Sie ist die negative Form von Stolz, die uns hartherzig macht. Denn sie lässt keinen Platz mehr für Demut und für die Einsicht, dass wir begrenzt sind in unserem Denken, Reden und Handeln.
„Komm in unsre stolze Welt, Herr, mit deiner Liebe Werben“, so dichtet der Arzt und Schriftsteller Hans von Lehndorff 1968 in seinem Liedtext. Es ist ein Hilferuf, in den ich gut einstimmen kann. So vieles, was auf dieser Welt passiert, steht dem, was Gott mit uns vorhat, im Wege. So vieles, was wir Menschen tun und lassen, ist so weit weg von dem, was uns Jesus Christus vorgelebt hat.
Gott wurde herausgedrängt aus dem Leben so vieler. Und was seinen Platz eingenommen hat, benennt von Lehndorff sehr konkret. Es sind Macht, Geld und Hass, es sind Geiz, Unverstand und Überfluss, es sind Neid, Lärm und Streit. All das lässt keinen Raum mehr für die Botschaft von Frieden, Gerechtigkeit und Wahrheit.
Dabei ist Gott auch heute nicht etwas komplett von der Bildfläche verschwunden. Putin lässt sich gern beim Beten in prachtvollen orthodoxen Kirchen ablichten, Trump zählt sich selbst zu den „lieben und aufrechten Christenmenschen Amerikas“, Björn Höcke vergleicht sich mit Jesus Christus, der auch Angeklagter in einen Schauprozess gewesen sei. „Komm in unser dunkles Herz, Herr, mit deines Lichtes Fülle.“
Uns werden so reichlich wie selten Bilder präsentiert, die uns zeigen, wie eine gottlose Welt aussieht, die uns zeigen, wohin wir steuern, wenn wir unsere Werte über Bord werfen, die uns zeigen, was passiert, wenn der Hochmut die Demut ersetzt. Es bleibt zu hoffen und dafür zu beten, dass Gott uns hört und uns dabei hilft, umzukehren. Herr, komm in unsre stolze Welt. Amen.
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Erinnerung
Heiko Frubrich, Prädikant - 30.10.2024
In Russland wird an diesem 30. Oktober der „Gedenktag für die Opfer politischer Gewalt“ begangen. Das ist schon ein wenig schräg, oder? Natürlich gibt es dazu einen ernsten und auch ernstzunehmenden Hintergrund, denn dieser Gedenktag hatte ursprünglich das Ziel, an die Opfer des stalinistischen Terrors zu erinnern.
In den gefürchteten Arbeitslagern, den Gulags, wurden in den knapp 30 Jahren der Stalin-Diktatur Millionen von Menschen gequält und ermordet. Mitte der 1970er Jahre begannen die ersten, zunächst noch illegalen Demonstrationen, um an diese Opfer zu erinnern. Unter Michail Gorbatschow wurde der Gedenktag 1991 offiziell eingeführt und wird, wie gesagt, auch heute noch begangen.
Diesen Spagat müssen die russischen Machthaber sicherlich lange einüben, ganz besonders ein gutes halbes Jahr nach dem Tod von Alexej Nawalny, ganz besonders angesichts von Gefängnissen, in denen Menschen inhaftiert sind, die einen Krieg einen Krieg genannt haben, angesichts eines regierungshörigen Justizsystems.
In unserem Land wird aus bestimmten politischen Milieus die Klage lauter, dass man seine Meinung nicht mehr frei äußern dürfe. Ich kann diese Aussage nicht nachvollziehen, denn mir ist nicht bekannt, dass man wegen seiner Meinung strafrechtlich verfolgt würde. Klar, wenn es um Beleidigungen geht, kann das vorkommen, aber wegen der eigenen Meinung?
Natürlich muss jede und jeder damit rechnen, dass es Widerspruch gibt. Und das ist auch gut so. Denn in einem fairen aber durchaus kritischen Diskurs lässt sich aus unterschiedlichen Positionen die beste Lösung herausarbeiten. Und dabei ist es ganz egal, ob es um politische Standpunkte, fachliche Themen im Beruf oder um die Zukunft unserer Kirche geht.
Und selbstverständlich soll und muss der Widerspruch massiv ausfallen, wenn sich eine Haltung gegen die Würde anderer Menschen richtet. Wenn man diese Kritik dann nicht aushält oder nicht aushalten will, braucht man vielleicht eine kleine Nachschulung in Sachen Demokratie.
Jesus Christus sagt, dass er uns gerade in den Schwachen und Armen und Leidgeprüften begegnet. Damit steht für uns Christenmenschen außer Frage, dass wir auf deren Seite stehen sollen und wer unser Nächste und unsere Nächste ist, die wir lieben sollen wie uns selbst.
Vor diesem Hintergrund ist selbst der heutige russische Gedenktag für die Opfer politischer Gewalt ein wichtiger Tag, so besonders er auch sein mag. Denn ein pfleglicher Umgang mit Erinnerungskultur ist in jeder Gesellschaft wichtig, auch und gerade in der unseren. Nur im Erinnern bewahren wir uns die Chance, aus der Geschichte zu lernen und Entwicklungen entgegenzuwirken, die die Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen missachten.
Erich Kästner bringt es in einem Anti-Kriegsgedicht wie folgt auf den Punkt: „Auf den Schlachtfeldern von Verdun wachsen Leichen als Vermächtnis. Täglich sagt der Chor der Toten: „Habt ein besseres Gedächtnis!” Amen.
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Jung und Alt unter einem Dach
Henning Böger, Pfarrer - 29.10.2024
Als ihr Seniorenheim im niederländischen Deventer nicht ganz ausgelastet ist, kommt Gea Sijpkes auf eine ungewöhnliche Idee: Sie bietet jungen Menschen an, in die freien Zimmer des Wohnheimes einzuziehen. Sie dürfen sogar mietfrei wohnen, wenn sie eine Bedingung erfüllen: Jeder junge Bewohner muss mindestens einmal in der Woche eine soziale Leistung erbringen, also zum Beispiel Essen reichen, einkaufen gehen, etwas vorlesen oder erklären, wie man das Internet nutzen kann.
Ja, sagt Gea Sijpkes, es sei eine ungewöhnliche Idee gewesen - mit einem über-raschenden Ergebnis: Aus dem Zusammenleben der Generationen unter einem Dach hätten sich schon sehr bald Beziehungen entwickelt, von denen Junge und Alte gleicher-maßen profitierten: Während die älteren Bewohner*innen die Lebendigkeit um sich genossen und neue Kenntnisse erwarben, meinten die jungen Mitbewohner, sie hätten noch nie so viel Tee getrunken und Geschichten aus dem Krieg gehört. Aber sie hätten auch noch nie so viel Freude und Dankbarkeit erfahren und sich selbst dabei so geborgen gefühlt. Ein Ende der ungewöhnlichen Wohngemeinschaft sei nicht abzusehen, sagt die Heimleiterin.
„Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebst auf Erden.“ So formuliert es das vierte der zehn biblischen Gebote. Damit ist viel mehr gemeint als ein zu Ordnung und Gehorsam rufendes „Solange du deine Füße unter unseren Tisch steckst!“
Entstanden ist das Gebot, den älteren Generationen respektvoll zu begegnen, in der langen und beschwerlichen Wüstenzeit des Gottesvolkes. Wer die Alten einfach zurücklässt, weil sie nicht mehr so recht mithalten können, der muss im Umkehrschluss davon ausgehen, dass auch er dereinst im Alter so behandelt wird. Anders gesagt: Wer sein eigenes Wohl in den Blick nimmt, der kommt nicht umhin, das Alter mit Respekt zu betrachten. Nur wenn dessen Achtung zur gemeinschaftlichen Norm wird, kann ich sicher sein, dass auch ich später respektiert werde. „Auf dass es mir gut geht und ich lange leben kann auf Erden.“
In Deventer freut sich Gea Sijpkes, dass ihre Idee, Junge und Alte unter ein gemein-sames Dach zu bringen, so gut funktioniert hat. Das Gelingen ihrer Idee zeigt für mich auch, wie tauglich das vierte Gebot für das Miteinander der Generationen heute noch ist.
„Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebst auf Erden.“
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Unvollendet
Heiko Frubrich, Prädikant - 26.10.2024
Er hatte ein Ziel und der Weg dorthin war lebensbegleitend. 33 Jahre ist er ihn gegangen, von 1868 bis 1901, und doch blieb er unvollendet. Josef Gabriel Rheinberger wollte 24 Orgelsonaten schreiben, in jeder Dur- und Moll-Tonart eine. 20 hat er tatsächlich komponiert, die letzte kurz vor seinem Tod im Jahre 1901. Rheinbergers Sonaten sind bunt. Sie folgen keiner starren Struktur in der Anzahl der Sätze und ihrer Bezeichnung. Idylle, Toccata, Pastorale, Fantasie, Romanze, Scherzoso, Passacaglia und Fuge sind dort genauso zu finden wie Provencalisch oder Skandinavisch.
Doch trotz aller Vielfalt: Vier Sonaten fehlen, um den Quintenzirkel in Dur und Moll zu schließen. Im kirchlichen Jahreszirkel gehen wir mit schnellen Schritten auf die Wochen zu, in denen es um die existenziellen Fragen von Leben und Sterben und Tod geht. Auch hierbei ist unser Kirchenkalender wie so oft ein Abbild unseres Lebenskalenders, denn wir alle kommen nicht umhin, uns mit den genannten Themen auseinanderzusetzen. Leben, Sterben und Tod bilden einen Dreiklang, der fest zu jeder Lebensmelodie dazugehört.
Ob wir diesen Dreiklang nun in Dur oder in Moll hören oder unsere Ohren am liebsten komplett vor ihm verschließen, hängt stark von unserer inneren Haltung und natürlich auch von unserem Glauben ab. Sterben und Tod werden zu schrillen Missklängen, wenn wir sie ohne Hoffnung hören müssen. Wer nach seinem irdischen Leben nur ein schwarzes und ewiges Nichts erwartet, oder besser: befürchtet, wird diese Zukunftsaussicht nachvollziehbarerweise verdrängen.
Doch wer auf Jesu Zusage vertraut, auf sein „Ich lebe und ihr sollt auch leben“, der kann durchaus eine hoffende Neugierde in sich spüren, darauf, wie es denn so sein wird auf der anderen Seite. Wie genau Rheinbergers Haltung dazu war, kann ich nicht sagen, doch er war ein frommer Christenmensch. Und so wird es ihn vermutlich nicht über die Maßen gequält haben, aus dieser Welt zu gehen, ohne die vier fehlenden Orgelsonaten geschrieben zu haben.
Gut, wenn wir das auch können! Kaum einem Menschen gelingt es, die To-Do-Liste seines Lebens komplett abzuarbeiten. Da werden offene Punkte stehen, die unerledigt bleiben. Bei Rheinberger waren es vier Sonaten, bei anderen können es nicht erfolgte Versöhnungen, unausgesprochener Dank oder eine verschwiegene Liebeserklärung sein. So etwas mit sich herumzuschleppen kostet Kraft – ganz egal, wo die Zeiger unserer Lebensuhr auch immer stehen mögen. Um sich davon zu befreien ist heute insofern immer besser als morgen.
Aber es wird trotz aller Anstrengungen Stückwerk bleiben, war wir vollbringen. Denn wirklich vollenden wird erst Gott, was er ihn Ihnen und Euch und mir begonnen hat. Und vielleicht hat Josef Gabriel Rheinberger auf diese Weise die fehlenden Sonaten mittlerweile fertiggestellt. Wir werden erleben. Da bin ich mir sicher. Amen.
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Frosch am Teich
Cornelia Götz, Dompredigerin - 25.10.2024
Publik-Forum ist eine unabhängige christliche Zeitschrift, die der Kirche von unten nahesteht – entsprechend kritisch ist ihre Tonart und wohltuend unideologisch. Immer wieder blitzen Artikel auf, die mich in meiner – von abendländischen Bildungsinhalten - geprägten Sicht verblüffen und verändern.
Dieses Mal ist es ein Haiku aus dem 17. Jahrhundert, ein dreizeiliges japanisches Gedicht mit genau festgelegter Silbenzahl. Es geht um Zeit und Ewigkeit, den Moment, in dem wir uns plötzlich entscheiden, der uns verändert und klingt ganz schlicht:
„Ein alter Teich
ein Frosch springt hinein
Geräusch des Wasser.“
Ein alter Teich.
Vielleicht ein uralter Teich.
Immer schon da, außerhalb der Zeit. Unergründlich tief und dunkel einerseits spiegelt er doch den Himmel. Und da sitzt ein Frosch. Versunken oder angestrengt nachdenkend, vielleicht ohne bewussten Willen oder ewig suchend.
Noch ist hier der Teich und da der Frosch.
Getrennt und aufeinander bezogen. So kann es lange bleiben.
Aber auf einmal springt er. Wie aus dem Nichts oder springt er aus dem Ursprung aller Dinge?
Noch ganz bei diesem Bild fällt mir ein anderer Text ein, ein Lehrer- Schüler – Gespräch: „Zeige mir, wie ich beten kann“ bittet der Schüler und der Lehrer antwortet: „Beten lernt niemand durch Wissen und Können, sondern durch Erfahren und Leben. Was immer ich weiß, kann dir nicht ersparen, dich selbst zu suchen. Selbst musst du in den Brunnen springen, die Tiefe wagen, den inneren Raum und die innere Zeit entdecken.“
Irgendwann muss man springen, vertrauen wagen.
Oder war ich das gar nicht? Passiert etwas Unbegreifliches in mir und dann finde ich mich vor – bin gesprungen? Vielleicht ist das der Moment, von dem der Prophet Jeremia sagt: „Wenn ihr ich von ganzem Herzen suchen werdet, will ich mich von euch finden lassen.“ - Und dann? „Geräusch des Wassers.“ Da ist wirklich was passiert. Und klingt in unsere Welt.
Download als PDF-Datei Aus Fehlern lernen - Fehlanzeige
Aus Fehlern lernen - Fehlanzeige
Heiko Frubrich, Prädikant - 23.10.2024
Heute ist ungarischer Nationalfeiertag, der in Erinnerung an den Ungarischen Volksaufstand auf den 23. Oktober gelegt wurde. Damals, 1956, begann dieser Aufstand mit einer friedlichen Großdemonstration von Studierenden in Budapest. Sie forderten demokratische Veränderungen in Ungarn und ein Ende des russischen Einflusses ein. Die Regierung ließ auf die Demonstranten schießen, was zu Gewaltausbrüchen auf beiden Seiten führte. Dennoch wurde durch den Druck der Aufständischen eine Regierungsumbildung erreicht. Ungarn erklärte den Austritt aus dem Warschauer Pakt, rief seine Neutralität aus und forderte die russischen Truppen zum Verlassen des Landes auf.
Keine zwei Wochen später, am 4. November 1956, marschierten russische Truppen in Ungarn ein und schlugen den Aufstand blutig nieder. Etwa 3.000 Menschen wurden getötet und über 200.000 flohen ins Ausland. Erst 1989 wurde Ungarn dann tatsächlich zur Demokratie. Und heute? Die EU hat Ungarn vor zwei Jahren den Status als demokratisches Land aberkannt und spricht nun beim Orban-Regime von einer Wahlautokratie mit deutlich eingeschränkter Presse- und Meinungsfreiheit und einer ausgeprägten Vetternwirtschaft zu Gunsten des Orbanschen Familienclans.
Warum wählen Menschen in demokratischen Wahlen und mit einer solchen historischen Erfahrung, wie die Ungarn sie aus diktatorischen Zeiten haben, solche Typen wie Orban zum Ministerpräsidenten? Warum bekommt er Mehrheiten, obwohl ganz klar ist, dass er Freiheit und Demokratie massiv einschränken will und das ja auch für alle sichtbar tut? Wie ist zu erklären, dass Trump, der verkündet, dass die Amerikaner nur noch ein einziges Mal zur Wahl gehen müssten und sich das in vier Jahren dann erledigt hätte, knapp 50r Wähler hinter sich hat? Wie kann es sein, dass eine in Teilen faschistische und damit verfassungsfeindliche Partei mit ihrer menschenverachtenden Programmatik in Deutschland in einigen Bundesländern stärkste politische Kraft wird?
Ich frage größer: Warum tun wir Menschen uns so unglaublich schwer, aus der Geschichte und aus bereits gemachten Fehlern zu lernen? Und ich antworte resigniert: Ich habe keine Ahnung! Ist es Überheblichkeit und Größenwahn, der uns treibt? Ja, wir wissen, dass Kriege am Ende nur Verlierer kennen, aber vielleicht ist es ja diesmal anders! Ja, wir wissen, was in Nazi-Deutschland passiert ist, aber wir können der AfD ja trotzdem mal eine Chance geben! Ja, wir wissen, dass Trump ein Lügner und Betrüger ist, aber das ist doch kein Grund, ihn nicht zu wählen!
Doch, das ist es! Wir als Christenmenschen sollten immer dann wachsam sein, wenn die Lüge die Wahrheit verdrängt. Wir sollten immer dann wachsam sein, wenn begonnen wird, Menschen in wertvoll und nicht ganz so wertvoll zu kategorisieren. Wir sollten immer dann wachsam sein, wenn Menschen sich anmaßen, über das Leben anderer zu verfügen. Wir sollten immer dann wachsam sein, wenn sich jemand in seinem Denken, Reden und Tun über Gott stellt und Menschen nimmt, was Gott ihnen gegeben hat: Freiheit und eine unverletzliche Würde – jeder und jedem, ohne Ausnahme. Amen.
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Welttag des Stotterns
Heiko Frubrich, Prädikant - 22.10.2024
Ich möchte Ihnen ein paar sehr persönliche Fragen stellen: Machen sich Ihre Mitmenschen regelmäßig über Sie lustig gemacht, weil Sie noch nie ohne Sauerstoffgerät auf dem Mount Everest waren? Werden Sie mindestens einmal pro Woche gehänselt, weil Sie die Valenzstrichformel von Essigsäure nicht aufmalen können? Wird bei jeder Party und ähnlichen Veranstaltungen hinter vorgehaltener Hand über Sie getuschelt, weil Sie nicht so gut kochen können, wie Paul Bocuse?
Ich vermute, Sie würden auf alle diese Fragen mit „nein“ antworten. Alles andere wäre eine echte Überraschung, denn erstens sind es ja eher verborgene Defizite, die Sie so mit sich herumtragen, und zweitens gibt es nach einer satten Mehrheitsmeinung wichtigere Fähigkeiten als die genannten. Seien Sie froh! Denn Sie hätten deutlich mehr auszuhalten, wenn Sie Schwierigkeiten hätten, flüssig zu sprechen, wenn Sie also stottern würden.
Die Belastung, die diese Menschen zu tragen haben, ist eine mehrfache. Sie haben in aller Regel von Kindheit an darunter zu leiden gehabt, dass man sich über sie lustig macht und es erfordert schon ein außerordentlich hohes Maß an Selbstbewusstsein, um das abzuschütteln. Zweitens brauchen Sie viel mehr Mut, in der Öffentlichkeit zu sprechen, als alle anderen. Und drittens ist Stottern häufig ein Thema, dass die Betroffenen lebenslang begleitet.
Heute ist Welttag des Stotterns, der in Deutschland unter dem Motto steht: „Die Kraft des Zuhörens“. Einem Menschen zuzuhören, ist eine hohe Form des Respekts, den Menschen, die stottern, in besonderer Weise spüren können. Denn sie erleben oft, dass ihren Zuhörenden die Geduld fehlt und sie dann, vielleicht sogar in bester Absicht, die Sätze der Stotternden mit eignen Worten vollenden.
Würden Sie das wollen? Fänden Sie es hilfreich, wenn man Ihnen ständig ins Wort fiele und ihr Gesprächspartner ihren Satz für sie weiterspräche? Vermutlich nicht, denn, niemand, außer Sie selbst, wissen, was Sie sagen wollen.
Ein Ziel des Welttages des Stotterns ist es, dies zu verdeutlichen, oder anders formuliert, stotternden Menschen keine falsche Hilfe aufzudrängen, sondern sich einfach Zeit zu nehmen, um respektvoll zuzuhören, so, wie es ja ohnehin in jedem Gespräch der Fall sein sollte. Darüber hinaus soll der heutige Tag ganz generell über Redeflussstörungen aufklären und helfen, Vorurteile abzubauen.
Wir alle sind in vielem unauffälliges Mittelmaß und in anderem brillieren wir. Wir alle sind in vielem unauffälliges Mittelmaß und in anderem einfach nur grottenschlecht. Aber wir sind alle unendlich wertvoll, weil wir ein Abbild unseres Schöpfers sind, von ihm gewollt und geliebt, so, wie wir hier auf der Erde rumlaufen. Und dass wir einander respektvoll begegnen, sollte damit außer Frage stehen, ganz egal wie gut wir bergsteigen, chemische Formeln aufmalen, kochen oder reden können. Amen.
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Vom Bösen und vom Guten
Heiko Frubrich, Prädikant - 21.10.2024
„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Dieses Wort aus dem Brief des Apostels Paulus an die christlichen Gemeinden in Rom steht über der neuen Woche. Das hört sich gut an, wirft aber in der Umsetzung auch so manche Fragen auf. Eine zentrale davon lautet: Und wie, bitteschön, soll das gehen?
An Beispielen für das Böse mangelt es gerade in unserer Zeit nicht. Krieg in der Ukraine, Krieg im Nahen Osten, Unrechtsregime in so vielen Ländern, Populisten vielerorts auf dem Vormarsch, wachsender Rechtsextremismus und zunehmende Gewaltbereitschaft in unserem Land, und, und, und. Und all das sollen wir, wie Paulus meint, mit Gutem überwinden.
Ja, es gibt eine Reihe von sehr prominenten Beispielen, wo das funktioniert hat. Denken wir an die friedliche Revolution in unserem Land vor gut 35 Jahren. Denken wir daran, wie damals in Leipzig Zehntausende mit Kerzen in den Händen durch die Straßen zogen, ohne, dass es zu Gewaltexzessen kam. Denken wir an die Erfolge, die Ghandi mit seiner Bewegung in Indien hatte. Denken wir an Martin Luther King, der sein Engagement zwar selbst mit seinem Leben bezahlte, aber dennoch gewaltfrei den Rassismus in den USA wesentlich zurückdrängen konnte.
Doch es gibt weit mehr Beispiele dafür, bei denen das Gute nicht mehr so strahlend hervorleuchtet und zu identifizieren ist. Sind wir noch auf dem Weg, den Paulus uns aufzeigt, wenn wir Waffen an die Ukraine liefern? Gibt es im Nahen Osten gute Raketen, die Hamaskämpfer aber eben auch unschuldige Zivilisten töten? Und ist dauernde und vorbehaltlose Vergebung das richtige Mittel, wenn sich Menschen permanent nicht an Recht und Gesetz halten.
Vielleicht kämen wir leichter durchs Leben, wenn es uns gelänge, mit einfachen Antworten zufrieden zu sein. Wenn mich was nervt, dann haue ich drauf. Wenn irgendwas schiefläuft, suche ich nicht nach Lösungen, sondern nach Schuldigen. Und wenn mir Sachverhalte zu komplex sind, dann verdrehe ich sie so lange mit Halbwahrheiten und Lügen, bis sie in mein Weltbild passen.
Aber so sind wir als Christenmenschen nicht gestrickt, weil wir wissen, dass bei einer solchen Haltung Menschen in ihrer Würde verletzt werden, die Wahrheit unter die Räder kommt und wir uns selbst untreu werden. Und so ist es tatsächlich hilfreich, Paulus‘ Standpunkt bei unserem Tun und Lassen im Hinterkopf mitklingen zu lassen: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Amen.
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K - Krankheit
Cornelia Götz, Dompredigerin - 17.10.2024
K – Krankheit
Bei Jesaja heißt es über den Gottesknecht: „Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit.“
Im zweiten Buch Mose steht: „Ich bin der Herr, dein Arzt.“
Krankheit.
Sie begegnet in der gesamten Bibel in zahllosen Facetten.
Es gibt Hautkrankheiten, Blindheit, Blutfluss und Geisteskrankheiten, Kriegsverletzungen, Seuchen, Lähmungen.
Aber Krankheiten gehörten nicht zum Anfang. Als Gott die Welt schuf, sollte Leid und Geschrei, Krankheit, Schmerz und Gewalt nicht sein.
Da war die Welt heil und vollkommen, gut eingerichtet.
Krankheit und Tod sind mit der Entfremdung des Menschen von Gott in die Welt gekommen, Schmerz und Not begannen jenseits der Tore des Paradieses. Sie sind physischer und seelischer Ausdruck der verlorenen Nähe zu Gott. Darum ist es auch im Wortsinne kein Wunder, dass Jesu Vollmacht sich daran erweist, Krankheit und Tod zu überwinden
Diese biblische Deutung von Krankheit ist schwer verdaulich. Man muss die Augen fest zusammenkneifen, um aus den Texten nicht zu lesen, dass Krankheit die schwerwiegende schmerzhafte Folge der gestörten Gottesbeziehung ist.
Darum hängen auch Umkehr zu Gott und Heilung eng zusammen.
Aber warum trifft Krankheit dann die einen so schrecklich und die anderen kaum? Das ist eine uralte Frage, die auch die Menschen der Bibel kennen.
Ist Krankheit das Schicksal aller?
Gnade aber die Zuwendung zu jedem Einzelnen?
Wir glauben, als Christen erst recht, dass es keine Kausalität, keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem einzelnen Menschen, seinem Lebenswandel, seiner Sünden, seiner Schuld oder der seiner Eltern, gibt.
Krankheit ist keine Strafe Gottes.
Auch wenn Menschen sich angstvoll fragen, ob sie das etwa verdient hätten.
Jesus Christus hat unsere Schuld ein für alle Mal auf sich genommen. Es gibt keine offene Rechnung.
Ich denke: Gott leidet Menschenleid mit. So ist nur konsequent, dass Jesus Christus, der die Menschen mit Gott versöhnte, als Heiler wirkt, dass mit ihm endlich die verheißene Heilszeit aufscheint, indem Menschen gesund werden – und eben auch, dass er Wundschmerz und Atemnot litt, daran starb.
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Kraut mit Liebe
Cornelia Götz, Dompredigerin - 16.10.2024
Gestern Abend wurde hier während der Andacht zum Gedenken an die Bombardierung Braunschweigs ein Text von John Witcombe, dem Dean aus Coventry, gelesen. Darin beschreibt er, dass es auch Friedens- und Versöhnungsarbeit sein kann, sich auf den Weg zu machen, hinzufahren und zuzuhören.
Manchmal erntet man dann die unmittelbare Dankbarkeit anderer, ihre Situation geteilt zu haben. Manchmal wird man aber der eigenen Vorurteile überführt.
Immer kommt man verändert zurück.
So ging es mir mit einem Klassentreffen. Nach vierzig Jahren stand eine Begegnung mit den Menschen an, mit denen ich bis wir 16 waren zehn Jahre lang zur Schule gegangen bin. Nur zwei von vierundzwanzig hatten Abitur machen dürfen. Die anderen waren in die Lehre gegangen, die meisten in der Gegend geblieben: also rund um Chemnitz.
Ich fürchtete mich ein bisschen.
Würden wir uns noch etwas zu sagen haben? Würde ich nach den jüngsten Landtagswahlen womöglich mit AFD-Wähler*innen in der Kneipe sitzen und einen Abend voller Wut und Unzufriedenheit erleben? Würde es mithin eher eine Feldstudie denn ein Freundestreffen werden?
So war es mitnichten. Und das hat mich erleichtert und beschämt.
Denn es war zum Beispiel so:
Eine Klassenkameradin, deren Eltern eine familiengeführte Fleischerei durch die ganze DDR hindurch gerettet hatten, erzählte, wie diese unmittelbar nach 1990 ihr Geschäft verloren hatten. Es war eine Geschichte von Übervorteilung und schlechter Beratung wie sie in dieser Raubritterzeit x-mal geschah. Die Tochter, die Fleischereifachverkäuferin geworden war und den Laden weiterführen wollte, verdingte sich von da an hinter den Fleischtheken diverser Supermärkte. Mit ihrem nicht eben üppigen Gehalt zahlte sie bis vor zwei Jahren die Schulden ihrer Eltern ab.
Sie hätte Grund gehabt, sich als Wendeverliererin zu fühlen.
Man hätte ihr nur schwer widersprechen könne, wenn sie zornig auf den Westen geschimpft hätte, dessen Berater und Banker…
Aber das tat sie nicht. Sie erzählte warmherzig und offen ihre Geschichte. Es war eine der Art, wie sie oft vorkommt und selten erzählt wird. Ein Leben mit viel Arbeit und ohne große Sprünge, ohne großen Wohlstand, ohne weite Kreise – unbemerkt und ungewürdigt. Auch das sind Ostgeschichten.
Und die merkwürdige Tageslosung aus dem Buch der Sprüche dazu heißt: „Besser ein Gericht Kraut mit Liebe als ein gemästeter Ochse mit Hass.“
Download als PDF-Datei Institutionen verteidigen
Institutionen verteidigen
Cornelia Götz, Dompredigerin - 15.10.2024
Fast hätte ich es überlesen, aber über diesem Tag, der in der Geschichte dieser Stadt fraglose eine schmerzhafte Zäsur markiert, heißt es aus dem Buch Nehemia:
„Der Gott des Himmels wird es uns gelingen lassen; denn wir, seine Knechte, haben uns aufgemacht und bauen wieder auf.“
Immer wieder tun wir das.
Mal sind es die buchstäblichen Trümmer, die beiseite geräumt werden müssen, mal haben Wassermassen und Schlamm Lebensgrundlagen, Ernten und Häuser zerstört, mal brechen Arbeitsplätze weg oder Börsenkurse zusammen. Immer krempeln Menschen die Ärmel auf, immer gibt es die, die dem Morgen Besserung zutrauen.
Wir hier vertrauen (oder versuchen es) der Kraft, die wir tagtäglich hier im Vaterunser erinnern – Gottes Kraft – die es uns möglich macht, zwischen den Bergen von Schutt und Schuld weiterzuleben und neu zu beginnen, irgendwann auf- und dann sogar durchzuatmen.
Und doch scheint uns diese Kraft nicht davor zu schützen, immer wieder Zerstörerisches zu tun, obwohl sich mit ihr doch die Bitte verbindet: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“
Und der gebietet, den Frieden zu suchen, die Fremden zu schützen, für Witwen und Waisen zu sorgen, bei er Wahrheit zu bleiben, klar „ja“ oder „nein“ zu sagen.“
Was können wir also tun?
Ich werde einen kühnen Sprung machen: Wir können die Institution Kirche stark machen.
Das hat nichts miteinander zu tun?
Doch, ich glaube, in Krieg, Gewalt und Not reiten wir uns durch Diktaturen, vorauseilenden Gehorsam, Lügen.
Gerade erleben wir das und wenn man ein bisschen genauer hinhört, dann hat auch die Missachtung der Institutionen daran Anteil. Gerade haben Forscher den Wirtschaftsnobelpreis für die Beschreibung des Zusammenhangs von stabilen Institutionen und wirtschaftlichem Erfolg bekommen. Transparente demokratische Institutionen sichern Eigentum und Investitionen erheblich besser als autokratische Willkür oder Einparteiensysteme.
Tmothy Snyder, Professor für osteuropäische Geschichte in Yale, zählt unter die zwanzig Lektionen zum Widerstand gegen Tyrannei schon als zweitwichtigste: „Verteidige Institutionen!“, Gerichte, Zeitungen, Gewerkschaften... Das hilft uns, Anstand zu bewahren und ihnen nicht zusammenzubrechen oder ihr eigenes Trugbild zu werden.
Unsere Institution ist die Kirche.
Sie macht nicht immer Spaß. Es gibt viele falsche Entwicklungen.
Aber sie eröffnet einen Raum für uns alle, von dem aus wir uns – gestärkt mit Gottes Kraft- aufmachen und aufbauen können.
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Komm!
Cornelia Götz, Dompredigerin - 14.10.2024
„Komm bau ein Haus, das uns beschützt / pflanz einen Baum, der Schatten wirft / und beschreibe den Himmel, der uns blüht / und beschreibe den Himmel / der uns blüht.“
So dichtete Friedrich Karl Barth 1977, reichlich dreißig Jahre nach Kriegsende.
1938 geboren in Kassel wird er eine Ahnung davon gehabt haben, wie eine Trümmerlandschaft aussieht und welche Angst ein Himmel machen kann, wen es statt Blüten Bomben regnet.
Und genauso wird er gewusst haben, dass nach den bitterkalten Hungerwintern kaum noch ein Baum stand, geschweige denn Menschen und Tiere in seinem Schatten tanzten, spielten und erzählten.
Es brauchte seine Zeit und es braucht immer noch ein Bewusstsein dafür, dass ein Leben ohne Kriegsversehrtheit keine Selbstverständlichkeit ist.
Denn heute Abend vor 80 Jahren sind die Menschen hier zum letzten Mal in der mittelalterlichen Hansestadt mit seinen Bürger- und Gildehäusern ins Bett gegangen.
In der Nacht zum 15. Oktober ist Braunschweig in Schutt und Asche gesunken und erlitt das gleiche Schicksal wie Coventry und Rotterdam, Kiel, Hamburg und Dresden, Mariupol, Odessa, Homs und Aleppo.
1977, als Karl Friedrich Barth seinen Text dichtete, ging es hier längt wieder bergauf. Bombenkrater und Häuserlücken hatten sich geschlossen.
Die Stadt hatte ein neues – wenn auch ein bisschen vernarbtes – Angesicht.
Auch Menschen lebten, liebten und lachten wieder und trugen doch Brandverletzungen mit sich herum, schraken und schrecken in Alpträumen hoch.
Darum kam und kommt darauf an, Leben in Frieden und Freiheit zu hüten und miteinander einzuüben.
Diesem Gedanken folgten die nächsten Strophen und weil wir fast in diesem Hoffnungsbild eben, lasst sie uns sehr bewusst unter der Erntedankkrone hören:
„Lad viele Kinder ein ins Haus / versammle sie bei unsrem Baum, /
lass sie dort fröhlich tanzen, / wo keiner ihre Kreise stört, …
Lad viele Alte ein ins Haus / bewirte sie bei unsrem Baum,
lass sie dort frei erzählen, / von Kreisen, die ihr Leben zog, /
lass sie dort lang erzählen, wo der Himmel blüht.“
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Cantilène religieuse
Heiko Frubrich, Prädikant - 12.10.2024
„Cantilène religieuse“, so hat Théodore Dubois sein Werk überschrieben, das er als Nummer zwei in seiner Sammlung „Sieben Stücke für Orgel“ komponiert hat und das uns Domorganist Witold Dulski gleich spielen wird. „Religiöser Gesang“, so könnte man den Titel übersetzen, und tatsächlich konnte ich in der Musik viel davon wiederfinden.
Das Stück beginnt und endet in C-Dur in einem Dreivierteltakt und einem ruhigen Tempo, Andante espressivo mit 66 Schlägen pro Minute. Wenn wir entspannt sind ist das ein guter Ruhepuls, ein guter Rhythmus für unser Leben. Die Orgel pustet uns nicht in mächtigem forte fast von den Sitzen, nein, die Musik streichelt uns fast mit einem zurückhaltenden piano. Da gibt es Läufe, die uns mit nach oben ziehen, da gibt es Motive, die wiederkehren, die uns vertraut werden, die sich aber auch verändern und so das Stück nach vorne bringen.
So kann ein Leben im Glauben klingen, finde ich. So kann ein Leben klingen, in dem wir Gott Raum geben, in dem wir uns auf ihn einlassen und seine Gegenwart zulassen. Unser Gott ist ein Gott der leisen Töne. Er drängt sich nicht auf, er setzt uns nicht unter Druck aber er begleitet uns gern auf unseren Lebenswegen – in unserem Tempo, ohne Hetze, ohne Stress.
Gott erdrückt uns nicht mit seiner Präsenz. Er lässt uns Raum zum Atmen, stellt unsere Füße auf weiten Raum, wie die Bibel sagt. Er schenkt uns ein Leben in Freiheit. Auch Dubois‘ Musik erschlägt uns nicht. Sie begleitet uns, bietet an, uns hineinfallen zulassen in ihre sanften Harmonien. Doch es bleiben wir, die entscheiden, wie weit und in welche Richtung wir gehen wollen.
So ist es auch mit Gott. Er ist Wegweiser und Wegbegleiter, aber niemals Diktator. Und er schaut mit großer Geduld auf uns und unser Leben und bleibt uns zugewandt, trotz alledem, was wir ihm zumuten in unserer Überheblichkeit, unserer Arroganz und unserem Narzissmus.
Doch auch, wenn wir auf Abwege geraten und uns von ihm entfernen, können wir uns seiner offenen Arme sicher sein. Die Chance, es noch einmal zu versuchen, die Chance, es besser zu machen als in der Vergangenheit, diese Chance gibt er uns immer. Und auf seine Bereitschaft, uns zu vergeben, können wir uns verlassen. Wie wunderbar, dass er für uns da ist.
Cantilène religieuse, Musik, um die Augen zu schließen und unserem Gott Danke zu sagen. Amen.
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Coming-Out-Day
Heiko Frubrich, Prädikant - 11.10.2024
„Diese schwule Scheiße unterschreibe ich nicht!“ Mit diesen Worten hat sich ein Spieler des VfL Wolfsburg in dieser Woche mehrfach geweigert, sein Autogramm auf ein T-Shirt des Fußballclubs zu setzen, dass mit Regenbogenfarben für Vielfalt und Gleichberechtigung wirbt. Das hat in den Medien und sozialen Netzwerken zu Recht hohe Welle geschlagen. Auch vereinsintern gab es wohl richtig Stress und mittlerweile einen Zweizeiler als Entschuldigung. Wie viel Einsicht hinter den knappen Worten steht, mag ich nicht einschätzen.
Auch unsere Lokalzeitung befasst sich heute mit dem Sachverhalt auf einer knappen halben Seite. Dort wird ausführlich und beinahe Mitleid erheischend berichtet, wie der betroffene Fußballer von einem Spielerkollegen, der selbst schon einmal wegen homophober Äußerungen bestraft wurde, getröstet und wieder aufgebaut wird. „Am Donnerstag habe die Welt für den Stürmer nach dem Aufruhr am Mittwoch schon „nicht mehr ganz so grau“ ausgesehen“, ist da zu lesen und es wird darüber fabuliert, wer denn wohl den Vorgang überhaupt öffentlich gemacht habe.
Und ich lese das und denke: Das kann doch wohl nicht wahr sein! Die Anzahl von Gewaltdelikten gegen queere Menschen ist von 2022 auf 2023 in Deutschland um 50% gestiegen. Im Osten unseres Landes werden Paraden und Feste zum Christopher-Street-Day von rechten Truppen gestört und Rednerinnen und Redner mit Drohungen niedergebrüllt. Die Stimmung in unserem Land verschlechtert sich, auch ganz deutlich gegenüber queeren Menschen.
Die Äußerungen des Wolfsburger Spielers sind nicht einfach mal so im Eifer des Gefechtes rausgerutscht. Dahinter steht eine Haltung, die in diesem Satz ihren Ausdruck findet, eine Haltung, die Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung verachtet.
Der heutige 11. Oktober ist Coming-Out-Day. Mit vielen Aktionen und Veranstaltungen soll insbesondere jungen Menschen dabei geholfen werden, sich zu ihrer Sexualität zu bekennen und sich zu outen. Der häufig schwierigste Schritt ist, dies in der eigenen Familie zu tun, insbesondere, wenn dort wenig Toleranz gegenüber anderen Lebensmodellen als dem, der klassischen Familie, herrscht.
Auch unsere Sexualität ist neben so vielem anderen ein wunderbares Gottesgeschenk und kein Mensch der Welt hat Einfluss darauf, was ihm da göttlicherseits mit in die Wiege gelegt wird. Und gerade dieses Geschenk ist besonders wertvoll, weil es dabei um Liebe geht, darum, dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen und ihre Lebenswege gemeinsam gehen wollen – als Mann und Frau oder als Frau und Frau oder als Mann und Mann. Und wie anmaßend ist es doch, Menschen darüber zu bewerten und in Kategorien von richtig und falsch zu packen.
Mit Jesus Christus und seiner Botschaft ist so etwas nicht zu rechtfertigen. Auch nicht beim Fußball. Amen.
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Great is Thy faithfulness
Heiko Frubrich, Prädikant - 10.10.2024
Ende August hatten wir hier im Dom Bischof Philip North aus Blackburn zu Gast. Seit gut einem Jahr steht er der anglikanischen Diözese vor. Bei einem Rundgang hier im Dom war er begeistert und beeindruckt von unseren Orgeln, denn auch in der Kathedrale in Blackburn spielt die Kirchenmusik eine besondere Rolle.
Irgendwie ist mir um diesen Besuchstermin herum mein englisches Gesangbuch in die Hände gefallen und ich habe darin beim Rumblättern einen wunderbaren Choral gefunden, der gut in diese Erntedankwoche passt und den ich Ihnen gern vorstellen möchte. „Great is Thy faithfulness“ ist der Titel, „Groß ist Deine Treue“.
„Groß ist deine Treue, Gott. Du wendest dich nicht ab und deshalb stehen wir niemals im Schatten. Du änderst dich nicht, deine Barmherzigkeit lässt nicht nach. So wie du gewesen bist, wirst du für immer sein.“ So lautet der Text der ersten Strophe. Und es geht weiter: „Sommer und Winter und Frühling und Ernte, Sonne, Mond und Sterne auf ihrer Bahn, sie verbinden sich mit der ganzen Natur zu einem vielfältigen Zeugnis deiner großen Treue, Barmherzigkeit und Liebe.“
Ja, das klingt vielleicht ein wenig plüschig und es ist in der Tat sehr fromm. Gerade wir Protestanten mögen es gerne auch mal etwas kritischer und das ist ja auch gut so. Kirche muss sich zu den aktuellen Themen, die diese Welt beschäftigen verhalten, sie muss kritischer Wächter sein und bleiben und sich einmischen. So hat es uns Jesus Christus vorgelebt.
Und dennoch brauche ich immer wieder auch solche Lieder und Texte, die mich daran erinnern, woraus ich Kraft ziehen kann, was meinen Glauben stark macht und was größer ist als jeder tägliche Ärger, jede schlechte Nachricht und selbst größer als die größten menschlichen Tragödien. Es ist und bleibt Gottes Zusage, uns in alledem niemals allein zu lassen.
Schmerz und Leid gehören zu jedem Leben dazu, auch das hat Gott so gefügt und was das bedeutet sehen wir am Leben Jesu Christi, der am eigenen Leib erfahren musste, wozu Menschen fähig sind. Doch Gott hat es gutgemacht mit ihm und für uns alle eine Perspektive eröffnet, die alles Irdische und Vergängliche ganz locker in den Schatten stellt. Die dritte Strophe und der Refrain fassen es so zusammen:
„Vergebung der Sünden und ewiger Frieden, deine Gegenwart, die erfreut und ermutigt und mir Wegweisung ist, Kraft für heute und strahlende Hoffnung für morgen, ist Segen für mich und für so viele andere mehr! Groß ist deine Treue. Morgen für Morgen erlebe ich neue Gnade. Alles, was ich brauche hast du mir gegeben. Groß ist deine Treue, Gott, gegenüber mir. Ja, so ist es. Amen.
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Abraham
Heiko Frubrich, Prädikant - 09.10.2024
„Vater der vielen Völker“, „Der Vater ist erhaben“, „Freund Gottes“, so wird er genannt. Abrohom, Awroham, Ibrahim oder Abraham, so klingt sein Name auf Aramäisch, Altjiddisch, Arabisch oder Deutsch. Den biblischen Berichten zufolge ist kaum jemand Gott so nahegekommen wie er. „Ich will dich zu einem großen Volk machen“, hat Gott ihm verheißen und Abraham so zum Urvater gemacht. Und heute ist sein Gedenktag.
Abraham konnte ein Schlitzohr sein, der Gottes Weisungen durchaus beachtet, sie aber immer wieder auch ein bisschen zu seinen eigenen Gunsten ausgelegt hat. Als der Herr ihm sagt, er möge Familie, Freunde und alles Hab und Gut hinter sich lassen und in ein Land gehen, dass er ihm zeigen werde, da zieht Abraham los, aber eben nicht arm und allein. Er nimmt seinen Neffen Lot mit und auch Teile seines Vermögens bleiben nicht zu Hause. Und als es um die Zerstörung der Stadt Sodom geht, in der Lot mit seiner Familie lebt, da verhandelt Abraham mit Gott wie auf einem orientalischen Markt und das durchaus erfolgreich.
Doch er war Gott treu. Eine der wohl haarsträubendsten Geschichten der Bibel berichtet davon, dass Gott Abraham befiehlt, seinen Sohn Isaak zu opfern. Als Abraham seinem gefesselten Sohn das Messer schon an die Kehle setzen will, verhindert ein Engel des Herrn das Schlimmste im allerletzten Moment.
Abrahams Leben war beeindruckend und die biblischen Berichte über ihn und seine Familie sind spannend, beinahe wie ein Krimi. Doch es gibt darüber hinaus einen Aspekt, der Abraham für unsere Zeit zu einer wichtigen Person macht. Denn er ist eine Integrationsfigur, die von Juden, Muslimen und Christen gleichermaßen anerkannt und verehrt wird.
In Abraham wird für alle offensichtlich, dass wir alle zu ein und demselben Gott beten, eben zu jenem, dem Abraham so nahe sein durfte. Kann denn das nicht eine Chance sein, sich über all den Terror und die Gewalt und die Kriege hinweg darauf zu besinnen, dass wir alle eine gemeinsame Wurzel haben, dass wir alle Kinder desselben Gottes sind, der doch ganz sicher kein Interesse daran haben kann, dass wir uns gegenseitig die Schädel einschlagen?
„Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein und in dir sollen gesegnet sein alle Völker“, das hat Gott dem Abraham mit auf den Weg gegeben und damit doch auch all jenen, die sich bis aufs Blut feind sind. Würde sich doch diese Erkenntnis in den Köpfen festsetzen, viel Leid wäre vermeidbar. Und die Menschen könnten sich wieder begegnen und sich grüßen, wie von alters her: Shalom, Salam, Friede sei mit Dir! Amen.
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Erntedank
Heiko Frubrich, Prädikant - 08.10.2024
Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht. Diese Wahrheit, die im Übrigen auch für alles andere Grünzeug gilt, das in Feld und Wald, Balkonkasten und Blumentopf und im heimischen Garten zu finden ist, diese Wahrheit ist unumstößlich. Geduld ist gefragt, wenn es ums Gärtnern geht. Geduld ist gefragt in der Landwirtschaft und Geduld war auch gefragt, bis all das, was hier vorne unseren Altar so prachtvoll schmückt, bereit war, um geerntet zu werden.
Doch wir reden über einen überschaubaren Zeitraum. Während ja so manches Bauprojekt unsere Geduld über Jahre und Jahrzehnte strapaziert – fahren Sie mal über die Autobahn nach Flensburg – reden wir bei dem, was wir hier vorne sehen, bestenfalls über ein paar Wochen. In dieser Zeit ist aus der Blüte der Apfel, aus dem Korn die Ähre und aus dem Samen der Kürbis geworden – einfach so.
„Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ So heißt es im 1. Buch Mose. Es ist Gottes Versprechen nach der großen Sintflut, der erste Bund, den er mit uns Menschen eingeht. Und Gott hat sich daran gehalten, verlässlich und treu, bis heute.
Und es ist jedes Mal wieder ein Wunder, was sich da vor unseren Augen vollzieht. Mal abgesehen von den notwendigen Apfelbäumen, passt, so denke ich, alles andere, was es an Samenkörnern und Setzkartoffeln für das hier vorne braucht, in einen kleinen Beutel. Und dann geben wir es in die Erde und bekommen dafür diese Fülle an Farben und Düften, an Geschmack und Vitaminen, an Kohlehydraten und Mineralstoffen und was weiß ich, was da sonst noch so alles drin ist. Und das funktioniert jedes Jahr aufs Neue, weil wir uns darauf verlassen dürfen, was Gott uns versprochen hat.
Und wir dürfen uns auf noch so viel mehr verlassen: darauf, dass Gott uns kennt, dass er uns ins Herz schaut und weiß, wie es in uns aussieht; darauf, dass er uns annimmt; darauf, dass wir von ihm gewollt und geliebt sind; und darauf, dass er es gutmachen wird – mit Ihnen, mit Euch und mit mir.
Auch das ist Erntedank, diese Erinnerung an Gottes Treue, die nicht endet und die uns trägt und hält hindurch und hinweg über alles Schwere, was unser Leben auch mit sich bringen mag. Denn Gott hat es uns in seinem Sohn zugesagt: „Fürchte dich nicht. Denn siehe ich bin bei dir alle Tage bis an der Welt Ende.“ Amen.
Download als PDF-Datei 7. Oktober – ein erschütternder Jahrestag
7. Oktober – ein erschütternder Jahrestag
Heiko Frubrich, Prädikant - 07.10.2024
Es ist ein besonderer Feiertag, der Freudentag der Tora, der an diesem Schabbat gefeiert werden soll. Doch es wird kein Feiertag. Es trifft Männer Frauen und Kinder, Junge und Alte. Sie sind zu Hause, unterwegs zu Freunden, viele besuchen ein großes Musikfestival im Süden Israels. Am Ende dieses ersten Tages des Gewaltausbruches im Nahen Osten wird man mehr als 1.200 Tote und über 200 Verschleppte zu beklagen haben – allein auf israelischer Seite, allein an diesem ersten Tag. Es ist der schlimmste Pogrom an Juden seit dem Ende des Holocaust.
Seit diesem 7. Oktober 2023, an dem die Terroristen der Hamas Israel brutal überfallen haben, hat sich die Spirale der Gewalt immer weiter beschleunigt. Auf Aktion folgte Reaktion, auf Angriff folgte Vergeltung und auf jede Vergeltung weitere Vergeltung. Und die Spirale ist zu einem Strudel geworden, der sich ausweitet, der immer mehr Menschen hineinzieht und dessen Sog auch wir spüren in hämischem Jubel über die Erfolge der Terroristen und in einer Welle von unverhohlenem Antisemitismus in unserem Land.
Die Diplomatie scheint machtlos zu sein. Sie prallt ab an einer Mauer aus Hass und Fundamentalismus, sie schafft es nicht die tiefen Gräben zu überwinden und die Beteiligten dazu zu bewegen, wenigstens für eine kurze Zeit die Waffen aus der Hand zu legen und miteinander zu reden.
Es steht zu befürchten, dass viele in diesen seit einem Jahr andauernden Gewaltexzessen Chancen sehen, ihre eigenen Ziele und Interessen ein für allemal durchzusetzen. Da sind jene, die den Staat Israel endgültig von der Landkarte tilgen wollen und da sind andere, die dafür kämpfen, die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah und ihre Unterstützer dauerhaft zum Schweigen zu bringen. Und beide Seiten sind bewaffnet bis an die Zähne und ob und wann eine der Parteien ihr Ziel erreicht, ist nicht absehbar. Die Toten lassen sich mittlerweile in Zehntausenden zählen, die Verletzten ebenso.
Und unterdessen sterben jeden Tag auf Neue unschuldige Menschen, die diesen Krieg nicht gewollt haben, Menschen, die einander bestimmt auch gute Nachbarn sein würden, wenn man sie den ließe. Und unterdessen wagen sich Jüdinnen und Juden in unserem Land immer weniger, offen zu ihrem Glauben zu stehen und ihn zu leben. Und unterdessen bröckelt auch die Solidarität mit dem Staat Israel, die über Jahrzehnte in unserem Land Konsens war.
Und wir stehen da und schauen auf diese Katastrophe und müssen erneut feststellen, wie schwer wir Menschen uns tun, ja wie unfähig wir doch sind, aus uns heraus die Wege zu finden, die zum Frieden führen. Wir müssen feststellen, wie machtlos wir doch sind, in unserem Wunsch, dem allen Einhalt zu gebieten.
Es bleibt uns, Gott zu bitten, dieses Leiden und Sterben zu beenden. Es bleibt uns, ihn zu bitten, die Mächtigen sprachfähig zu machen, damit sie Auswege verhandeln können. Und es bleibt uns, Gott zu bitten, die Menschen zu segnen, die in Angst und Trauer und Verzweiflung leben und den Hass zu vertreiben, damit Frieden möglich wird. Möge Gott unsere Gebete erhören Amen.
Download als PDF-Datei Einheit in Einigkeit
Einheit in Einigkeit
Heiko Frubrich, Prädikant - 05.10.2024
In diesem Jahr wurde ihr der sonst sichere erste Platz in den Nachrichtensendungen streitig gemacht. Die eskalierende Gewalt im Nahen Osten hat sie von dort verdrängt. Oder hat sie auch aus anderen Gründen ihren Glanz verloren? Ist sie als epochale Veränderung im Leben vieler Millionen von Menschen nicht mehr so bemerkenswert?
Ich rede von der Deutschen Einheit, die wir vor zwei Tagen gefeiert haben – wenn wir sie denn gefeiert haben. Fakt ist, dass die Unterschiede in dem, was sich Menschen unter dieser Einheit vorstellen, immer deutlicher werden. Insbesondere ist mittlerweile sehr klar, dass diese Deutsche Einheit nicht bedeutet, dass die östlichen Bundesländer irgendwann einmal eine exakte Kopie der westlichen sein werden und sein wollen.
„Einheit in Einigkeit“ hat Domorganist Witold Dulski seine Komposition überschrieben, die wir später zum Beschluss des Mittagsgebetes hören werden. So könnte man auch unser Ziel betiteln, das wir uns als Gesellschaft in Deutschland setzen: Einheit in Einigkeit. Darunter ist mehr zu fassen als ein weiteres Zusammenwachsen von Ost und West. Unter diese Überschrift gehören auch Fragen der Integration von Migrantinnen und Migranten, Fragen, wie wir Menschen erreichen, die sich vom demokratischen Konsens verabschiedet haben und unsere freie und offene Gesellschaft grundsätzlich ablehnen und verachten.
Einheit in Einigkeit setzt voraus, dass wir einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden, unter dem wir uns alle zusammenfinden, über den wir uns einig sind. In der Vergangenheit waren das demokratische Grundwerte, die über alle politischen Unterschiede hinweg getragen haben und nicht in Frage gestellt wurden. Das ist heute offensichtlich nicht mehr der Fall. Müssen wir neue Felder suchen, über die wir eine übergreifende Einigkeit erreichen, oder gibt es Wege, die uns als Gesellschaft zurückfinden lassen auf die bewährte Basis?
Auch die Bibel beschreibt Situationen, in denen grundlegende Veränderungen vor sich gehen. Der Apostel Paulus schreibt an die junge christliche Gemeinde in Galatien: „Hier ist nicht mehr Jude oder Grieche, hier ist nicht mehr Sklave oder Freier, hier ist nicht mehr Mann oder Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“
Christus schafft hier eine neue Basis, ein neues Fundament, auf dem sich alle versammeln können und das trotz alle Unterschiedlichkeiten trägt. Er stiftet mir seinen Werten, die er den Menschen seinerzeit und auch uns heute vorgelebt hat, die Einigkeit, aus der heraus eine Einheit entstehen kann.
Diese Werte können auch uns als Gesellschaft insgesamt helfen, bestehende Gräben zu überwinden und die Mauern der Sprachlosigkeit, die wir in Teilen zwischen uns errichtet haben, wieder einzureißen. Jede und jeden davon zu überzeugen, dass wir alle eins in Christus sind, wäre sicherlich zu viel gewollt. Aber eine Einigkeit darüber zu schaffen, dass jede und jeder ein Mensch ist, der eine unantastbare Würde hat, könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein, um das zu erreichen, was Witold Dulski gleich in Musik gießen wird: Einheit in Einigkeit. Amen.
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Rettungsanker Gottvertrauen
Heiko Frubrich, Prädikant - 01.10.2024
Rettungsanker Gottvertrauen
Der 1. Oktober, ein neuer Monat und damit auch eine neue Monatslosung und sie lautet: „Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“ Es ist ein Wort aus den Klageliedern des Propheten Jeremia. Klingt erst einmal gar nicht so nach Klage. Doch damit wir nachvollziehen können, in was für einer Stimmung er ist, als er diese Worte zu Papier bringt, lese ich uns ein paar Verse, die kurz vor dem stehen, den wir eben gehört haben. Jeremia schreibt:
„Gott, der Herr, hat seine Hand gewendet gegen mich und erhebt sie gegen mich Tag für Tag. Er hat mir Fleisch und Haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen. Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben. Er hat mich in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind. Er hat mich ummauert, dass ich nicht herauskann, und mich in harte Fesseln gelegt. Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet. Er hat meinen Weg vermauert mit Quadern und meinen Pfad zum Irrweg gemacht.“
Verzweifelter und frustrierter kann man ja wohl kaum klingen als der arme Jeremia es hier in seinem Klagelied ausdrückt. Da sind ja offenbar nur noch Frust und Angst und Resignation. Da ist ja offenbar jedes Gottvertrauen erstickt und verschüttet unter Verzagtheit, Trauer und Hoffnungslosigkeit.
Ob solche Klagen auch heute im Nahen Osten zu hören sind – in Israel, in Gaza, im Libanon? Wird so zum Herrn gerufen in den U-Bahnschächten in Kiew und Donezk, wenn draußen die Raketen einschlagen? Werden Menschen in Russland so klagen, die ihre Söhne, Ehemänner, Väter und Freunde im Krieg verloren haben? Gott, du hast mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben?
Gottvertrauen ist oftmals das letzte, was in einem Leben noch trägt. Gottvertrauen ist der Notanker, wenn alles andere versagt und wenn alle anderen nicht mehr helfen können oder wollen. Und so verzweifelt der Prophet Jeremia auch klingen mag, er kann eben doch noch sagen: Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu und seine Treue ist groß.
Und so ist es ganz sicher nicht verkehrt, Gott in guten Zeiten immer wieder um vertrauensbildende Maßnahmen zu bitten – durch Zeichen seiner Nähe auf unseren Lebenswegen, durch spürbare Liebe, die er uns zuteilwerden lässt, durch erlebbare Antworten auf unsere Gebete. Denn dass Jeremia recht hat, ist für uns alle in Jesus Christus offenbar geworden: Gottes Barmherzigkeit hat kein Ende. Sie ist alle Morgen neu und seine Treue ist groß. Amen.
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Maria aber...
Cornelia Götz, Dompredigerin - 28.09.2024
Über diesem Septembersamstag heißt es aus der Weihnachtsgeschichte: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“
Ach, wie schön, dass das mitten im September auftaucht.
Wie gut, uns an diese Szene zu erinnern während die Töne um uns herum immer rauer werden.
Es ist ja gar nicht vorstellbar, dass es harte oder böse Worte waren, hasserfüllt oder verlogen, die Maria da behielt und bewegte.
Im Gegenteil.
Ich denke mir, die Hirten waren in die Knie gesunken. Angerührt und plötzlich erfüllt von einer großen Zuversicht.
Vielleicht haben sie vor Erleichterung geweint.
Nur Maria weiß, was über ihre Lippen kam als ihnen das Herz überlief.
Sie kamen ja aus einem harten Alltag.
Sie kannten die Sorge um das tägliche Brot, den Schutz der Tiere, die Angst in der Nacht. Sie wussten von der Not durch die Besatzung, die schwere Steuerlast. Ob ihre Lebensform auch noch ihre Kinder ernähren würde…?
Aber vielleicht fiel ihnen all das schwere und Mühsame in diesem Moment gar nicht ein. Sie sahen das kleine Kind im Licht dieser besonderen Nacht und mit ihm alles, was gut ist und gut werden kann in unserem Laben, zwischen uns Menschen.
Vielleicht lag also gar nicht die Klage, sondern die tiefe Zufriedenheit, wenn es den Tieren gut ging, das Glück zuhause sein, wenn das Licht friedlich auf dem Land lag, das Gefühl von Einklang und Dankbarkeit obenauf.
Manchmal überraschen wir uns ja zum Glück mit Zuversicht.
Bei einem Demokratieprojekt im kleinen Haus am Staatstheater haben wir vorgestern versucht, Regeln und Themen für den demokratischen Diskurs zu finden – auch da ging es erstaunlicherweise nicht zuerst um Angst, Fake news, Populismus sondern um Begegnung, Zuhören, Verständnis, Humor.
Es ist die Kraft der Hoffnung, die uns dann doch trägt.
Es sind Glaube und Liebe, die an der Krippe aufscheinen.
Maria bewegte die Worte.
Lässt sie nachhallen. Staunend. Lächelnd.
Die Hirten werden von all dem erzählen. Es ist die eine Geschichte, die Leben hilft, die wir jetzt brauchen.
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J - Judit
Cornelia Götz, Dompredigerin - 27.09.2024
J – Judit
Das Buch Judit taucht erstmals in der griechischen Septuaginta, der ältesten Übersetzung der hebräischen Bibel auf - allerdings ohne einen bekannten hebräischen Vorläufertext. Darum war strittig, ob der Text zum biblischen Kanon gehört mit der bedauerlichen Folge, dass wir die schöne mutige Judit fast vergessen haben.
Dabei gibt es unzählige Darstellungen in der bildenden Kunst und galt die Rede. „keine Furcht in Israel solange Judit lebt.“
Das Buch erzählt von dem babylonischen Herrscher Nebukadnezar, der eine Strafexpedition unter der Führung von Holofernes gegen widerspenstige Gebiete – unter anderem Judäa – aussandte. Judit wusste, dass die Ihren dieser Übermacht nicht lange standhalten würden. Die Wasserzufuhr ihrer Festung war abgeschnitten und die Oberen kurz davor sich zu ergeben.
Das empörte die fromme Judit, die fest darauf vertraute, dass Gott sein Volk nicht preisgeben würde. Darum sagte sie: „Ich werde eine Tat vollbringen, die bis in die fernsten Geschlechter zu den Söhnen unseres Volkes vordringen wird.“ Judit erbat Gottes Segen und freie Passage durch das Stadttor. Herrlich geschmückt zog sie mit ihrer Magd ins feindliche Lager, um den Spieß von Lust und Gewalt, der so viele Kriegshandlungen prägt rumzudrehen. Planmäßig erregte ihre Schönheit und Klugheit beträchtliches Aufsehen und Holofernes verfiel ihr. Aber Judit hielt ihn hin. Sie berührte die Speisen der Fremden nicht und verführte ihn durch Unnahbarkeit. Erst als Holofernes nach einem Festmahl sturzbetrunken war, bleib sie mit ihm allein und nutzte die Gelegenheit, ihm mit seinem eigenen Schwert den Kopf abzuschlagen.
Die blutige Trophäe schmuggelte ihre Magd in einem Lebensmittelsack zurück zu den belagerten Israeliten, die nun ermutigt einen Angriff wagten und die Assyrer vertrieben.
Ein bildgewaltiges Sujet: die berückende Frau mit dem bluttriefenden Schwert, die Retterin des Gottesvolkes, von der ein großes Lobgebet überliefert ist. Sie sprach mit lauter Stimme: „Preiset Gott, der sein Erbarmen vom Hause Israel nicht entfernte, sondern unsere Feinde durch meine Hand zerschmetterte.“
Dorothee Sölle erinnerte übrigens anlässlich eines Textes über Judit an die schöne Rechtsanwältin und Politikerin Nora Astorga aus Nikaragua, die den berüchtigten Folterer General Vega, der ihr verfallen war entführen, gefangennehmen und gegen Freiheitskämpfer austauschen wollte. Der Plan misslang und Vega wurde erschossen. Nora Astorga musste in den Untergrund. Später wurde sie stellvertretende UN-Botschafterin ihres Landes. Sie starb nur 39-jährig an Krebs.
Auch sie war eine Judit. Die Furcht in ihrem Land wurde für eine kleine Weile kleiner.
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Daily soap
Cornelia Götz, Dompredigerin - 26.09.2024
Wir sollten, denke ich manchmal, Serienrechte für eine Daily-Soap verkaufen. Der Braunschweiger Dom, Geschichte und Geschichten diesseits und jenseits dessen, was Menschen sich ausdenken können. Einige Staffeln hätten wir schon voll.
Denn mitten im Herzen der Stadt begegnen uns hier nicht nur die, die Kerzen anzünden und vor Gott innehalten wollen. Da kommen auch die, die ein Plätzchen suchen zum Verschnaufen und solche, die gekannt und angesprochen werden wollen, weil es sonst zu einsam ist in ihrem Leben. Es kommen Pilgerer und Touristen, Architektur-und Geschichtsfreunde, Professoren mit ihren Studierenden, Liebeskranke, Obdachlose, Trauernde und ja, auch Verrückte.
Manchmal finden wir auch nur die Spuren unserer Besucher*innen. Ein Gebet oder Gruß im Buch in der stillen Ecke oder eine Blüte neben dem Friedenslicht beim Schmerzensmann. Es gab schon Geldscheine in der Bibel und natürlich auch Müll.
Zur Zeit haben wir einen Gast, der uns zu denken gibt: auf dem Hochaltar liegen immer wieder kleine Gaben. Mal sind es Schokoladenriegel, einmal war es sogar ein Basecap. Es sieht ganz so aus als will jemand Gott Geschenke machen oder Opfer bringen, als braucht einer seine ganz eigene – offenbar – wortlose sichtbare Form. Aber das ist nicht alles. Jedes Mal, wenn dieser Gast da war, ist das Kruzifix umgedreht.
Der Gekreuzigte schaut dann nach Osten. Ist es jemand, der Gott physisch dazu bringen will, endlich die Ukraine zu befreien oder Ostdeutschland genauer wahrzunehmen?
Oder ist es jemand, der nicht gesehen und nicht erkannt werden will. Nicht mal von der gekreuzigten Figur da oben? Braucht er Gottes Beistand und schämt sich so, dass er sich lieber nicht in die Augen blicken lassen will?
Ist es jemand, der scherzt?
Über diesem Tag heute steht das Doppelgebot der Liebe, das Jesus Christus so über allem wichtig war: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und das erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Vielleicht ist die Geschichte am Hochaltar eine Folge in unserer Domserie zu diesem Wort? Hoffentlich.
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Ja oder Nein. Punkt.
Cornelia Götz, Dompredigerin - 25.09.2024
Im Matthäusevangelium heißt es: „Es sei aber eure Rede: Ja, ja; nein, nein; was aber mehr ist als dieses, ist aus dem Bösen.“ Dieses Wort bezieht sich zunächst auf das Schwören. Keiner soll das. Vielmehr ist von uns erwartet, dass wir, wenn wir etwas zu sagen haben, klar sind und das sagen, was wir meinen, richtig oder falsch finden.
Manchmal ist das schwerer als zunächst absehbar. Deshalb helfen wir uns in Situationen, in denen wir nicht wirklich einschätzen können, ob wir unser „ja“ durchhalten werden mit dem Zusatz „mit Gottes Hilfe“. Es sind „Ja‘s“, die wir vor Gottes Angesicht geben während wir wissen, dass er in unser Herz sieht. Es sind Ja‘s ohne Vorbehalt im Bewusstsein menschlicher Grenzen.
Manchmal sind wir gar nicht in der Lage klar „Ja“ oder „Nein“ zu sagen, weil wir es einfach nicht wissen, was jetzt werden muss. An den Grenzen des Lebens erfahren wir das. Dann sollten wir uns zurückhalten.
Jenseits solcher existentiellen Fragen aber gibt es aber genügend Momente, in denen es überhaupt gar keinen Zweifel geben kann, ob von uns ein „ja“ oder „nein“ in aller Klarheit kommen sollte. Wenn wir dann „ja,vielleicht“ oder „nein, aber“ sagen, haben wir vermutlich Gründe, die uns nicht zur Ehre gereichen oder Angst.
Dieser Tage sollten wir uns darauf besinnen, dass eigene Klarheit nicht nur von uns Christen erwartet ist, sondern dass sie andere genauso ermutigt, wie es mich tröstet, wenn ich mit meinem „Ja“ oder „Nein“ nicht allein bin.
Darum in aller Klarheit: wenn die AFD einen Stand vor dem Dom aufbaut, dann stehen sie nicht auf unserem Grund und Boden mit unserer Genehmigung oder Duldung - sondern dann ist es uns zutiefst unangenehm und ein Gräuel, dass der Dom und die AFD in einem gemeinsamen Blickwinkel erscheinen. Das, was Gott von uns will, wie wir leben sollen, wofür wir uns stark machen sollen, ist absolut unvereinbar mit dem, wofür die AFD steht. Nein. Da geht nichts mit uns.
Genauso klar ist die Lage, wenn auf das Schild am Dom geschrieben wird: „Moslems raus.“ Nein, es hat nichts mit der Religion zu tun, ob einer hier leben darf oder nicht. Und in aller Klarheit setze ich hinzu: Ja, die muslimische Familie, die im Domgemeindehaus lebt und mit uns arbeitet, ist uns willkommen. Wir werden unsere Hände über sie halten.
Ja. „Was aber mehr ist als dieses, ist aus dem Bösen.“
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I-Ismael
Cornelia Götz, Dompredigerin - 19.09.2024
I – Ismael
Ismael, „Gott hört“ oder „Gott erhört“ heißt sein Name übersetzt, ist Abrahams Erstgeborener. Nicht so, wie der sich das erhofft hatte, denn seine Frau Sara war unfruchtbar– sondern auf Wegen, die jedenfalls ich äußerst fragwürdig finde, für Missbrauch halte: Sara bietet ihrem Mann ihre Magd an. Er möge diese schwängern, damit die Magd oder eher Sklavin - Hagar, die Fremde heißt sie – für Sara ein Kind austrägt und zur Welt bringt.
Das ist nicht Gottes Wille oder sein Ratschluss.
Der Gedanke kommt einer Frau, die unfreiwillig kinderlos ist und erst recht: deren Umgebung sie auf ihre Kinderlosigkeit reduziert. Ein knochenhartes Thema; die Bibel ist da gerade mal fünfzehn Kapitel alt.
Es kommt wie Sara vorgeschlagen hat und entwickelt sich eine ungute Spirale, denn Hagar will kein Werkzeug sein, kein geliehener Bauch – sie streitet offenbar mit aller Härte dafür, wahrgenommen zu werden. Als der Konflikt eskaliert, muss die schwangere Hagar weg. Sie flieht Hagar in die Wüste und schlägt sich durch bis zu einer Wasserquelle, immerhin.
Aber wohin dann?
Gott schickt einen Engel, der Hagar Mut zuspricht und sie zurückschickt. Es geht in dem einen leben weiter – wir können daraus nicht aussteigen.
Darum wird sie das Kind Ismael in die Familie Abrahams hineingebären, zu der es gehören soll. Aber Ismael wird nie eine stabile Situation haben, er bleibt der Gefährdete, der Ausgestoßene. Er wird, so steht es in Genesis 16, „heimatlos, wie ein Wildesel sein, im Streit mit anderen und von seinen Brüdern getrennt leben.“
So kommt es, nachdem Sara wider alle Wahrscheinlichkeit im hohen Alter doch noch einen eigenen Sohn, Isaak, geboren hat. Denn dieser wird die Nachfolge Abrahams in der Geschichte der Väter antreten. Ismael und seine Mutter Hagar hingegen werden nach Isaaks Geburt ein zweites Mal verjagt. Gott lässt es zu und verspricht aber doch, auch Ismael zu einem großen Volk machen.
Immerhin: am Grab Abrahams werden beide Brüder stehen.
Später sind es Ismaeliten, die den von seinen Brüdern verstoßenen Josef mit nach Ägypten nehmen.
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Erforsche mich
Cornelia Götz, Dompredigerin - 18.09.2024
Merkwürdig, manche Bibelworte begegnen einem lange nicht und dann melden sie sich kraftvoll. So geht es mir gerade mit dem 139. Psalm.
In dem heißt es:
„Herr, du hast mich erforscht und kennst mich genau, ob ich sitze oder stehe, du weißt es, ob ich gehe oder ruhe, du merkst es…“
Für manche Menschen ist das eine ungemein tröstliche Vorstellung: Gott kennt mich und sieht mich, ich muss ihm nichts erklären, ihm nichts verständlich machen. Es hat gar keinen Sinn, etwas vor ihm verbergen zu wollen, er weiß es eh – und liebt und will mich trotzdem. Es ist enorm beruhigend, dass ich versuchen kann, die beste Version meiner selbst zu sein und er mich dabei freundlich ansieht. Dass ich geborgen bei ihm bin – auch wenn die schlechteren Varianten meiner selbst am Start sind.
Für andere ist solches Erforscht werden eine unheimliche Vorstellung. Sich gläsern und absolut durchschaubar zu fühlen, ist verwirrend und beschädigt meine Souveränität und Selbstbestimmung. Ich möchte selbst den Dosierer in der Hand haben, selbst entscheiden, was ich von mir zeigen will und was nicht. Das schließt nicht aus, mit Gott teilen zu wollen, was andere nicht wissen müssen – es fühlt sich aber anders an.
Und dann gibt es noch eine dritte Variante.
Der stellen wir uns eher ungern, aber sie gehört wohl dazu – wenn wir Frieden und
Versöhnung dienen wollen ohne dabei von oben herab oder sonst wie Verständnis ungeeignet zu agieren:
Es ist die Frage, nach unseren eigenen dunklen Punkten.
Den Stellen, die wir in uns vergraben haben, weil sie wehtun oder weil wir uns für sie
schämen, vor ihnen fürchten.
Auch die sind gemeint, wenn der Psalmist betet:
„Erforsche mich, Gott und erkenne mein Herz! Verstehe mich und begreife, was ich denke!“
Begreife du Gott, was ich denke und warum.
Verstehe du, was ich fühle und warum.
Erforsche du, was ich falsch mache und warum.
Und dann:
„Sieh doch, ob ich auf einem falschen Weg bin, und führe mich auf dem Weg, der Zukunfthat.“ Du kannst es wissen. Ich mach mir was vor.
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Recht auf Nichterreichbarkeit
Henning Böger, Pfarrer - 17.09.2024
In Australien räumt ein neues Gesetz Millionen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmer-innen ab sofort das Recht auf Nichterreichbarkeit in ihrer Freizeit ein. Sie können sich
nun grundsätzlich weigern, auf Kontaktversuche ihrer Arbeitgeber außerhalb der Arbeitszeit zu reagieren.
Die Regelung gilt zunächst für Unternehmen, die mehr als fünfzehn Angestellte haben. Die Gesetzesreform solle sicherstellen, so sagt der australische Premierminister,
dass Menschen, die nicht vierundzwanzig Stunden am Tag bezahlt werden, auch nicht vierundzwanzig Stunden am Tag arbeiten müssen. Dabei gehe es vor allem um die psychische Gesundheit der Arbeitenden.
Während sich die Arbeitgeberverbände zurückhaltend äußern, loben die Gewerkschaften das neue Gesetz als historisch, weil es arbeitende Menschen davor schütze, unzumutbare Anrufe und E-Mails von der Arbeit in ihrer Freizeit beantworten zu müssen.
Ich finde das Recht auf Nichterreichbarkeit aus drei Gründen spannend:
Erstens, weil es menschenfreundlich ist. Und zweitens, weil ich mich selbst oft dabei ertappe, wie schwer es mit fällt abzuschalten und nicht ständig erreichbar zu sein.
Und drittens, weil durch die Gesetzesbuchstaben etwas durchschimmert, das schon
am Anfang der Bibel als ein wesentliches Anliegen festgehalten ist.
Erinnern Sie sich, wie der entscheidende Satz am Ende des Schöpfungsberichtes im ersten Mosebuch lautet? „So vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte an diesem siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte.“
Sechs Tage hat Gott am Stück gearbeitet und am siebenten Tag hat er sich von der Arbeit ausgeruht. Gott hat es also vorgemacht: Zum Arbeiten gehört auch das Ausruhen und Abschalten, das Kraftschöpfen für das nächste Werk. Das Leben ist nicht vollständig, wenn es nur aus Arbeit besteht. Malochen und Muße gehören immer in eine gute, gesunde Balance.
Wer will, kann diesen Gedanken noch einmal anders hören in einem Wort aus den Tischreden des Reformators Martin Luther: „Man soll Gott nicht allein mit Arbeit dienen, sondern auch mit Feiern und Ruhen."
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Eichelhäher am Morgen
Cornelia Götz, Dompredigerin - 16.09.2024
Eichelhäher am Morgen
Da sitzt ein Eichelhäher auf der Terasse, genauer auf dem Geländer.
Ich habe schon lange keinen mehr so nah gesehen. Er dreht sich um und schaut mich an.
Ein schöner Vogel mit klugen Augen.
Er sieht mich eindringlich an, als wollte er mir etwas sagen, etwas zeigen.
Ich hätte ihn gar nicht gesehen, aber ich muss ja noch ein Wort zum Alltag schreiben und wollte mir das blaue Losungsheft aus der Küche holen. Für alle Fälle.
Eigentlich wollte ich Ihnen heute Abend ein Gedicht schenken; ein bisschen Vorgeschmack auf die politische Andacht morgen Abend: „Wo Du hingesät bist, sollst Du auch blühen“ und weil wir daran, wo wir gesät wurden, nichts ändern können, wollte ich mitten in all den schwierigen Nachrichten ein bisschen Septemberlicht leuchten lassen - Dünger sozusagen, Blühhilfe, Hoffnung.
Eva Strittmatter hatte ich schon in der Hand. Es gibt viele Septembergedichte bei ihr.
„September ist der Täuschungsmonat: / Dass alles noch einmal beginnt. / Verwirrung wie vor einem Frühling. / Und wir als ob wir ewig sind.“
Der Eichelhäher guckt. Zweifelt er?
„Wir gehen durch Silber und durch Bläue / Und fast verwandelt von der Luft, / Die lind ist wie die Luft der Ferne / und wie gewürzt vom Bitterduft. …
Die vollen und die tiefen Töne / Kommen von dem, was mit uns war / Doch im September glänzt das Schöne / Noch einmal uns auf Haut und Haar.“
Oder nicht? Der Eichelhäher mit seinen schönen Farben schaut. Kennen wir uns? Er bleibt und bleibt. Dass es so schöne Geschöpfe gibt.
Dann schaue ich derweile doch noch kurz in das Losungsheft.
Es liegt auf dem kleinen Küchenradio. Eben kamen die Nachrichten. Jahrhunderthochwasser in Polen, Tschechien, Österreich…
Und über diesem Montag heißt es bei dem Propheten Jesaja: „Gott hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden.“ Und dazu aus dem Matthäusevangelium: „Als Petrus die hohen Wellen sah, bekam er Angst, begann zu sinken und schrie…“
Der Eichelhäher ist weg.
Wollte er mich erden? Oder erinnern?
„Hoffnung und Sehnsucht zirpen zaghaft…“ dichtet Eva Strittmatter.
Hoffnung, dass wir uns noch erinnern, dass Gott uns seine Schöpfung anvertraut hat?
Hoffnung, dass noch Zeit ist, dass wir uns besinnen?
Sehnsucht, dass wir anfangen und etwas tun - mit unserer Kraft und unserem Geist, die Gott uns doch zu Hilfe geschenkt hat - hier wo wir hingesät sind - ehe alles verdorrt oder absäuft und gar kein Eichelhäher mehr kommt.
Der sitzt inzwischen bestimmt beim Nachbarn und schaut ihn dringlich an.
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