Michaelis
Michaelis
Cornelia Götz, Dompredigerin - 29.09.2023
Heute ist Michaelistag, für manche ist es sogar das Michaelisfest, der Tag des Erzengels Michael und aller Engel. Über diesen Tag heißt es aus dem 34. Psalm:
„Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten und hilft ihnen heraus.“
Engel sind eine große Schutzmacht. Für viele Menschen ist es ungeheuer tröstlicher Gedanke, dass Gott seinen Engeln befohlen hat, dass sie uns behüten auf all unseren Wegen, damit wir uns unsere Füße nicht an Steinen blutig schlagen. Und nicht nur das: wir können auch darauf vertrauen, dass Gottes Engel die Menschen, die uns wichtig sind, dort behüten, wo wir das nicht können – weit weg von hier oder hinter verschlossenen Türen, im Operationssaal, im Gefängnis.
Engel gehen durch Wände und Zeiten, sie erleuchten nicht nur den dunklen Himmel über Bethlehem.
Engel kommen an vielen Stellen der Bibel vor, sie haben die Fantasie der Menschen angeregt und so gibt es unzählige Darstellungen oft sehr lieblicher Natur. Dabei schildern die alten Texte, wenn man mal von der unerschrockenen Maria absieht, menschliche Reaktionen auf die himmlischen Erscheinungen in einer Weise, die auf Gewaltigeres schließen lassen als blondgelocktes Haar und weiße Gewänder.
Nicht selten fallen Männer in Ohnmacht oder werden schockstarr.
Kein Wunder. Denn die biblischen Engel (von griech: angelos – Bote) sind nicht von sich aus unterwegs, sie weisen vielmehr über sich hinaus und kommen im Auftrag dessen, der größer ist als alles, was wir uns vorstellen können. Nicht von ungefähr haben sie allermeist die Silbe „el“ im Namen – Raphael, Gabriel, Michael, Uriel. Sie führen den alten Gottesnamen mit sich. Mithin: ohne Gott kein Engel.
Michael, der diesem Tag heute seinen Namen gibt, wird im alttestamentlichen Danielbuch als »Erster unter den Engelfürsten« und als »Schutzengel Israels« bezeichnet (Daniel 10).
Wir fühlen uns ihm auf besondere Weise verbunden, denn er hat er alten Kathedrale in Coventry seinen Namen geliehen.
Das Nagelkreuz stammt aus der St. Michaels Ruine und ist wieder Erzengel zum Botschafter dessen geworden, der als Friedefürst zu uns kommt.
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Jedes Tierlein...
Cornelia Götz, Dompredigerin - 28.09.2023
Dieser Tag gehört für mich zu den schönsten im Laufe des Kirchenjahres hier am Braunschweiger Dom, denn die Landfrauen schmücken unseren Altar für das Erntedankfest. Natürlich wurde das auch in meiner Heimat am Erzgebirgsrand gefeiert – aber dort gab es die mutmaßlich immer bisschen staubige Erntekrone und überhaupt läuft die Gegend erst im Advent zur dekorativen Hochform auf.
Hier hingegen, wo Landwirtschaft und Bauerngärten präsent und lebendig sind, ist ein geschmückter Altar in der Erntezeit eine große Augenweide und die Landfrauen unserer Region wirklich Künstlerinnen darin, Blüten und Früchte, Gräser und Ähren zu arrangieren. So habe ich mich heute Morgen an einen Kinderkirchennachmittag auf dem Dorf – in meiner ersten Pfarrstelle -erinnert. Es kamen viele Kinder zusammen und wir haben über das bevorstehende Erntedankfest gesprochen und was man alles für einen schön geschmückten Altar – bzw. Taufstein – denn der stand sehr praktisch in der Mitte des Altarraumes - braucht.
Dann habe ich die Kinder losgeschickt, bei ihren Großeltern, Patentanten oder Nachbarn eine kleine Erntegabe zu erbitten und schnell wieder zu kommen, damit wir gemeinsam schmücken können. Es war wunderbar! Die Kinder liefen eifrig in alle Himmelsrichtungen davon – damals gab es auch tagsüber noch jede Menge Leben im Dorf – und kamen mit Eiern und Weintrauben, Sonnenblumen, Pflaumen, Kartoffeln, Äpfeln und Astern wieder. Ich sehe noch unserer kleine, damals vier- oder fünfjährige Tochter, die mit ihrem Freund zu seinem Großvater gelaufen war und die Erlaubnis einholte, eine Zuckerrübe vom Feld nehmen zu dürfen. Und dann kamen die beiden und schleppten die größte Rübe, die sie hatten ernten können, heran. Ihre Gesichter glänzten vor Freude - und Stolz auf den Opa, der ein Feld mit solchen Rüben hatte.
Es wurde ein herrlicher Erntealtar und nicht nur die Kinder staunten, wie viele verschiedene Früchte und Blumen in ihrem kleinen Dorf gewachsen waren. Und so klein sie waren, wussten sie auch, dass ihre Eltern, Geschwister und Großeltern dafür gearbeitet hatten. Sie kannten den Rhythmus des Jahres.
Dann haben wir gebetet: „Jedes Tierlein hat sein Essen, jedes Blümchen trinkt von Dir, hast auch unser nicht vergessen lieber Gott wir danken Dir.“
Mehr musste ich nicht erklären. Das haben alle verstanden.
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Frau- Leben- Freiheit
Cornelia Götz, Dompredigerin - 27.09.2023
Im Galaterbrief heißt es: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun aufrecht! Lasst euch nicht wieder unterjochen!“
Die Sehnsucht nach Freiheit ist ein ungeheuer starkes Motiv, um in uns Menschen Mut und Widerstandskraft zu entfalten. Sie hilft Gefängnis, Bedrohung und Folter zu überstehen, so wie es der Film „Sieben Winter in Teheran“ erzählt. Morgen Abend um 19.30 können sie ihn im Roten Saal sehen. Es ist die Geschichte von Reyhaneh Jabbaris, die 19-jährig einen Mann in Notwehr ersticht, um nicht vergewaltigt zu werden. Sie wird sofort verhaftet, isoliert und entsetzlich gequält. Ohne jeden Beistand lässt sie sich Geständnisse abringen, die zu ihrer Hinrichtung führen.
Reyhaneh ist nur eine von vielen Frauen im Iran, die für ihr Frausein bestraft werden und mit ihrem Leben bezahlen. Sie ist eine von zahllosen Frauen auf der ganzen Welt, die für ihre Rechte und Freiheit kämpfen.
Seit einigen Tagen hängt hier im Dom eine Ausstellung: „Frau / Leben / Freiheit“. Meine Kollegin aus Mannheim hat uns die Bilder geliehen, damit mehr Menschen sie sehen. Die Künstlerinnen sind iranische Mädchen und Frauen, die um ihrer Sicherheit willen namenlos bleiben müssen.
Meine Kollegin Ilka schreibt dazu:
„Freiheit ist es, worum die Frauen im Iran kämpfen / Frau Leben Freiheit
So heißt die Ausstellung, / die Sie an den Wänden hier sehen
Frauen und Mädchen / Haben diese Bilder gezeichnet und gemalt.
Schmerz und Wut / Sehnsucht und Hoffnung
Freiheitswillen und immer neuer Mut / sind es, was sie vorantreibt.
Wir stehen voller Bewunderung / Vor diesen Frauen
Wieviel Freiheit ist da in unserem Leben! / Wie selten denken wir darüber nach!“
Wie recht sie hat.
Nutzen wir unsere Freiheit, selbst zu denken und zu urteilen, solidarisch mit denen zu sein, die für ihre kleinen Freiheiten so unverschämt hohe Preise zahlen! Nutzen wir unsere Freiheit, denen Stimme und Raum zu schenken, die flüstern müssen, die weggeschlossen sind, die zum Verstummen gebracht werden sollen. Lasst uns nicht aufhören, darauf zu vertrauen, dass wir alle zur Freiheit befreit sind, dass Gott uns hört, wenn wir für unserer Schwestern bitten.
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Inventur!
Jakob Timmermann, Pfarrer - 25.09.2023
Auf dem Dachboden hat sich ganz schön was angesammelt. Da stehen Umzugskartons von längst vergangenen Umzügen. Dinge, die ich offensichtlich seit Jahren nicht mehr brauchte. Da stehen Möbel, die mal wichtig waren. Zu schade, um sie wegzuwerfen, aber zu hässlich um sie in die Wohnung zu stellen. Da stehen alte Geräte. DVD-Player – nicht mehr nötig. Videokassetten – nicht mehr nötig. Alte Drucker – nicht mehr nötig… Höchste Zeit mal auszumisten.
Da hat sich ganz schön was angesammelt in meinem Kopf. Erinnerungen an schöne Tage. Aber eben auch Erinnerungen an die Lebenskrisen. Die Erfahrungen, die ich lieber nicht gemacht hätte. Gefühle, die mir eigentlich zu groß waren. Da stehen ungelöste Probleme, die trotzdem fast in Vergessenheit geraten sind – aber eben nur fast! Da stehen Hoffnungen, die enttäuscht worden sind und Erwartungen an mich, die ich nicht erfüllt habe. Höchste Zeit mal auszumisten.
Brauche ich das alles noch? Brauche ich die Versagensangst noch? Auch die schwierigsten Aufgaben und die größten Herausforderungen haben sich doch irgendwie erledigt. Manchmal scheitere ich – das gehört doch dazu.
Brauche ich meine alten Träume noch? Ich wollte doch mal Fußballer werden oder Rockstar oder wenigstens Opernsänger. Das wird wohl nichts mehr.
Was ist mit dieser Sehnsucht nach dem Meer? Also, die Sehnsucht immer in der Nähe dieses wunderbaren Kraftortes zu wohnen. Mir geht es doch gut. Eigentlich fühle ich mich doch ganz wohl hier?
Und dann entdecke ich in meinen Gedanken die Zuversicht! Brauche ich die noch? Meine Lebenserfahrung zeigt, doch das die gar nichts bringt. Die Welt wird nicht friedlicher, im Gegenteil. Die Welt wird nicht gerechter, im Gegenteil. Die Welt wird nicht gerettet, sie wird wird verbrennen! Unsere Bemühungen werden nicht ausreichen!
Was mache ich also mit der Zuversicht?
„Werft eure Zuversicht nicht weg!“ schreibt der Verfasser des Hebräerbriefes. Wir sollen geduldig sein, weil unsere Zuversicht irgendwann reich belohnt werden wird.
Da hat sich ganz schön was angesammelt in meinem Kopf. Vieles kann ich getrost wegwerfen. Aber die Zuversicht behalte dich dann doch erst mal. Gott weiß, wozu sie gut ist.
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Hoffnung säen
Cornelia Götz, Dompredigerin - 21.09.2023
Auf unserer Terrasse blühen Sonnenblumen – sie haben Trockenheit und Sturm getrotzt und jetzt leuchten sie im herrlichsten Gelb.
Die Samen stammen aus der EKD-Aktion „Hoffnung säen“.
Im Frühjahr hatte sich dort ein Kollege überlegt, dass es den Menschen in der Ukraine und unserem Kurzzeitgedächtnis helfen könnte, blaue und gelbe Samentütchen unters Volk zu bringen. Die Idee dieser Spendenaktion war naheliegend: Samen werden bestellt und Spenden dafür gesammelt, beim Aussäen und später dem Verziehen, beim Gießen und Pflegen, zuletzt während der Freude über die Blütenpracht – immer würde es einen Haken in Herz und Verstand geben: Nicht gewöhnen! Noch immer ist Krieg in der Ukraine!
Die Resonanz war überwältigend und hat auch alte Hasen unter den Kampagnenprofis überrascht. Zweifler hatten vermutet, dass sich niemand mehr mit Samentütchen hinterm Ofen vorlocken lassen würde – die gibt es schließlich als Mitgebsel derzeit all überall.
Aber im Gegenteil: Samenpakete versperrten den Eingang des EKD-Hauptgebäudes und aus einer Schreibtube wurde eine hochaktive Poststelle.
Auch wir hier im Dom haben die blaugelben Tütchen unters Volk gebracht.
Ich weiß nicht, ob es irgendwo gelungen ist, dass Kornblumen und Sonnenblumen gleichzeitig blühten – bei uns sind die Kornblumen längst durch. Dafür recken sich nun die Sonnenblumen in blauen Himmel. Das passt farblich auch.
Vor allem aber denke ich, wo immer in unserer Stadt neben Straßenbäumen, in Rabatten oder in Balkonkästen Sonnenblumen blühen, ob wohl jemand dort ein Tütchen mit der Hoffnungsbotschaft geleert hat?
Denn um diese Geschichte geht es!
Lasst uns nicht aufhören, Hoffnung zu säen und daran zu glauben, dass Frieden möglich ist.
Lassen wir uns nicht einreden, dass Gleichgültigkeit regiert und Menschen nicht erreichbar seien.
Lasst uns nicht aufhören zu staunen, dass aus kleinen Samenkörnern, die oft nicht wirklich professionell gesät und deren kleine Sämlinge sich manchmal völlig unbeachtet durchgeschlagen haben, unübersehbar große und schöne Blumen geworden sind, dass so viel mehr möglich ist als wir denken.
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Hoffnungskörner
Jakob Timmermann, Pfarrer - 18.09.2023
Ein Bauer ging aufs Feld um zu säen. Ein Teil der Körner fiel auf den Weg und wurde von Vögeln gefressen. Ein Teil davon fiel auf felsigen Boden und verbrannte dort. Ein weiterer Teil fiel unter Disteln und wurde erstickt. Aber ein Teil der Körner fiel eben auch auf fruchtbaren Boden.
Dieses Gleichnis von Jesus habe ich am letzten Wochenende unseren Konfirmandinnen und Konfirmanden bei ihrer Konfirmation erzählt. Denn so kommt mir die Arbeit mit diesen jungen Menschen manchmal vor. Als würde ich Körner werfen. Als würde ich mit Gedanken werfen. Mit Ideen. Mit Hoffnungen. Vielleicht auch mit Sichtweisen und neuen Perspektiven.
Das allermeiste fällt auf steinigen Boden. Die Welt der Konfis ist weit entfernt von Vaterunser und Glaubensbekenntnis. Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, heißt es ja so schön in der Bibel.
Manches fällt auf den Weg und hat gar nicht die Zeit zu wachsen. Weil plötzlich etwas anders viel wichtiger ist.
Manches fällt unter die Dornen, weil das Misstrauen der Konfis gegen alles, was mit Gott und Jesus zu tun hat, so groß ist.
Aber deshalb aufhören? Deshalb keine Gedanken mehr werfen? Deshalb aufhören von der Hoffnung zu sprechen, die in mir ist?
Nein. Denn aus eigener Erfahrung kann ich sagen, manches fällt eben doch auf fruchtbaren Boden. Das merkt man aber oft erst viele Jahre später. Rückblickend. Dann treiben sie langsam aus, die Gedanken und Hoffnungen im fruchtbaren Boden.
Ich selbst habe meinen Konfirmationsspruch ausgesucht, weil es der einzige auf einer langen Liste war, in dem weder Gott, noch Jesus, noch Heiliger Geist drin vorkamen. So unwohl habe ich mich mit Gott gefühlt und mit Kirche…
Rückblickend ist aber offensichtlich doch etwas auf fruchtbaren Boden gefallen. Denn nichts beschreibt mein Wesen und meine Arbeit so gut, wie mein Konfirmationsspruch:
"Seid immer bereit, heißt er nämlich, seid immer bereit Rede und Antwort zu stehen, wenn jemand nach der Hoffnung fragt, die in euch ist."
Das versuche ich - jeden Tag neu. Mit Hoffnungskörnern um mich zu schmeißen. Und hier ist ein Hoffnungskorn für Sie: "Fürchte dich nicht. Auch du bist ein Kind Gottes!"
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Eltern haften
Cornelia Götz, Dompredigerin - 16.09.2023
Auf dem Schlossplatz steht die große Tafel mit den „Alltagsmenschen“ von Christel und Laura Lechners. Ich mag die Betonfiguren gern. Sie machen gute Laune und keine Komplexe – auch wenn ich finde, dass korpulente ältere Semester ein bisschen überrepräsentiert sind.
Am Schloss gefällt mir, dass Passanten ausdrücklich aufgefordert werden, sich dazuzusetzen und die Tischgesellschaft zu verlebendigen. Erst heute habe ich das Schild gesehen: „Eltern haften für ihre Kinder.“
Das gehörte zu den ersten Sätzen, die ich lesen konnte und ich erinnere mich, dass mich dieser Satz, den ich in meiner Kindheit oft angetroffen habe, beunruhigte.
Eltern haften. Sie müssen ausbaden, was ich anstelle. Das kam mir nicht fair vor und das Wort „haften“ legte die Sorge nahe, dass sie womöglich ins Gefängnis kommen, wenn ich…
Heute denke ich, dass mich diese Schilder vermutlich mehr beschwert haben als meine Eltern. Sie sorgten sich nicht so sehr darum, ob ich über ein Rohr balancierte oder wo wir Kinder Verstecken spielten.
Sie sorgten sich, wie wir heil an Leib und Seele bleiben, glückliche und zufriedene Mensch werden können ohne allzu sehr verbogen und von ihren Entscheidungen auf Wege gedrängt zu werden, die nicht die unseren sind.
Manchmal werden sie das als Bürde empfunden haben.
Vermutlich liegen sie noch heute manchmal wach…
Wann hört es auf, dass Eltern für ihre Kinder haften?
Wenn Letztere volljährig sind oder wenn sie erben, was wir hinterlassen haben? Unsere Träume und Scheitern, unsere Versuche, uns in dieser Welt einzurichten und unserer Müllberge?
Da haben es die „Alltagsmenschen“ gut. Sie liegen in der Sonne, tragen mitten in der Stadt Badehosen, manche schwingen den Besen, andere reden miteinander, viele gucken in die Luft und wir alle haften dafür, dass sie nicht zerstört und beschädigt werden.
Klingt wie eine Trockenübung „Verantwortungsgemeinschaft.“
Aber was wäre der Ernstfall?
Im Ernst können wir unsere Kinder zur Taufe bringen, weil wir das Beste für sie suchen. Im Ernst können wir hier Brot und Wein teilen und dabei spüren, dass wir eine Weggemeinschaft sind. Im Ernst hoffe ich, dass Jesus Christus für uns gehaftet hat und dass andere Worte unter uns groß werden können als Warnungen voreinander und Schuldverschiebungen.
Denn – so stand es gestern im Johannesevangelium: „Jesus Christus spricht: Ich bin nicht gekommen, dass ich die Welt richte, sondern dass ich die Welt rette.“
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Ach mein Gott, wie wunderbar
Cornelia Götz, Dompredigerin - 15.09.2023
„Himmel, Erde, Luft und Meer / zeugen von des Schöpfers Ehr. / Meine Seele singe Du / bring auch jetzt dein Lob herzu.“ So heißt es in einem alten Liedtext von Joachim Neander aus dem Jahr 1680.
Bring auch Du dein Lob hierzu. Leg dein Staunen auf den großen Haufen dessen, was es in unserer schönen Welt zu bewundern gibt.
Das will ich tun: Denn eine der großen Freuden unseres Sommerurlaubes war die Beobachtung von Seeottern.
Wir mussten uns erst belesen, um zu wissen, dass diese Tiere nicht nur unglaublich possierlich sondern auch verblüffend klug sind. Sie benutzen Werkzeuge und tun das auch dann, wenn sie es sich nicht von einem Muttertier - wie bei den Delphinen - abgucken konnten. Beispielsweise legen sie sich Muscheln auf die Brust und zerschlagen sie mit Steinen, um an das Fleisch zu kommen. Als vergleichsweise langsame Schwimmer gelingt es ihnen nicht, Fiche zu jagen. Sie müssen also mit anderem Getier - wie eben Muscheln oder Krabben - vorlieb nehmen. Dabei sind sie effektiv. Wenn sie mehr Krabben haben als sie gerade fressen können, bevorraten sie sich und binden die Beute mit Seetang fest. So machen sie es auch dann und wann mit ihren Jungen um sich die Mühsal des Hütens zu erleichtern.
Wobei sie Letzteres meisterlich beherrschen. Seeotter erlebt man nämlich gern und oft auf dem Rücken treibend, die Füße rechtwinklig aus dem Wasser ragend. Wenn es das Wort „chillig“ nicht schon gäbe, müsste man es erfinden. Männchen bewachen in dieser lässigen Haltung in weitem Abstand vom Rest der Familie das Revier. Weibchen dümpeln genauso durchs Wasser, haben aber auf ihren Bäuchen ihre Jungen liegen. Das ist ein großartiges und anrührendes Bild. Was auch immer an Mächten und Gewalten drumherum sein mag; die kleinen Seeotter liegen behaglich und geborgen auf dem mütterlichen Bauch und treiben unter dem großen Himmel in Gesellschaft anderer Mütter und kleiner Seeotter.
Wer weiß, was der Liederdichter in seiner Heimatstadt Bremen beobachtet haben mag als er sein Lied schrieb und schloß: „Ach mein Gott, wie wunderbar / stellst Du Dich der Seele dar! / Drücke stets in meinen Sinn, / was Du bist und was ich bin.“
Das Naturschauspiel im Kopf drückt in meinen Sinn, dass ich trotz allem was oft so anstrengend und manchmal widerwärtig meinen Weg kreuzt, sicher getragen bin - inmitten der wunderbaren Schöpfung.
Download als PDF-Datei ...damit das Leben weitergeht!
...damit das Leben weitergeht!
Christian Kohn, Pfarrer - 14.09.2023
Eine indianische Weisheit lautet:
„Gehe hundert Schritte in den Schuhen eines anderen,
wenn du ihn verstehen willst.“
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Diese 39 Schuhpaare vor unseren Augen symbolisieren 39 Menschen, die im vergangenen Jahr entschieden haben, aus dem Leben zu gehen. Und so unterschiedlich wie diese Schuhe sind, so waren es auch die Menschen, die sie getragen haben: Männer und Frauen jeden Alters und aus allen Schichten unserer Gesellschaft. Ebenso mögen die jeweiligen Motive für ihren Entschluss unterschiedlich gewesen sein. Doch was sie bei allen Unterschieden in diesem Bild vereint, ist ihr gemeinsamer letzter Schritt: Der Suizid! Sie wollten ihren Lebensweg nicht weitergehen, weil er möglicherweise zu steinig, zu schmerzlich oder ihnen vielleicht der Sinn ihres Weges gänzlich abhandengekommen war. Ein anderer Ausweg aus ihrer Lage war offensichtlich nicht in Sicht. Aus der Feststellung, dass es so nicht weitergeht, wurde der Beschluss: Ich werde meinem Lebensweg ein Ende setzen. Zurück bleiben neben ihren leeren Schuhen zumeist Ratlosigkeit, eine große Trauer und eine schmerzliche innere Leere bei denen, die diesen Menschen nahestanden.
Mit diesem Bild will der Braunschweiger Arbeitskreis für Suizidprävention nicht nur auf die Zahl der jährlichen Suizide in Braunschweig aufmerksam machen. Ebenso wollen wir deutlich machen, dass uns keine Bewertung oder gar ein Urteil über diese Entscheidung zusteht, da die allermeisten von uns eben nicht hundert Schritte in den Schuhen dieser Menschen gegangen sind.
Doch unser wichtigstes Anliegen, das Thema Suizid jährlich in die Öffentlichkeit und in die Mitte der Stadt zu tragen, ist und bleibt die Prävention: Das erforderliche Vorbeugen, die hilfreiche Fürsorge füreinander. Es geht, um im Bild der Schuhe zu bleiben, um einen anderen, einen wieder ins Leben führenden Umgang mit den unvermeidlichen Krisen unseres Lebens.
Wir wollen Menschen auf die zahlreichen Angebote aufmerksam machen, die ihnen in unserer Stadt zur Verfügung stehen, wenn sie von einer Krise betroffen sind. Orte und Menschen, die ihnen beratend, seelsorgerlich und begleitend zur Seite stehen. Denn es könnte ja möglich sein, dass Menschen im Gespräch mit anderen Menschen neue Wege erblicken, die sie allein in ihrem Kummer nicht zu erblicken vermögen. Wir sollten daher achtgeben auf uns! Und uns und andere öfters fragen: Wie geht es Dir in „Deinen Schuhen“? Und wenn wir feststellen, dass es weder mir noch einem anderen gut geht, dann sollten wir dahin gehen, wo wir das finden, was wir brauchen und was uns hilft! Auch genau darauf können und sollen uns diese Schuhe hinweisen!
Du stellst meine Füße auf weiten Raum. (Ps. 31.9b)
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Abendfriede
Cornelia Götz, Dompredigerin - 13.09.2023
„Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle / so traulich und so hold / als eine dunkle Kammer, / wo Ihr des Tages Jammer / verschlafen und vergessen sollt.“
So klingt es in dem berühmten Abendlied von Matthias Claudius.
So erlebe ich es manchmal.
Im Urlaub saßen wir ganz ruhig am Seeufer, bestaunten die Blautöne, horchten in die Stille. Zuhause gibt es dann und wann auch mitten in der Stadt einen überwältigenden Sternenhimmel, der mich auf eine sehr freundliche Weise klein und unbedeutend werden lässt.
Gestern Abend mit dem Bord auf der Oker – es waren kaum noch Menschen unterwegs und aus manchen Fenstern strahlte behagliches Licht – überfiel es mich, wie wenig selbstverständlich solcher abendlicher Friede ist.
„Abend wird es wieder / über Wald und Feld / säuselt Frieden nieder / und es ruht die Welt.“
Das war das erste Lied, das ich in der Kurrende gelernt habe.
Ich liebe diese Lieder sehr obwohl ich weiß,
dass keineswegs überall Frieden niedersäuselt,
dass in manchen Familien nichts gefährlicher ist als die Nacht,
dass anderswo Menschen bang in die Nacht horchen, um sich notfalls schnell in Sicherheit zu bringen…
dass viel zu viele weit davon entfernt sind, die Sorgen des Tages ruhig zu verschlafen. Ich auch manchmal.
Und trotzdem: immer wieder erlebe ich eben auch den Abend als dunkle friedliche Kammer.
Vielleicht wäre das der Moment, mit mir selbst hart ins Gericht zu gehen?
Vielleicht sollte ich erschrecken, wieviel Leid und Schmerz ich offenbar ausblenden kann.
Vielleicht sollte ich wieder mehr Nachrichtensendungen sehen?
Vielleicht.
Aber womöglich sollte ich zuerst aus tiefstem Herzen dankbar sein für die vielen behüteten Abende, die ich erleben darf, denn Abendfriede ist womöglich doch keine meisterliche Verdrängungsleistung sondern ein Geschenk Gottes, das Leben hilft und uns Kraft schenkt, tagsüber in den Blick zu nehmen, wo es Not gibt, nicht aufzugeben, für Frieden und Versöhnung zu streiten und zu beten.
Download als PDF-Datei Nicht wegwerfen!
Nicht wegwerfen!
Werner Busch, Pfarrer - 12.09.2023
Der Lehrtext für heute ist alles andere als eine Belehrung.
In den täglichen Losungen wird dem zufällig gelosten Bibelvers aus der hebräischen Bibel, unserem Ersten oder alten Alten Testament ein neutestamentlicher Begleiter zur Seite gestellt, „Lehrtext“ genannt. Ober oberlehrerhaft ist da heute gar nichts.
„Werft euer Vertrauen nicht weg, das eine große Belohnung hat.“
Beschwörend, bittend, mit eine Brise Verzweiflung und Flehen in der Stimme, werden wir direkt angesprochen. Grammatikalisch ein Appell, ein Imperativ, so wie auch Befehle und Anweisungen uns immer im Imperativ, dem erhobenen Zeigefinger der Grammatik, zugerufen werden.
Das hier ist etwas anderes.
Da hat jemand Menschen vor sich, die dabei sind, einzuknicken. Sie sind kurz davor aufzugeben und alle Mut fahren zu lassen. Bringt doch nichts! Alles für die Katz, du kannst dich mühen wie ein Stier.
Nein, mein Freund. Meine Freundin.
Wirf dein Vertrauen nicht weg.
Wer so redet, war schon selbst an diesem Punkt, vielleicht mehr als einmal.
Alles hinwerfen, weil du die Schnauze voll hast.
In der Ehe. Im Beruf
Niemand gibt gerne zu, dass er aufgeben möchte.
Es geht etwas kaputt im Herzen, im Denken, ein Knacks in der Seele, wenn du hinwirfst.
Davor will dieser freundschaftliche Rat uns abhalten, bewahren.
„Werft euer Vertrauen nicht weg, das eine große Belohnung hat.“
Manchmal lohnt der Blick ins Wörterbuch.
Hier zum Beispiel.
Dieser Zuruf aus dem Hebräerbrief, Kapitel 10, verwendet ein bestimmtes Wort.
Parräsia. Die Rhetorik-Kenner unter uns wissen, worum es geht.
Freimut. Aufgeschlossenheit. Tapferes Auftreten vor anderen.
Aufrichtige Rede, vor allem in der Öffentlichkeit, wo man eigentlich mit Taktieren und Berechnender Wortwahl viel besser fährt und sich manches erspart.
Ja, da ist auch Zutrauen drin, Zutrauen in die Wahrheit, Hoffnung auf Gehörtwerden, Angehörtwerden.
Aber Freimut gibt es auch da, wo die Atmosphäre voller Misstrauen ist.
Freimut bewährt sich im Widerspruch. Freimut geht ein Risiko ein.
Im freimütigen Sinn pulsiert eine Freude, die aus der Sache kommt und keinen Applaus braucht.
Freimut ist Freiheit im Geist.
Werft das nicht weg, dass Gott euch mit Würde begabt und den Willen zur Freiheit in euch gepflanzt hat.
Ein Blick in die Losung. Sie zeigt, woher dieser innere Kraft und Lebendigkeit kommen kann.
Ich habe euch auf Adlerflügeln getragen und zu mir gebracht. (2. Mose 19).
Ich habe euch getragen, wo ihr nicht weiter wusstet.
Ich habe euch vorangebracht, wo ihr nicht mehr konntet.
Ich bin bei euch.
Werft eure Freimut nicht weg
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9/11
Cornelia Götz, Dompredigerin - 11.09.2023
Es gibt historische Momente im Laufe eines Lebens, bei denen man später noch weiß, wo man war als geschah. Erstaunlicherweise ist das sogar manchmal so, wenn man in dem Moment, in dem es passiert, noch nicht versteht, dass man gerade Zeugin wird von etwas, das die Welt – oder doch zumindest meine Welt – verändern wird.
So ist es für mich mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gewesen und auch mit dem Mauerfall, der Wiedervereinigung Deutschlands.
Und mit dem 11. September 2001.
Wir waren vom Schwimmen gekommen. Die Kinder saßen mit nassen Haaren hinten im Auto. Wir bogen auf die Dorfstraße in Ölper ab, konnten aber nicht bis zu unserem Stellplatz fahren, weil sich mitten auf der Straße eine Menschentraube befand. Es war offensichtlich etwas passiert.
Ich hatte es noch nicht gehört…
Später dann die Bilder im Fernsehen, wieder und wieder und wieder. Und die Ahnung, dass dieser Anschlag im Herzen Amerikas Folgen haben würde.
Sprache veränderte sich und zog neue Grenzen: „Die Achse des Bösen“, ,„Islamismus“, „Schläfer und Gefährder“ fanden ihren Weg in die Medien, Osama bin Laden wurde das Gesicht der Anschläge.
Die Nato erklärte den kollektiven Verteidigungsfall.
Es gab in direktem Zusammenhang Krieg in Afghanistan und dem Irak, Terroranschläge in Riad, Istanbul, Casablanca, London…
Seither ist eine neue Generation herangewachsen, sind neue Feinbilder gezeichnet und Ängste geschürt worden.
Seitdem haben wir Weihnachten gefeiert und Ostern, Kinder getauft und Brautpaare gesegnet, unzählige Male das Vaterunser gebetet, hat sich die Erde um ihre Achse und die Sonne gedreht – als würde alles immer so weitergehen.
Vielleicht ist das wirklich so.
Es wäre schlimm, wenn das zu Gleichmut führte.
Vielleicht ist es das ja vielmehr eine Chance, in jedem neuen Tag, den Gott schenkt, eine Möglichkeit zu sehen, doch noch Schritte in eine andere Richtung zu gehen, alte Wege zu verlassen und Neues zu wagen, dankbar zu sein, dass uns nicht angerechnet wird, wo wir nur unsere eigene kleinen Kreise sehen – den Frieden zu suchen und ihm nachzujagen.
Download als PDF-Datei Gott loben. Trotzdem.
Gott loben. Trotzdem.
Cornelia Götz, Dompredigerin - 09.09.2023
Gleich komme ich Ihnen mit Dorothee Sölle und vielleicht denken Sie dann: Schon wieder?!
Ja, schon wieder – ich glaube, von dieser streitbaren und frommen Theologin können wir unendlich viel zehren – gerade in unserer schwierigen Zeit. Oder anders: vielleicht hilft ihr unbestechlicher Blick sehen zu lernen, dass unsere Zeit nicht schwieriger ist als andere und dass es Wege gibt, sich nicht in der Krisenanalyse zu verlieren.
Das sage ich nicht einfach so dahin.
Gerade Dorothee Sölle war ja eine unglaublich wache, solidarische und zornige Zeitzeugin. Manchmal viel es ihr offenbar schwer davon abzusehen, wie ungerecht und brutal sich unsere Welt ihr darstellte. Fulbert Steffensky. ihr Witwer, erzählt, dass er ihr einmal folgende „Warnung an eine Prophetin“ geschrieben habe:
„Prophetin, sein genau in der Beschreibung des Unglücks! Ergötze dich nicht am Panorama des Untergangs!
Prophetin, halte dich selber für irrtumsfähig und deine Geschwister für wahrheitsfähig!
Prophetin, sage deine Wahrheit so, dass sie Kritik und Trost in einem ist!
Halte dich an den Satz von Helder Camara: Herr, lehre ich ein nein zu sagen, das nach Ja schmeckt.“
Letzteres ist wahrscheinlich wirklich eine große Kunst. Ein Nein, das ermutigt!
Denn:
Was nützt ein Nein, das sich nicht verständlich machen kann, sondern abstößt, das keine Mitstreiter*innen findet, sondern einsam macht?
Was nützt ein Nein, das bitter macht, weil es sich nicht ernstgenommen fühlt?
Oder andersherum: Wie kann man bei der Wahrheit bleiben, beim Namen nennen, was so nicht bleiben kann und trotzdem das Leben lieben?
Dorothee Sölle wollte es sich nicht leicht machen.
Sie fürchtete „unerlaubte Versöhnungen“.
Sie fürchtete, die „Sanftmut, die der Empörung nicht fähig ist.“
Sie fürchtete, dass wir im Kyrie hängenbleiben.
Darum redete sie vom Glück und der grundlosen Schönheit, von der Natur und der Musik und konnte trotz der himmelschreienden zustände auf unserer Welt sagen: „Die Freude an Gott ist vielleicht das Allerwichtigste.“
Oder: „Ich finde, man muss Gott loben. … Ohne zu loben atmen wir nicht richtig.“
Download als PDF-Datei #ausLiebe
#ausLiebe
Cornelia Götz, Dompredigerin - 07.09.2023
Wir sind in der Woche der Diakonie – am letzten Sonntag auch hier im Dom eröffnet, gibt es nun ein deutschlandweites Vorzeichen für Gottesdienste, Andachten und Begegnungsformate – so möge dieser Uraspekt christlichen Lebens wenigstens sieben Tage lang im Bewusstsein bleiben..
Aber ich merke: es fällt mir schwer die institutionalisierte Diakonie auf den Alltag hier mitten in der Stadt runterzubrechen. Es kommt mir so vor als würde ich aus der Vogelperspektive auf die Tafel und die Obdachlosen schauen, die Kinder und deren Chancen, Eltern ohne stabile Einkommen, die Alten…
Dabei ist es nicht so, dass wir hier nicht immer wieder eine konkrete Ahnung bekommen: Tage, an denen es so heiß ist wie jetzt und ich die Dusche und viele frische Wäsche genieße, erinnern mich an Gespräche mit wohnungslosen Frauen, die nicht wussten, wie sie ihre Monatshygiene menschenwürdig handhaben können, erst recht nicht im Sommer.
Darum bin ich dankbar, dass es das Iglu gibt, dass wir hier immer wieder offene Ohren finden und Kollekten und Spenden für Menschen ohne zuhause einsammeln können – aber wird das einer Kernaufgabe gerecht? Ganz am Anfang der Geschichte des Christentums, sind das Bekenntnis des Wortes Gottes und das Hören darauf, die Feier der Sakaramente und die tätige Nächstenliebe sehr nah beieinander gewesen.
Jesus Christus hatte sich immer auf die Seite derer geschlagen, die nach den Erfolgskriterien nicht nur seiner Zeit, Verlierer waren, denen es schlecht ging, die nicht ausreichend für sich selbst sorgen konnten. Er hatte die Fülle erlebbar gemacht, die mit dem Teilen kommt, hatte die Nähe derer geteilt, die ausgegrenzt werden und nicht zu den sogenannten Leistungsträgern zählen - egal wie eisern und tapfer sie sich durchschlagen.
Er hatte die Seinen in seine Nachfolge gerufen und ihnen mit Blick auf die schwachen Nachahmung ans Herz gelegt.
Aber das christliche Abendland ist reich geworden, mit allem muss Geld verdient werden, sogar mit Kranken und Schwachen. So wurde die Diakonie outgesourct, professionalisiert. Bei den Gemeinden blieb zwischen Gottesdienst, Konfirmandenunterricht und Seelsorge die Diakoniekasse.
#AusLiebe. Woche der Diakonie.
# aus Liebe - die kann man nicht professionalisieren. Die ist dort, wo eine ihr Herz hat.
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#ausLiebe
Henning Böger, Pfarrer - 05.09.2023
Es ist das Jahr 1832. Die Industrialisierung hat die deutschen Staaten fest im Griff. Sie treibt die Menschen in Scharen vom Land in die Städte und dort in große Armut. Kinderarbeit ist keine Seltenheit. Viele treiben sich auf den Straßen herum und haben kein Zuhause.
In Hamburg verschlägt es den jungen Pfarrer Johann Hinrich Wichern in den Stadtteil St. Georg. Das Elend dort erschüttert ihn. Er selbst kommt aus einem christlich-bürgerlichen Elternhaus. Weil sein Vater früh gestorben ist, weiß Johann Hinrich, wie schnell Menschen unverschuldet in soziale Not geraten können. Und er erkennt, wie eng Armut und Verrohung zusammenhängen. Dass Menschen, die Hunger leiden, sich einfach nehmen, was sie brauchen, das leuchtet ihm sofort ein. Und es treibt ihn um: Irgendjemand auf dieser Welt muss doch dafür sorgen, dass diese Not ein Ende hat.
Aus zwei Grundsätzen heraus schreitet Wichern selbst zur Tat. Der erste lautet: Der Glaube kann nicht ohne Taten bleiben. Und der zweite: Für jeden Menschen gibt es Hoffnung. So gründet er das Rauhe Haus. 120 Hamburger Jungen und Mädchen sollen hier ein Zuhause finden, Erziehung und Ausbildung erhalten. Jeden seiner Zöglinge begrüßt Wichern mit folgenden Worten: „Sieh um dich her, in was für einem Haus du aufgenommen bist. Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel, nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier, diese Kette heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld. Das bieten wir dir, und was wir fordern, ist zugleich das, wozu wir dir verhelfen wollen, nämlich dass du deinen Sinn änderst und fortan dankbare Liebe übest gegen Gott und den Menschen.“
Zugegeben: Die Sprache Wicherns stammt aus einem anderen Jahrhundert, aber der Grund, aus dem er steht, trägt auch heute noch unsere Kirche und ihre Diakonie:
Weil Gott Liebe ist, wird dieser Gott überall dort erfahrbar, wo wir Menschen uns einander in Liebe zuwenden. Gottes Liebe sucht Menschen, die sich selbst zurücknehmen, um auf andere zu achten; Menschen, die ein Gefühl dafür haben, was anderen fehlt, und die aus Liebe alles daransetzen, dass die Not anderer kleiner wird.
Noch einmal Johann Hinrich Wichern: „Die Liebe gehört mir wie der Glaube!“
Ja! Und von beiden gilt: sie werden nicht weniger, wenn man sie mit anderen teilt.
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#ausLiebe
Heiko Frubrich, Prädikant - 04.09.2023
Unter dem Motto „#ausLiebe“ wurde gestern hier bei uns im Dom die Woche der Diakonie mit einem festlichen Gottesdienst eröffnet. Seit 175 besteht die Diakonie in Deutschland. Der Pfarrer Johann Hinrich Wichern hat 1848 auf dem Kirchentag in Wittenberg die Kirche in einer flammenden Rede dazu ermahnt, nicht nur gegen das Elend und die Armut der Menschen in Deutschland zu predigen, sondern auch ganz aktiv etwas dagegen zu tun. Daraufhin begannen engagierte Frauen und Männer in ganz Deutschland soziale Einrichtungen zu gründen, sich zu vernetzen und so auch auf der politischen Bühne sichtbar und hörbar zu werden.
Das Wort Diakon bedeutet Diener. „Wer unter euch groß sein will, der soll euer Diener sein“, sagt Jesus Christus zu seinen Jüngern und damit auch zu uns. Da war es schon wieder, dieses „Sollen“. Was sollen wir denn noch alles – Energie sparen, Steuern zahlen, auf gesunde Ernährung achten und nun auch noch dienen? Wo soll man denn zu alledem immer die Kraft und die Motivation hernehmen, könnte man berechtigterweise fragen.
Nun, was das Dienen angeht, ist diese Frage leicht zu beantworten. Die Motivation ist schlicht und ergreifend die Liebe, so, wie es das Motto der Woche der Diakonie eben auch ausdrückt. Die Liebe ist die Triebfeder für diakonisches Handeln. Und das bezieht sich bei weitem nicht nur auf die vielfältigen Dienste, die das Diakonische Werk anbietet. Diakonisches Handeln passiert auch im Kleinen, in jedem Moment, in dem sich ein Mensch dem anderen zuwendet, ihm hilft, ihn unterstützt oder ihm einfach nur freundlich begegnet. So gesehen sind wir alle immer wieder als Diakoninnen und Diakone tätig, wenn wir wollen, jeden Tag aufs Neue.
Und indem wir das tun, geben wir die Liebe Gottes, die er uns schenkt, an andere weiter. Wir lassen sie aufleuchten unter uns und in dieser Welt und machen sie so ein wenig heller. Wer liebt, der kennt Gott – so heißt es im ersten Johannesbrief. Und so kann ein den Mitmenschen zugewandtes Leben tatsächlich zu einer echten Gotteserfahrung werden. Denn es wird Momente geben, in denen Gottes Liebe zu uns zurückkommt – aus dem Herzen eines anderen Menschen, aus einer Umarmung, aus einem ehrlichen Danke.
Wir haben es tatsächlich selbst in der Hand, unser eigenes und das Leben unserer Mitmenschen so zu bereichern. Und wir können es tun #ausLiebe. Amen.
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Der Preis für das Recht
Henning Böger, Pfarrer - 02.09.2023
Vor acht Wochen, Anfang Juni, wurde er 47 Jahre alt: der russische Häftling und Gegner von Präsident Putin, Alexej Nawalny. Als man an ihm vor drei Jahren einen Giftanschlag verübte, überlebte er nur dank der Ärzte in der Berliner Charité. Er hätte anschließend nicht nach Russland zurückkehren müssen. Er tat es trotzdem - wohl wissend, dass er dort verhaftet und verurteilt werden würde. Seitdem sitzt Alexej Nawalny als politischer Gefangener in einem russischen Arbeitslager. Viele Menschen haben sich damals gefragt, warum Nawalny freiwillig nach Russland zurückgekehrt ist.
Er selbst sagt, er habe sich diese Frage auch gestellt - damals und heute. Darum ließ Alexej Nawalny rund um seinen Geburtstag folgende Antwort durch seine Anwälte veröffentlichen „Natürlich wünschte ich, ich müsste nicht in diesem Höllenloch aufwachen und könnte stattdessen mit meiner Familie frühstücken, von meinen Kindern Küsschen auf die Wange bekommen, Geschenke auspacken und sagen: ‚Genau davon habe ich geträumt!‘ Aber das Leben funktioniert so, dass gesellschaftlicher Fortschritt und eine bessere Zukunft nur erreicht werden können, wenn eine bestimmte Anzahl von Menschen bereit ist, den Preis für ihr Recht auf Glauben zu zahlen. Je mehr solche Leute es gibt, desto weniger muss jeder bezahlen.“
Mich haben diese Worte sehr beeindruckt, vor allem aber der unbedingte Mut dahinter, für seinen Glauben an Recht und Gerechtigkeit politische Verfolgung zu erdulden und bis ins Gefängnis zu gehen. Ich muss dabei an einen Satz denken, den Jesus in der Bergpredigt sagt: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich." Auch das sind Worte wider allen Augenschein. Denn sie verbinden die mühsamen und leidvollen Erfahrungen von Menschen mit einer vollkommen anderen Hoffnungsperspektive: Alle, die zu sich und ihrem Weg stehen, die ihr Gewissen nicht preisgeben, sollen sich von Gott gehalten und begleitet wissen, sagt Jesus. Es gibt bei Gott eine andere, tiefere Art von Gerechtigkeit. Sie wird denen zu teil werden, die es schwer haben, obwohl sie das Gute wollen. Über denen, die Unfreiheit erleiden, soll der Himmel offenstehen!
Noch einmal Alexej Nawalny: „Ganz sicher wird der Tag kommen, an dem das Sprechen der Wahrheit und das Eintreten für Gerechtigkeit in Russland etwas Alltägliches und überhaupt nichts Gefährliches sein wird.“ Ja, so wird es sein!
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Freude schwerelos
Henning Böger, Pfarrer - 29.08.2023
Frieda liebt ihren neuen Lift, erzählen ihre Eltern. Sie strahlt, wenn der Aufzug mit ihr hinauf oder hinunter fährt. Lachen kann Frieda wunderbar, sprechen kann sie nicht. Seit ihrer Geburt ist sie körperlich und geistig schwerstbehindert. Weil sie nicht laufen kann, muss sie getragen werden. Das machten ihre Eltern immer selbstverständlich über die Stockwerke im Haus.
Aber jetzt, mit acht Jahren, wird Frieda zu schwer. Daher wünschen sich die Eltern einen Aufzug vor ihrem Haus in Mittelfranken. Der kostet viel Geld, etwa um die hunderttausend Euro. So viel hat die Familie nicht, aber sie hat eine Idee: Sie dreht einen kleinen Film und zeigt den im Internet. Bitte, sagt sie dazu, bitte helft uns und Frieda!
Was dann geschieht, hat alle überwältigt: Viele Menschen spenden - aus Deutschland und sogar aus Südafrika und Los Angeles. Zu den Einzelspenden gibt es auch noch einige Zehntausend Euro von einer privaten Stiftung. So kann der Lift bestellt und direkt vors Haus gebaut werden. Und Frieda liebt ihren neuen Lift. Sie liebt es, wenn er sie mühelos herauf und herunter hebt. Vielleicht spürt Frieda dann, wie leicht und schwerelos sie sein kann.
Genau dieses Gefühl wünsche ich uns allen öfters mal: eine schwerelos Freude; immer dann, wenn die Welt so trostlos und erdenschwer erscheint, dass es uns eigentlich nur ins Bodenlose drücken kann: Was kannst du da schon tun?
Manchmal müssen wir gar nichts tun oder reden. Manchmal sollten wir einfach nur da sein und andere wahrnehmen. Und wenn es einmal um etwas Geld gehen sollte, gelingt das vielleicht auch. Es geht dabei nie um die ganze Welt. Es geht immer um diese eine Not, bei der wir vielleicht etwas tun oder bewirken können.
Jesus hat dazu einmal etwas herrlich Ungewöhnliches gesagt: „Wenn nur ein gebeugter, verlorener Mensch gefunden wird oder wenn er sich finden lässt, dann geschieht etwas Wunderbares“, sagt Jesus: „Dann ist Freude vor den Engeln Gottes!“ Ich bin mir sicher: Wenn Frieda jetzt in ihrem neuen Aufzug fährt, dann freuen sich mit ihr alle Engel - zuhause und im Himmel.
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My Home is my Castle
Werner Busch, Pfarrer - 28.08.2023
Du brauchst einen Zufluchtsort, ein geschütztes Zuhause. Den Wert von Privatheit, wo wir unbeobachtet und unbehelligt leben können, ist kaum zu überschätzen. Steinzeitmenschen lebten in Höhlen. Später legte man Siedlungen an und baute Zäune um sie. Städte entstanden und wurden von Schutzmauern umgeben, von Wällen oder künstlich veränderten Flussläufen. Hierhin könnt ihr euch zurückziehen. Hier seid ihr nicht weder der Wildnis noch irgendwelchen Angreifern ausgesetzt. Hier ist Euer Zuhause. Hier ist Geborgenheit. Hier haben wir unsere vier Wände. Da kennt man uns ungeschminkt, ungeschönt, unverstellt, ganz privat.
Wenn allerdings der Lebensradius sich auf diese paar Quadratmeter beschränkt, tut uns das auf Dauer nicht gut. Wenn du einmal einige Tage nicht vor der Tür gewesen bist, drückt das aufs Gemüt. Das Leben fühlt sich trist an, und das heimelige Zuhause kann zum Käfig werden. Eine Gedichtzeile von Rainer Maria Rilke sagt es treffend:
"Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt."
Weil die Seele auf Dauer aushungern lässt, brauchen kranke und pflegebedürftige Menschen Hilfe. Wenn sie schon nicht in die Welt hinauskönnen, muss die Welt zu ihnen kommen – in Büchern, Filmen, und noch besser: in Besuchen, Telefonaten, Briefen. Wir sind eben Menschen mit Geist und Seele, brauchen Aussicht und Weitblick.
Ein altes Sommerlied denkt genauso, hat aber eher gesunde und bewegliche Zeitgenossen im Visier. An sie richtet schon die Eröffnung gleich in der ersten Zeile eine Aufforderung.
„Geh aus, mein Herz, und suche Freud.“
Es ist lebenswichtig. Wenn Du kannst: öffne die Tür und geh ins Weite, nach draußen. Geh einmal aus! Raus aus der kleinen privaten Lebenshöhle. Brich auf ins Unbekannte. Wissenschaftler sagen: Dem Gehirn tut es gut, etwas zu sehen, zu hören, zu fühlen, das es noch nicht kannte. Erstbegegnungen sind gesund für den Geist und regen Entwicklung an. Kostet vielleicht etwas Überwindung – deshalb der Imperativ –, aber es lohnt sich. „Geh aus, mein Herz!“
Also raus! Raus. In dem Gelände da, wo du nicht heimisch bist, findest du, was du zum Leben brauchst. In der Fremde, im Nicht-Privaten wartet etwas auf dich, wonach Körper und Seele sich sehnen.
„Gottes Gaben“ nennt das Paul Gerhard in seinem Sommerlied. Tauch ein in die Welt, in die Schöpfung. Geh da hin, wo dir frische Luft und fremde Eindrücke um die Nase wehen. Es sind kleine Offenbarungen mitten in dieser Welt. Sie öffnen den Käfig. Und wenn ich mich einmal wieder auf meinen allzu vertrauten Gedankengängen immer allerkleinsten Kreise drehe, dann holt mich irgendwas da draußen wieder in die Weite, ins Offene. Das ist Gottes Arbeit mit mir, die Seele lebendig, weit und empfangsbereit zu machen.
"Ich selber kann und mag nicht ruhn,
des großen Gottes großes Tun
erweckt mir alle Sinnen.
Ich singe mit, wenn alles singt,
und lasse, was dem Höchsten klingt,
aus meinem Herzen rinnen."
Download als PDF-Datei Wer nur den lieben Gott lässt walten
Wer nur den lieben Gott lässt walten
Heiko Frubrich, Prädikant - 26.08.2023
„Wer nur den lieben Gott lässt walten“ – der Choral, den Georg Neumark 1641 geschrieben hat, gehört, sowohl was den Text als auch die Melodie angeht, zu den bekanntesten Kirchenliedern überhaupt. Johann Sebastian Bach und auch Domorganist Witold Dulski haben sich zu Bearbeitungen und Improvisationen inspirieren lassen.
„Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn allezeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.“ So lautet die erste Strophe und sie macht deutlich, dass es Georg Neumark wichtig war, unser Vertrauen zu Gott zu stärken, gerade dann, wenn wir mal nicht auf der Sonnenseite unterwegs sind, sondern wenn Not und Traurigkeit unser Leben bestimmen.
Not lehrt beten, heißt es in einem alten Sprichwort. Ohne Frage rücken wir gerne näher zu Gott, wenn es uns schlecht geht. Doch die Frage ist, mit welcher Haltung wir das tun. Sind wir fordernd, so nach dem Motto: „Herr, warum lässt du zu, dass ich so leide? Nun tu mal was dagegen. Schließlich bist du doch allmächtig!“ Das wäre in der Tat ein Duktus, zu dem uns Georg Neumark nun gerade nicht ermuntern wollte.
Wir sollen vertrauen, uns Gottes Fürsorge anvertrauen in der festen Hoffnung, dass er es gutmachen wird mit uns, auch ohne, dass wir versuchen, ihn im Gebet unter Druck setzen. So vorbehaltlos, wie Kinder ihren Eltern vertrauen, so dürfen wir uns an Gott wenden.
Und ja, manchmal ist es schwer anzunehmen, was auf unseren Lebenswegen auf uns wartet. Krankheit, Ängste und Sorgen, der Tod eines lieben Menschen, all das sind echte Prüfungen für unser Gottvertrauen und nicht selten werden die Zweifel und die Wut in uns so laut, dass sie alles andere übertönen, auch unseren Glauben.
Gerade für diese Zeiten hat Neumark sein Lied geschrieben. „Was helfen uns die schweren Sorgen, was hilft uns unser Weh und Ach? Was hilft es, dass wir alle Morgen beseufzen unser Ungemach? Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit.“
Recht hat er! Wenn wir uns immer wieder selbst vor Augen führen, wie schlecht es uns doch geht, dann werden wir ganz sicher darin keine Entlastung finden – wahrscheinlicher ist das Gegenteil. Und so ist es ein großes Geschenk, wenn uns unser Glaube auch in solchen Situationen nicht verlässt und wir uns in Gottes Obhut geborgen fühlen können.
„Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das Deine nur getreu und trau des Himmels reichem Segen, so wird er bei dir werden neu; denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht.“
So sollen wir es in unserem Leben halten, rät uns Georg Neumark. Und obwohl diese Worte nun doch schon fast 400 Jahre alt sind: Es ist viel Wahres dran. Amen.
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Freiheit
Heiko Frubrich, Prädikant - 25.08.2023
„Wo der Geist des Herrn weht, da ist Freiheit“, schreibt Paulus. „Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei!“, sagt Jesus im Johannesevangelium. „Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden“, lesen wir im 126. Psalm. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ schreibt Martin Luther sehr ausführlich.
Freiheit hat in unserem Glaubensleben einen hohen und nicht wegzudenkenden Stellenwert. Und diese Freiheit ist auch ein wesentliches Merkmal der Beziehung, die Gott zu uns Menschen hat. Gott drängt sich nicht auf uns er zwingt uns zu nichts. Wir sind eingeladen, ihn als Begleiter mit auf unsere Lebenswege zu nehmen, eingeladen, unsere Ängste und Sorgen aber auch unser Glück und unsere Freude mit ihm zu teilen, eingeladen an seinen Tisch, wenn wir ihm, so wie gleich, in Brot und Wein ganz besonders nahe sein können.
Ich finde, dass das sein sehr respektvoller Umgang ist, den Gott mit uns Menschen an den Tag legt. Schlussendlich ist die Freiheit, die wir haben, ein großes Geschenk. Und sie beschränkt sich bei weitem nicht nur darauf, zu entscheiden, ob wir Gott Raum in unserem Leben einräumen wollen oder nicht. Allein die Tatsache, dass wir überhaupt dazu in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, die unser Leben verändern, dass wir gestalten können, Ideen entwickeln und sie realisieren, Ziele formulieren und sie verfolgen, Lösungen erarbeiten und sie umsetzen, ist die Basis für ein Leben in Freiheit.
All das sind auch die Voraussetzungen dafür, dass wir unsere Persönlichkeiten frei entfalten können und dass unsere Würde geachtet ist. Das garantiert uns im Übrigen nicht nur die Bibel, sondern auch unser Grundgesetz. Carlo Schmid, einer seiner Väter, hat einmal gesagt: „Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt bloßer Zweckmäßigkeitserwägungen, wo man den Glauben hat, dass sie für die Würde des Menschen unverzichtbar ist. Wenn man den Mut zu diesem Glauben hat, muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber haben, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie selbst umzubringen.“
Sie sind wieder unterwegs, jene, die unsere Demokratie missbrauchen, um sie selbst umzubringen. Sie machen den Staat verächtlich, streuen Halb- und Unwahrheiten und schüren die Unzufriedenheit, die Angst und den Hass.
Die göttliche Freiheit, in der wir leben, ist ein Geschenk unseres Herrn. Unsere freiheitlich demokratische Grundordnung fällt uns allerdings nicht wie ein reifer Apfel in den Schoß. Wir müssen sie mit Leben füllen und ihre Feinde in die Schranken verweisen – auch und gerade als Christenmenschen. Und ich bin mir sicher, dass wir dabei Gott auf unserer Seite haben. Denn wo der Geist des Herrn weht, da ist Freiheit. Amen.
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Bartholomäus
Heiko Frubrich, Prädikant - 24.08.2023
Heute ist der Gedenktag des Heiligen Bartholomäus. Sein voller Name war wohl Nathanael Bar-Tholmai und die Bibel berichtet von ihm als einem der zwölf Jünger. So ganz viel wissen wir über ihn nicht. Möglicherweise war Bartholomäus Schriftgelehrter. Jedenfalls soll er in Indien, Mesopotamien und vor allem in Armenien gepredigt haben. Dort hat ihn auch sein Martyrium ereilt. Auf Geheiß des armenischen Herrschers soll ihm bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen worden sein. Anschließend hat man ihn kopfunter gekreuzigt.
Gott meint es gut mit uns Menschen, und doch hat er dafür gesorgt, dass unsere Bäume nicht in den Himmel wachsen. Unser Können unser Verstehen und unsere Zeit sind begrenzt. Doch warum können wir so ausufernd sein in unserer Grausamkeit und Brutalität? Selten liefern sich Menschen einen Wettstreit, in dem es darum geht, wer denn wohl der größte Wohltäter ist. Doch bei den effektvollsten Folterungs- und Tötungsmethoden lassen Menschen auch noch heute ihrer Kreativität freien Lauf.
Bartholomäus musste das erfahren, aber nicht nur er. Ich finde es mehr als absurd, wie viel Energie und wie viel Geld auf dieser Welt verprasst wird, um mit der eigenen Vernichtungskraft anderen Nationen zu drohen. Mit dem Geld, das jährlich für Rüstung ausgegeben wird, könnten selbst die Ärmsten der Armen dauerhaft in Saus und Braus leben. Kein Mensch müsste mehr verhungern oder verdursten. Ach hätte Gott uns Menschen doch ein wenig mehr an diesbezüglicher Einsicht und Umsetzungsstärke mit auf unsere Lebenswege gegeben. Doch es ist nun einmal wie es ist.
Bartholomäus wusste, dass er mit seinem Verkündigungsdienst schlimmste Konsequenzen für Leib und Leben riskierte. Wie gut haben wir es dagegen. Wir können von unserem Glauben und von Gottes froher Botschaft erzählen, ohne Angst haben zu müssen, dass uns oder unseren Familien etwas Furchtbares passiert. Schlimmstenfalls ernten wir ein müdes Lächeln, ein dezentes Kopfschütteln oder einfach nur Desinteresse. Aber das war es dann auch schon.
Warum sind wir trotzdem so furchtbar zurückhaltend mit diesen Themen? Menschen, die an Gott glauben, empfinden das in aller Regel als eine echte Verbesserung ihrer Lebensqualität. Andere Menschen daran teilhaben zu lassen und ihnen so die Chance zu geben, zumindest neugierig auf ein spirituelles Leben zu werden, ist doch ein feiner Zug, oder? Wenn wir von anderen Dingen begeistert sind, erzählen wir das unseren Freunden und Bekannten schließlich auch.
Vielleicht ist der heutige Bartholomäus-Gedenktag ein guter Anlass, ein wenig offener und redseliger zu werden. Denn mit einer frohen Botschaft braucht man nicht hinter dem Berg zu halten. Amen.
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Enge Grenzen
Heiko Frubrich, Prädikant - 21.08.2023
Unser Kirchenkalender sieht für jede Woche im Jahr zwei Lieder vor. Eines der beiden für die Woche ist der Choral: „Meine engen Grenzen“. Es ist ein neueres und ökumenisches Lied, der Text stammt von Pfarrer Eugen Eckert. Er hat ihn geschrieben, als er Sozialarbeiter in einem Wohnheim für Mädchen aus schwersten Familienverhältnissen war und dort, wie er selbst sagte, oft genug mit seinem Latein am Ende war. Er selbst wurde belogen, bestohlen und bedroht und konnte den Suizid eines Mädchens nicht verhindern.
„Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich. Wandle sie in Weite: Herr, erbarme dich.“ So lautet die erste Strophe. Enge Grenzen tragen wir alle in uns, zwar sehr individuell, doch niemand ist davon frei. Sie limitieren unser Verstehen, unser Können, unsere Toleranz, unsere Barmherzigkeit, unser Vertrauen, unsere Hoffnung und auch unseren Glauben.
Gerade die kurze Sicht, die uns Menschen anhaftet und von der Eckert schreibt, führt uns in Sackgassen auf unseren Lebenswegen. Da versteigt man sich in großer Euphorie zu irgendwelchen Entscheidungen, deren Konsequenzen nicht bis zum Ende durchdacht sind. Da lässt man sich einlullen von Lügnern und Spaltern. Da wählt man Faschisten, weil man gefrustet ist. In allen diesen Fällen gibt es das böse Erwachen gratis und frei Haus.
Eckert bringt zum Ausdruck, dass er Gott zutraut, unsere Grenzen zu weiten. Du stellst meine Füße auf weiten Raum, so schrieb es schon der alttestamentliche König David im 31. Psalm. Perspektivwechsel helfen, um das zu erleben, der berühmte Blick über den eigenen Tellerrand. Es ist viel erreicht, wenn es uns gelingt, mit Gottes Hilfe einen Schritt zur Seite zu treten und auf uns selbst zu schauen. Warum spüre ich Zweifel in mir? Warum sind da Frust und Hartherzigkeit? Warum nehme ich hin, dass Menschen auf offener Bühne hasserfüllt gegen Geflüchtete hetzen und Naziparolen skandieren? Meine kurze Sicht bringe ich vor dich. Wandle sie in Weite, Herr erbarme dich!
Gott kann helfen, unsere Kurzsichtigkeit zu beenden und uns neue Perspektiven aufzuzeigen. Er kann uns Türen öffnen, die zu einer veränderten Sicht auf diese Welt, auf unsere Mitmenschen und auf uns selbst führen. Und diese Sicht wird geprägt sein von Dankbarkeit, Respekt, Demut und von Liebe. Gott, schenke uns diese Weite und erbarme dich. Amen.
Download als PDF-Datei Ein Herz und eine Seele
Ein Herz und eine Seele
Henning Böger, Pfarrer - 19.08.2023
Arm in Arm stehen sie da und wirken wie ein Herz und eine Seele. Sie sind Freunde fürs Leben geworden. Und sie haben allen Grund dazu, einander zu umarmen. Der Jüngere von beiden heißt Jonathan. Der angehende Lehrer aus Deutschland hatte sich registrieren lassen und seine Stammzellen gespendet. Der Ältere ist Dominic, ein Minister der kanadischen Regierung. Er hat die Stammzellenspende bekommen. So konnte sein Leben gerettet werden. Einige Zeit später besuchen sich die beiden. Erst reist Jonathan nach Kanada und dann kommt Dominic mit seiner Frau nach Deutschland, wo ihm Jonathan seine ganze Familie vorstellt.
Manchmal wird die weite, für uns oft unüberschaubare Welt zum Dorf, in dem Menschen einander mit Herz und Seele nahe sind. In ihm fließe jetzt deutsches Blut, sagt der kanadische Minister später zum Bundeskanzler, den er auch noch trifft, kurz vor der Heimreise.
Das ist eine schöne Geschichte mit einem guten Ende. Ja, aber sie stiftet auch zum eigenen Weiterdenken an. Dazu sollten wir Menschen immer fähig sein: einander zu beschützen und zum Leben aufzuhelfen. Oft genug tun wir ja das Gegenteil davon: Wir lachen und grenzen aus, fallen mit Gewalt übereinander her, machen anderen das Leben nicht leicht, sondern schwer. Vergesst darüber das andere nicht: Wir Menschen sollen einander das Leben geben, statt es zu nehmen! Wo immer es geht. Und vermutlich geht es häufiger, als wir manchmal meinen.
Einmal waren ein paar Menschen zu Jesus gekommen, so erzählt die Bibel, und fragten ihn, was denn das Wertvollste im Leben sei und das höchste Gebot von allen. Jesus hat ihnen so geantwortet: „Dass du, Mensch, Gott liebst und deinen Nächsten wie dich selbst!“
Auch das ist ein herrlich ehrlicher Satz, finde ich, und oft gar nicht schwer: im anderen den Nächsten zu sehen, ihm mit der Liebe zu begegnen, die man sich selbst schuldig ist, und sich darin Gott nahe zu wissen. Denn dort liegt sein Segen drauf: Wenn jemand mir eine Sorge abnimmt; manchmal vielleicht nur eine. Und wenn ich dabei helfen kann, dass eine andere Sorge etwas kleiner wird! Womöglich strahlen wir dann beide einmal kurz und sind ein Herz und eine Seele.
Download als PDF-Datei Wir gehören dazu!
Wir gehören dazu!
Heiko Frubrich, Prädikant - 18.08.2023
Über dieser Woche heißt es aus dem 33. Psalm: „Wohl dem Volk, dessen Gott der HERR ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat!“ Ein alttestamentliches Wort, mit dem der Psalmbeter zum Ausdruck bringt, was für ein Glück und was für ein Segen es ist, zu Gottes auserwähltem Volk zu gehören. Gottes auserwähltes Volk ist das Volk Israel, das ist hinlänglich bekannt. Sind wir damit raus aus der Nummer? Ich meine, selbst bei großzügigster geographischer Auslegung befindet sich Braunschweig nicht im Heiligen Land.
Doch glücklicherweise oder im wahrsten Sinne des Wortes „Gott sei Dank“ ist die Geschichte von Gott und den Menschen nicht mit dem Alten Testament zu Ende erzählt. Zwar besteht der alte Bund, den Gott geschlossen hat, unverändert fort, doch in Jesus Christus hat er einen Neuen Bund mit uns Menschen geschlossen und dieser neue Bund umfasst auch uns.
Das ist ohne Zweifel ein Grund zu großer Freude, denn Gott ist auch unser Herr und er hat auch uns zum Erbe erwählt. Wir gehören damit zur Heiligen Familie und sind, wie es Paulus schreibt, nicht mehr nur Fremdlinge und Gäste, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen. Das ist mittendrin statt nur dabei, das beschert uns eine große Freiheit, einen uns liebenden Lebenswegbegleiter und eine Daseinsperspektive, die weit über unser irdisches Leben hinausgeht.
Doch es gibt auch eine andere Seite, die wir nicht unter den Tisch fallen lassen dürfen. Denn die göttliche Freiheit, die uns geschenkt wird, können wir nicht leben, ohne Verantwortung für unser Tun und Lassen zu übernehmen. Und so mahnt uns Jesus höchstpersönlich: „Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich!“ Sehr deutliche Worte, wie ich finde.
Damit wird aber klar, was christliches Leben in seinem Kern ausmacht. Wir dürfen erhobenen Hauptes unserer Wege gehen, denn wir haben Gott an unserer Seite, der uns annimmt, wie wir sind und der es gut mit uns meint. Und aus dieser starken Position heraus, können wir mitgestalten an einer Welt, die so ist, wie Gott sie für uns gedacht, eine Welt, in der die Liebe und die Barmherzigkeit den Ton angeben und in der wir einander in Respekt und gegenseitiger Achtung begegnen.
Utopisch? Vielleicht. Erstrebenswert. Auf jeden Fall! Amen.
Download als PDF-Datei Demut
Demut
Heiko Frubrich, Prädikant - 17.08.2023
Ich habe schon mehrfach erzählt, dass mein Partner und ich große Helgoland-Fans sind. Wir lieben diese Insel, sind regelmäßig dort und es fühlt sich schon fast so an, als kämen wir nach Hause, wenn das Schiff im Hafen anlegt. Mittlerweile kennen wir einige Leute dort, unter anderem die Inselpastorin Pamela Hansen. Eine Bekannte hat mir gestern ein Zitat von ihr zugeschickt. Darin sagt Pamela Hansen: „Die Insellage hat mich demütiger gemacht.“
Ich kann das gut nachvollziehen. Klar, bei gutem Wetter im Sommer, wenn die Nordsee glatt ist wie ein Tischtuch und die Insel volles Tagestouristen, dann ist Helgoland ein Urlaubsort wie viele andere auch. Doch es gibt auch andere Zeiten. Jene nämlich, in denen wetterbedingt tagelang kein Fährverkehr möglich ist und auf dem kleinen Flugplatz auf der Düne keine Flugzeuge landen, weil der Sturm es nicht zulässt. Und wenn Sie dann an der Nordwestspitze bei der Langen Anna stehen, auf das tosende Meer schauen und sich bei Windstärke 10 oder 11 knapp noch auf den Beinen halten können, dann erdet das unglaublich und es macht demütig.
Denn spätestens in einem solchen Moment wird mir immer wieder meine eigene Begrenztheit klar. Den Kräften von Wellen und Wind sind wir ausgeliefert, wir können sie nicht kontrollieren, wir können dem Naturschauspiel einfach nur zuschauen.
Der Begriff „Demut“ kommt im täglichen Sprachgebrauch nicht allzu oft vor. Und wenn, dann ist er nicht selten negativ belegt. Wenn jemand gedemütigt wird, dann beschreibt das eine verletzende Situation. So wird Demut eher als Schwäche verstanden. Dabei zeigt das Anerkennen der eigenen Grenzen eher Stärke und Weisheit. Demut ist ein wirksames Mittel gegen Narzissmus und Größenwahn und damit auch eine Versicherung gegen die Katastrophen, in die größenwahnsinnige Machthaber Millionen von Menschen gestürzt haben.
Demut lässt uns unser eigenes Reden und Handeln immer wieder kritisch hinterfragen. Demut lässt uns prüfen, ob wir mit unserem Leben in der richtigen Richtung unterwegs sind, und Demut gibt uns die Kraft, die wir brauchen, um erforderlichenfalls umzukehren.
Glaube braucht Demut, denn sie sorgt dafür, dass in unserem Leben neben dem eigenen Ego noch ausreichend Platz für Gott bleibt. Er will in unserem Leben eine Rolle spielen, will uns begleiten und etwas mit uns zu tun haben. Doch das setzt voraus, dass wir das zulassen und anerkennen, dass wir eben nicht alles selbst im Griff haben.
Diese Einsicht hat im Übrigen etwas sehr Entlastendes. Denn ich muss nicht verzweifeln vor dem Berg an Aufgaben und Herausforderungen, von denen ich von vornherein weiß, dass ich sie nicht bewältigen kann. Bildhaft gesprochen, dürfen Sie und ihr und ich spüren, wie uns der Herr seine Hand auf die Schulter legt und sagt: Ich bin doch auch noch da. Und so kann man auch im heftigsten Sturm auf Helgoland das Gefühl einer tiefen Geborgenheit empfinden – für mich, in aller Demut, jedes Mal wieder ein großes Geschenk. Amen.
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Weisheit und Verstand
Heiko Frubrich, Prädikant - 16.08.2023
Man hat ja so seine Ansprüche. Die entwickeln wir aus dem heraus, was wir in unserem Leben gelernt und erlebt haben, was uns gefällt oder eben auch nicht, was gerade en Vogue ist oder aus der Zeit gefallen. Doch es vergeht kein Tag, an dem wir nicht bemerken, dass unsere Mitmenschen und diese Welt insgesamt auch Ansprüche an uns haben. Wenn wir sie beschreiben, beginnen unsere Sätze oft mit: Ich soll, ich muss, ich darf nicht. Die Ansprüche anderer zu erfüllen, gelingt uns mal besser und mal schlechter und manchmal scheitern wir auch an den eigenen Ansprüchen und das ist nicht selten besonders schmerzhaft.
Das Thema insgesamt ist übrigens nicht neu. Am vergangenen Sonntag wurde in unseren Kirchen über einen Text aus dem 5. Buch Mose gepredigt, der gut und gerne 3000 Jahre alt ist und der sich auch mit Ansprüchen beschäftigt, die in diesem Falle Gott an uns hat. Mose überbringt folgende Botschaft:
„Sieh, ich habe euch gelehrt Gebote und Rechte, wie mir der HERR, mein Gott, geboten hat, dass ihr danach tun sollt. So haltet sie nun und tut sie! Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand.“
Wäre es nicht klasse, wenn das in den vergangenen Jahrtausenden geklappt hätte? Die Menschen richten sich nach Gottes Geboten und zeigen dadurch ihre Weisheit und ihren Verstand! Die Realität ist leider vielfach eine andere. Ja, natürlich, niemand ist perfekt und immer werden wir bei dem, was wir tun, Fehler machen und auch scheitern. Doch Mose Aufforderung, Gottes Gebote zu halten und sie zu tun, gilt dennoch.
Auf Gottes Vergebungsbereitschaft und seine Barmherzigkeit dürfen wir zählen, doch übersetzt in unser Leben heißt das nicht: Alles ist erlaubt und ich kann tun und lassen, was ich will. Aus einem christlichen Leben ist die Verantwortung nicht wegzudenken. Und wenn Jesus sagt: Was ihr getan habt, einem, von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan, dann erinnert er uns genau daran.
Ich denke, dass wir durch die Art, wie wir unser Leben gestalten, als Christinnen und Christen erkennbar sein dürfen und sollen – jede und jeder, so gut sie oder er es eben vermag. Menschen zu sehen, die Hilfe brauchen, auf die Leisen zu hören, zu widersprechen, wo Menschenrechte und Menschenwürde missachtet werden und daran zu erinnern, wohin uns rechter Populismus schon einmal geführt hat, sind Aufgaben, denen wir in unserem normalen Alltag begegnen. Und sie bieten uns täglich die Gelegenheit, tatsächlich Weisheit und Verstand zu zeigen, in dem wir so agieren und reagieren, wie Gott es für uns vorgesehen hat.
Es wäre viel erreicht, wenn das gelänge und ich will einfach die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich Weisheit und Verstand irgendwann einmal durchsetzen – mit Gottes Hilfe und in Jesu Namen. Amen.
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Gute Nachrichten
Heiko Frubrich, Prädikant - 14.08.2023
Mehr Pinguinschutz in Südafrika, neue Therapie gegen Bluthochdruck, 98% weniger Plastiktüten, Ghana will die Todesstrafe abschaffen und Indien senkt die Treibhausgasemissionen signifikant. Alle diese Überschriften finden sich auf der Internetseite „Good news“ – gute Nachrichten. Dort kann man von Montag bis Freitag täglich drei bis vier kurze Artikel lesen, die ausschließlich gute Nachrichten beinhalten. In aller Regel sind sie nicht so weltbewegend, dass sie es aus sich heraus in die Tagesschau oder auf die Titelseiten der großen Tageszeitungen geschafft hätten. Nichtsdestotrotz sind sie wichtig und: Sie machen Hoffnung.
Wenn diese Nachrichten belegen, dass eben nicht alles furchtbar ist auf dieser Welt, auch, wenn wir bei den großen Themen, die uns derzeit bewegen, nach guten Nachrichten tatsächlich sehr intensiv suchen müssen. Außerdem können diese guten Nachrichten motivieren, auch die eigenen Sinne für Positives in unserem Leben zu schärfen.
Doch es gibt zugegebenermaßen Phasen in jedem Leben, in denen das sehr schwerfällt. Trauer, Angst, Not und Schmerz können so stark sein, dass uns Gutes nicht mehr erreicht und wir schon gar nicht zusätzliche Kraft aufbringen können, um aktiv danach zu suchen.
Über dem Monat August heißt es aus dem 63. Psalm: „Du bist mein Helfer, und unter dem Schatten deiner Flügel frohlocke ich.“ Von König David stammen diese Worte und er hat sie geschrieben, so berichtet die Bibel, als er in der Wüste Juda war. In einer Wüste etwas Positives zu finden, ist zweifellos eine ganz besondere Herausforderung, denn für uns Menschen ist sie eher lebensfeindlich. David inspiriert sie ganz offensichtlich, über seine Beziehung zu Gott nachzudenken.
Dass er von wohltuendem Schatten spricht, ist gut nachvollziehbar, denn daran herrscht in einer Wüste tatsächlich meist Mangel. Gott spendet diesen schützen Schatten mit seinen Flügeln. Und das ist für David so wohltuend, dass er darunter frohlockt.
David sieht in Gott seinen Helfer. Das so sagen zu können, ist, wie ich finde, ein großes Geschenk! Denn damit erübrigt sich in schwierigen Situationen ein zwanghaftes Suchen nach irgendetwas Positivem. Gott ist mein Helfer – wenn das zur Gewissheit wird, wenn unser Glaube auch in großer Not so stark ist, uns daran nicht zweifeln zu lassen, wird uns im Leben eine Quelle der Hoffnung immer bleiben.
Und genau aus diesem Grunde bekräftigen wir zu Beginn jedes Gottesdienstes eine der wichtigsten guten Nachrichten, und die heißt: „Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat!“ Amen.
Download als PDF-Datei Liebe ist ein Gottesgeschenk
Liebe ist ein Gottesgeschenk
Heiko Frubrich, Prädikant - 12.08.2023
„Manche Männer lieben Männer, manche Frauen eben Frauen. Das ist genau so normal wie Kaugummi kauen.“ So singen es „Die Ärzte“ seit 2012 in einem ihrer Lieder. Recht haben sie und die meisten Menschen in unseren Breiten sehen das ebenso. Und so wehen in unserer Stadt in diesen Tagen wieder die Regenbogenfahnen, auch gleich nebenan vor dem Rathaus und in einer knappen Stunde wird sich der Umzug zum diesjährigen Braunschweiger Sommerlochfestival in Bewegung setzen. Dann wird es bunt und laut und fröhlich und für alle offensichtlich, dass Vielfalt in unserer Gesellschaft einen festen Platz hat – und das ist auch gut so.
Natürlich gilt auch hier: „Einheit in Vielfalt“. Und diese Einheit bezieht sich auf eine gemeinsame Wertebasis. Manche Dinge sind nicht verhandelbar. Menschenrechte und Menschenwürde sind zu beachten. Das leitet sich unisono aus unserem Grundgesetz und aus Jesu Botschaft ab. Und es schützt und verpflichtet die Minderheit genauso wie die Mehrheit.
Können Sie sich eigentlich noch daran erinnern, wann Sie sich Ihre Hautfarbe ausgesucht haben oder Ihre Körpergröße oder Ihr Geschlecht? Sie werden sich nicht daran erinnern, weil Sie es sich nicht aussuchen konnten, genauso wenig wie Ihren Geburtsort, Ihre Eltern und Ihre sexuelle Orientierung. All das sind Gottesgeschenke, mit denen er uns ausgestattet hat, mit der Maßgabe, sie anzunehmen und etwas daraus zu machen.
Ich bin mir sehr sicher, dass sich Gott etwas dabei gedacht uns gerade hier im Braunschweiger Land mit unseren ganz persönlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten und mit all dem leben zu lassen, was uns ausmacht. Immer wieder haben Menschen bestimmte Ausprägungen herausgepickt, um andere zu diskriminieren. Rothaarige Frauen wurden im Mittelalter schnell der Hexerei bezichtigt, Menschen mit dunkler Hautfarbe über Jahrhunderte als minderwertig klassifiziert und Lesben, Schwule und Transmenschen als abartig und pervers ausgegrenzt.
Was maßen wir Menschen uns eigentlich dabei an? Insbesondere bei letztgenannter Gruppe versteigen sich manche Zeitgenossen noch immer dazu, bei der Liebe in Kategorien von richtig und falsch zu denken. Damit haben sie das dünne Eis längst durchbrochen und sind im eiskalten Wasser gelandet. Liebe ist immer ein Gottesgeschenk und wo sie hinfällt und wer sie für wen empfindet, können wir nicht bestimmen.
Und überall dort, wo Menschen füreinander Liebe empfinden, wo sie füreinander Verantwortung übernehmen und sich dazu entscheiden, das weitere Leben gemeinsam zu gestalten, da wird Gott, so meine feste Überzeugung, seinen Segen nicht zurückhalten. Und es steht uns nicht an, Wertigkeiten festzulegen, abhängig davon, ob das nun Mann und Frau oder zwei Männer oder zwei Frauen sind.
Wir vom Dom wünschen allen ein gesegnetes Sommerlochfestival 2023. Der Evangelist Johannes schreibt: Denn Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Amen.
Download als PDF-Datei Das Licht scheint in der Finsternis
Das Licht scheint in der Finsternis
Heiko Frubrich, Prädikant - 11.08.2023
Und das Licht scheint in der Finsternis. Dieses Wort aus dem Johannesevangelium steht über dem heutigen Tag. Es stammt, wenn man so will, aus der Weihnachtsgeschichte, so, wie sie Johannes erzählt – poetisch, metaphorisch und so ganz anders als bei Matthäus, Markus und Lukas, die tatsächlich die Geschichte erzählen, die sich in der Heiligen Nacht zugetragen hat. Bei Johannes hingegen klingt das so: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit.“
Ich will mit Ihnen jetzt kein sommerliches Weihnachtsfest feiern, wobei weihnachtliche Freude durchaus ganzjährig Saison hat. Ich möchte aber auf etwas Besonderes im Evangelientext hinweisen. Johannes berichtet in der Vergangenheitsform. Im Anfang war das Wort. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Es wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit. Doch dann wechselt er auf einmal ins Präsens und schreibt: Und das Licht scheint in der Finsternis.
Dieser Wechsel in der Erzählzeit ist eine starke Aussage. Sie macht deutlich, dass sich seit der Geburt Christi manches verändert haben mag, eines aber nicht: Seine Gegenwart. Christus, das Licht der Welt, war kein Strohfeuer, dass vor 2000 Jahren im Heiligen Land aufleuchtete und dann für immer verlosch. Nein, dieses Licht leuchtet immer, auch heute.
An Dunkelheiten herrscht in unserer Welt nun wirklich kein Mangel. Doch Johannes versichert und, dass wir selbst in den tiefsten Dunkelheiten, durch die uns unser Lebensweg auch führen mag, nicht allein sind, sondern uns immer und überall auf Jesus Christus verlassen können. Das Licht scheint in der Finsternis, sagt der Evangelist. Dort steht wohlgemerkt nicht, dass Jesus die Dunkelheit ein für alle Mal abschafft. Sie war und sie ist durchaus präsent. Doch Christus ist da und begleitet uns hindurch.
Ja, das klingt alles sehr fromm und grundlegend. Doch ich finde, dass wir uns dieser Glaubensfundamente immer mal wieder vergewissern sollten. Heute lädt uns der biblische Lehrtext aus den Herrnhuter Losungen dazu ein. Und das Licht scheint in der Finsternis. Amen.
Download als PDF-Datei Ein weiser Frosch
Ein weiser Frosch
Heiko Frubrich, Prädikant - 10.08.2023
Neulich habe ich von einem Freund per WhatsApp ein lustiges Bild zugeschickt bekommen. Es zeigt Kermit, den Frosch, der an einem Tisch sitzt, vor ihm ein paar Papiere, die er aber nicht beachtet. Und der Text zu diesem Bild lautet: Heute sitze ich einfach nur so da und bin hübsch. Was für eine weise Haltung, dachte ich mir, und dann auch noch von einem Frosch.
Vor ein paar Tage beklagte ein Leserbriefschreiber in unserer Lokalzeitung, dass eine der vorangegangenen Ausgaben eine einzige Ansammlung schlechter Nachrichten gewesen sei. Damit hatte er recht, doch ich weiß gar nicht, ob man das den Zeitungsschreibern anlasten kann. Ich tue mich momentan auch schwer damit, Themen auf der großen Weltbühne zu finden, die das Potential haben, uns glücklich und zufrieden zu machen.
Um so wichtiger ist es doch, dass wir in unserer kleinen Welt Situationen finden oder schaffen, in denen es uns gut geht, in denen wir Freude empfinden, in denen wir einfach mal die Seele baumeln lassen können und, so wir Kermit der Frosch, einfach nur so dasitzen. Das kann man auf einer Bank hier draußen vor dem Dom tun, an einem ruhigen Plätzchen im Bürgerpark oder im gemütlichen Sessel im heimischen Wohnzimmer.
Und da dürfen wir dann wirklich ab und zu einfach so dasitzen und hübsch sein. Wenn Sie bei den Worten „und hübsch sein“ inneren Widerspruch spüren, dann schieben Sie ihn bitte gleich wieder beiseite. Denn er ist unberechtigt. Wir alle sind hübsch, jede und jeder auf seine ganz individuelle Art. Denn wir können gar nicht hässlich sein, weil uns Gott zu seinem Bilde geschaffen hat, wie die Bibel berichtet. Jeder Mensch, auch Sie und Ihr und ich sind ein Abbild Gottes, und damit haben sich sämtliche Zweifel, ob wir denn auch hübsch sind, ein für alle Mal erledigt.
Wir dürfen und wir sollen uns immer mal wieder auch selbst genug sein. Auch Jesus hat seine Auszeiten gebraucht und sie sich genommen. 40 Tage hat er sich zum Beten und zum Fasten in die Wüste zurückgezogen, weg von seinen Jüngern, weg von den Menschen, die ihn hören wollten, weg vom wuseligen Alltag.
Gott will, dass es uns gut geht. Und dazu gehört, dass wir auf uns achten und uns Pausen gönnen, so, wie Kermit der Frosch: Heute sitze ich einfach nur so da und bin hübsch. Amen.
Download als PDF-Datei Hiroshima und Nagasaki – Mahnung und Aufforderung
Hiroshima und Nagasaki – Mahnung und Aufforderung
Heiko Frubrich, Prädikant - 09.08.2023
Eigentlich sollte sie Kokura treffen, die Stadt, die seit den 30er Jahren das Zentrum der japanischen Rüstungsindustrie war. Doch dort war der Himmel bewölkt und Rauchschwaden von vorangegangenen Luftangriffen behinderten die Sicht. Als nach drei Anflügen der Treibstoff auszugehen drohte, steuerte der Bomberpilot das Alternativziel an – die 100 km entfernte Stadt Nagasaki. Die Atombombe „Fat Man“ sollte dort über den Mitsubishi-Werken abgeworfen werden, verfehlte ihr Ziel jedoch um mehrere Kilometer und detonierte über dicht bewohntem Gebiet der Innenstadt.
22.000 Menschen waren sofort tot, 42.000 wurden verletzt, 17.000 weitere starben innerhalb der nächsten Monate. Ein Knopfdruck hatte gereicht, um dieses Unheil anzurichten. Ein Knopfdruck auf den Auslöser für den Abwurfmechanismus löschte knapp 40.000 Menschenleben aus.
Der 6. und der 9. August 1945 stellen zwei Meilensteine in der Geschichte der Kriegsführung dar. Erstmals wurden Atomwaffen in einem Krieg eingesetzt und so durch zwei Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki über 120.000 Menschen getötet. Weitere Zehntausende litten noch Jahrzehnte an den Spätfolgen oder starben daran.
Die Welt war und ist noch heute schockiert über das Ausmaß der Vernichtung, das von den beiden Atombomben ausging und tatsächlich hat es seitdem keinen weiteren Atomwaffeneinsatz in einem Krieg gegeben. Sind wir Menschen also doch lernfähig? Es bleiben Zweifel. Denn es bedurfte nahezu permanenter Verhandlungen und diverser Verträge und Abkommen um das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Atommächten soweit zu stabilisieren, dass es tatsächlich auch hielt.
In unseren Tagen ist die Angst vor einem Atomkrieg wieder größer geworden, weil die russische Führung immer wieder unverhohlen mit dem Einsatz von Atomwaffen droht – auf dem Gebiet der Ukraine und auch darüber hinaus. Und auch dem nordkoreanischen Diktator ist Übles zuzutrauen.
Auf unserem Marienaltar steht seit gut zwei Monaten ein Nagelkreuz aus Coventry. Es ist eine permanente Mahnung, dass nur durch Versöhnung ein friedliches Miteinander möglich ist. Versöhnung schafft Vertrauen, Versöhnung schafft Verständnis für die Belange der anderen Seiten, Versöhnung verhindert Gewalt.
„Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“, hat Jesus Christus von uns gefordert. Wenn wir in die Ukraine schauen oder nach Niger oder nach Afghanistan oder nach Syrien oder, oder, oder, dann scheint diese Forderung so absurd und so realitätsfremd wie nur irgendetwas. Doch ganz offensichtlich funktionieren die bisherigen Lösungsansätze nur unzureichend. Und warum müssen eigentlich immer nur Konflikte radikal sein? Radikale Umkehr zum Frieden wäre doch zumindest eine Überlegung wert, wenn doch alles andere nicht nachhaltig hilft.
Hiroshima und Nagasaki sind eine Mahnung an die gesamte Menschheit, nicht zu vergessen, über welch eine zerstörerische Kraft wir verfügen. Und sie sind Aufforderung, nach Wegen zu suchen, die zum Frieden führen, zu einem fairen und respektvollen Miteinander der Nationen dieser Welt und der Menschen untereinander. Die Richtung zeigt uns Jesus Christus und das Ziel heißt Versöhnung. Amen.
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Salomo
Heiko Frubrich, Prädikant - 07.08.2023
Gestern wurde eine Passage aus dem Alten Testament in unseren Kirchen gelesen, die vom berühmten König Salomo erzählt. Er wurde sehr jung König, zu jung, wie er selbst fand. Er fühlte sich mit der Aufgabe überfordert und wusste weder aus noch ein, wie die Bibel berichtet. Gott erkennt Salomos Unsicherheit und seine Angst und bietet ihm sehr großzügige Unterstützung an. „Was soll ich dir geben?“, fragt er ihn.
Das klingt fast wie bei der berühmten Fee, die uns drei Wünsche zu erfüllen verspricht. Bei Salomo sind es zwar nicht explizit drei, aber irgendwelche Einschränkungen gibt es auch nicht. Was würden Sie sich wünschen, wenn Sie die freie Auswahl hätten? Und wie ist das bei der Entscheidung? Wer darf bestimmen – der Kopf oder das Herz?
Salomo wünscht sich jedenfalls Weisheit und insbesondere die Gabe, zu erkennen, was gut und was böse ist. Er will Gottes auserwähltem Volk ein guter und vor allem gerechter König sein. Und sein erster Schritt in diese Richtung ist, dass er sich selbst und Gott gegenüber eingesteht, dass er dabei Hilfe braucht, dass er nicht alles allein im Griff hat und dass er sich für das Wohl des Volkes, das ihm anvertraut wurde, verantwortlich fühlt. Salomo zeigt echte Demut und damit keine Schwäche, sondern Größe!
Ach möge sich doch von dieser Haltung so mancher Autokrat unserer Tage eine Scheibe abschneiden! Wie segensreich könnte es sein, wenn die Putins, Lukaschenkos, Jinpings, Erdogans und Orbans dieser Welt alles daransetzten, gute und gerechte Staatenlenker zu sein – aus reinem Herzen der Gerechtigkeit und der Wahrheit verpflichtet.
Doch es liegt auf der Hand, dass sie um andere Dinge bitten würden, wenn sie einen Wunsch frei hätten. Macht und Reichtum stünden wohl ganz oben auf ihren Wunschzetteln. Wahrheit und Gerechtigkeit würden wir wohl genauso vergeblich suchen, wie auch nur einen Hauch von Demut.
Wahrheit, Gerechtigkeit und Demut scheinen ganz grundsätzlich an Bedeutung zu verlieren, auch in unserem Land. Wahrheit, Gerechtigkeit und Demut gehen nicht zusammen mit Antisemitismus, Fremdenhass und Homophobie. Doch derartige Haltungen werden immer sichtbarer. Wir haben es selbst in der Hand, zu bestimmen, wer unsere Staatenlenker werden sollen. Die aktuellen Meinungsumfragen bereiten mir Sorge.
Salomo hat Gott auf seiner Seite, der ihm seine Wünsche auch erfüllt. Denn sie sind nicht geprägt von Habgier und persönlichen Egoismus, sondern sie nehmen den Menschen in den Blick und zeugen von einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein. Eine solche Haltung ist ganz offenbar gottgefällig. Es steht in der Bibel, für jede und jeden frei zugänglich – ein guter Wegweiser für unser aller Lebenswege. Amen.
Download als PDF-Datei Das Licht am Ende des Tunnels
Das Licht am Ende des Tunnels
Heiko Frubrich, Prädikant - 05.08.2023
Das Licht am Ende des Tunnels, die Liste der Themenfelder, bei denen wir darauf warten, wird gefühlt länger und länger. Und nein, es soll dann eben nicht der entgegenkommende Zug sein, sondern tatsächlich das Ende des Tunnels, das Ende der Dunkelheit, ein neuer Start im Licht.
Das Licht am Ende des Tunnels ist den Menschen in der Ukraine und uns allen zu wünschen, wenn wir an den Krieg denken, der nun bald schon eineinhalb Jahre andauert und zehntausende Menschenleben gefordert hat. Es ist den Hungernden in den Schwellen- und Entwicklungsländern zu wünschen. Es ist den Hassenden und den Gehassten zu wünschen – den einen, damit sie wieder klare Gedanken fassen können, den anderen, damit sie eine Chance auf Respekt bekommen.
Doch auch ganz persönlich brauchen wir es immer wieder, das Licht am Ende des Tunnels – nach langer Krankheit, wenn wir Trauer durchleben, wenn das, was unser Leben ausgemacht hat, auf einmal nicht mehr da ist.
Über dieser Woche heißt es: „Lebt als Kinder des Lichts; denn die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.“ Paulus schreibt diese Worte an die junge christliche Gemeinde in Ephesus. Denn ihr ward einst Finsternis, erinnert er die jungen Christinnen und Christen, und er meint damit ihren bisherigen Lebenswandel, ihre unfruchtbaren Werke, wie er es nennt, denen sich die Epheser verschrieben hatten.
Paulus‘ Licht ist mehr als nur das Licht am Ende des Tunnels, dass uns Hoffnung nach einer vorübergehenden Krise spendet. Paulus‘ Licht ist ein komplett neues Leben, ein Leben, in dem Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit zählen, wie er es beschreibt. Diese drei sind die Früchte, die es zu ernten gilt, die Werte, die Menschen leiten, wenn sie sich aus reinem Herzen zu Jesus Christus bekennen.
Wohlgemerkt: Es sind Früchte, die von alleine wachsen, ohne, dass wir etwas dazu tun müssten. Es sind nicht die Ergebnisse harter Arbeit, nicht der Lohn für ein entbehrungsreiches Leben, das wir führen müssten, um Christi willen. Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit fallen uns in den Schoß, quasi wie der reife Apfel vom Baum in unserem Garten.
Ein Leben als Kind des Lichts ist nicht anstrengend und stressig. Es ist deutlich mehr Lust als Last. Ein solches Leben, und ich spreche aus eigener Erfahrung, ist ein echtes Geschenk, das wir mit unserem Glauben erhalten! Und ich denke, es wäre viel erreicht, wenn in unserer Welt Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit mehr an Bedeutung gewönnen. Die Chance ist da – es liegt an uns, sie zu nutzen. Amen.
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Wunder
Peter Kapp, Pfarrer - 31.07.2023
Ich erinnere mich noch an einen Satz von Jörg Zink, den der bekannte Theologe einmal im Zusammenhang mit einer der Wundergeschichten unserer Bibel gebraucht hat. Wunder, sagte Jörg Zink, sind wie eine Bushaltestelle. Das wichtige ist nicht die Haltestelle selbst, sondern die Tatsache, dass, wenn ich dort warte, ein Bus kommt.
Wunder also wollen auf etwas verweisen, wollen aufmerksam machen. Am Sonntag vor einer Woche waren Verse einer Wundergeschichte als Evangelium zu hören. Die Speisung der 5.000 bei Johannes. Sie waren ihm gefolgt, sie wollten ihn hören, und er sieht sie alle. Er sieht die Hitze, in der sie ausgehalten haben, er sieht die Zeit, die sie schon mit ihm gewandert waren. Sie haben Hunger. Wo kaufen wir Brot? Das fragt er einen der Jünger. Und der rechnet und antwortet: 200 Silbergroschen müsste man haben. Und selbst diese große Summe wird kaum reichen.
Eigentlich also ein Problem, das kaum lösbar ist. Man möchte weglaufen, die Augen verschließen vor all dem Elend der Welt. Man kann die zahlreichen Schreckensnachrichten kaum noch ertragen. Das kennen wir ja. Und ich finde immer wieder beeindruckend, was Jesus macht, als er die Zahl der zweihundert Silbergroschen gehört hatte. Er setzt sich einfach. Er setzt sich hin und sorgt für Ruhe. Und dann lädt er alle anderen ein, das auch zu tun. Alle setzten sich. Damals am Berghang. Und dann ist da ein Kind mit seinen fünf Broten, und die nimmt er und dankt Gott für diese Brote. Und dann reicht er Stück für Stück an alle weiter.
Das ist der Anfang des Wunders. Der Dank für fünf kleine Brote, die eigentlich wie ein Tropfen auf den heißen Stein sind angesichts der Fülle derer, die Hunger haben und Brot brauchen. Und aus dem Dank folgt das Teilen und Weitergeben.
Ein Wunder ist wie eine Bushaltestelle hatte Jörg Zink gesagt. Heute an diesem 31. Juli ist der Tag der Lebensmittelvielfalt. Aus rund 170.000 verschiedenen Lebensmitteln können wir auswählen, was uns schmeckt. Das schreibt der Lebensmittelverband, der diesen Tag ins Leben gerufen hat. 170.000 Lebensmittel. Die Vielfalt an den Theken der Supermärkte kann einen erschlagen. Und vielleicht hat sie dazu beigetragen, dass wir das Wichtigste oft vergessen. Den Dank. Den können wir bei dem Wunder, das Johannes beschreibt, wieder entdecken. Jesus dankt für die kleinen Brote. Mit diesem Dank beginnt das Wunder, bei dem am Ende alle satt werden. Am Ende kann es für alle reichen. Das gilt bis heute. Denken wir also ans Danken bei der nächsten Mahlzeit.
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Heller als Licht
Cornelia Götz, Dompredigerin - 27.07.2023
Auf der Suche nach einem irgendwie freundlichen Text – es ist Sommer und Ferien und überhaupt, wie ist das mit der Leichtigkeit des Seins? - finde ich einen leuchtend gelben Gedichtband im Schrank „Heller als Licht“ – Biblische Gedichte von Andreas Knapp.
Wenn das nicht für einen hellen Abendsegen taugt.
Aber so leicht ist es nicht und über das Gedicht zum Evangelium dieser Woche – der Geschichte von der Speisung er 5000 - kann ich nicht einfach wegblättern. Ich fühle mich gefunden. Eben weil es zu dieser Woche zu gehört, weil die Zeitungen von Lebensmittelpreisen und Weizenembargo schreiben.
Also lese ich:
„zwölf körbe / hätten eigentlich / ausreichen sollen / um alle satt zu machen / aber ein paar raffer / rissen alles an sich / und für die große / mehrheit der menschen / blieben am ende nur / fünf brote / und zwei fische“
Und wir – die wir zu den Privilegierten gehören, die genug Brot haben aber davon allein auch nicht leben können - bleiben immer weiter wunderbedürftig, angewiesen darauf, endlich zu glauben, dass für uns gesorgt ist.
Das geschieht manchmal so prompt und unerwartet, denn das Gedicht auf der Nebenseite, beschenkt mich und uns dann doch mit einem sanften Gedanken:
„sturm wirbelt / türmt die wogen / peitscht die see / alle stricke reißen / schiffe kentern / gnadenlos
du aber schläfst / im auge des orkans / mitten im seesturm / oben verankert/ wiegst dich in gott / gebettet in gnade.“
So einfach.
Gebettet in Gnade.
Denn – und dann fällt mir die Jahreslosung wieder ein: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
In und zwischen allem – den traurigen Wahrheiten, den dunklen Wolken, den Sonnenflecken, den hellen Abenden.
Jetzt.
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Betrauerbarkeit
Cornelia Götz, Dompredigerin - 26.07.2023
Neulich abends saß ich im Universum und sah Burghart Klaußner dabei zu, wie er von Caroline Peters verliebt wurde. Währenddessen rumpelte es immer wieder. Im Film gab es nichts, was dafür eine Erklärung geliefert hätte und auch das Wetter draußen hielt ruhig. Das Wummern und Rütteln kam, wie sich später herausstellte, aus dem anderen Kinosaal. Dort lief „Oppenheimer“.
Im Hintergrund einer bezaubernden Sommergeschichte wird eine Waffe auf den Weg gebracht. Zwei Welten die nichts miteinander zu tun haben.
War das die eigentlich Wahrheit des Kinoabends?
Christopher Nolan erzählt in „Oppenheimer“ wie die Atombombe in Los Alamos entwickelt, getestet und schließlich über Japan abgeworfen wurde. In einem Parallelstrang werden die Zuschauer Zeugen einer späteren Anhörung Oppenheimers.
Wir haben nach dem Film heftig diskutiert. Wie konnte es sein, dass man eine Waffe entwickelte, die die Gefahr barg, dass sich die Atmosphäre entzündete und trotzdem meinte, das Risiko eingrenzen und die Opferzahl einschätzen zu können – allein aus der Detonationskraft. Strahlung, Hitze ??? Keine Idee.
Was heißt das überhaupt? Opferzahl einschätzen?
Sind 30 000 vertretbar? Oder 50 000? Zusammen oder pro Stadt?
Natürlich erzählt der Film von Skrupeln und Debatten unter den Wissenschaftlern, von Rechtfertigung. Man würde den Nazis zuvorkommen. Die Bombe wäre in jeder anderen Hand besser aufgehoben. Der Abwurf auf Japan würde diesen Kriegsgegner ausschalten und Hunderttausenden amerikanischen Soldaten das Leben retten. Und dann ist da noch der Antikommunismus…
All das illustriert nicht nur Debatten um Waffenlieferungen und die mutmaßliche Legitimität ihres Gebrauches. Es ist auch ein Beispiel dafür, was die amerikanische Sozialethikerin Judith Butler in ihrem jüngsten Buch zur „Macht der Gewaltlosigkeit“ die ungleiche Betrauerbarkeit nennt. Wenn ich den unbekannten Fernen, die namenlosen Tausende, nicht betrauern kann, will oder werde – ganz im Gegenteil zu meinem Nächsten, den ich kenne vielleicht sogar liebe, von dem ich ein Bild habe und der zu mir, meiner Gruppe oder meinem Volk gehört, dann messe ich dem Leben der Nahen und der Fernen ungleichen Wert zu, dann kann ich es aushalten, dass irgendwo Menschen getötet werden – mit den Waffen, die wir freigeben …
Mithin ohne Gleichheit gibt es keine Gewaltlosigkeit.
Dann hängt sie nur am Kreuz.
Darum erinnert das Friedengebet von Coventry an die Gleichheit der menschen und die dringende Vergebungsbedürftigkeit für alle unsere Unterscheidungsversuche.
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Nur ein Sack
Cornelia Götz, Dompredigerin - 25.07.2023
Vor vielen Jahren träumten unsere – damals halbwüchsigen - Kinder vom Urlaub am Meer mit Pool und coolen Hotels. Wir blätterten also in gedruckten! Katalogen und schnauften angesichts der Preise – bis mein Mann irgendwann sagte: da können wir auch gleich nach Florida fliegen. So kam es. Die Reise wurde gebucht. Wir träumten von den Keys und Sanibal Island und dann sank die Bohrinsel deep water horizon. Meer und Strände waren verpestet und ölverschmiert und wir mussten umbuchen.
So kam es, dass wir von Miami nach Norden fuhren und bei weitem mehr über Amerika lernten als wir das ursprünglich vorgesehen hatten.
Eines Tages schlichen wir bei brütender Hitze unter Virginiaeichen über eine alte Plantage. Sie endete an einem ehemaligen kleinen Hafen, der seinerzeit ein prosperierender Sklavenmarkt war. Es gab einige Hütten zu sehen und ein winziges Museum. Michelle Obama, eben gerade First Lady geworden, hatte es als eine ihre ersten Amtshandlungen eingeweiht.
Ich sehe uns noch in dem stickigen kleinen Raum stehen und übersetzen.
Auf einem Holztisch lag ein Sack, ich weiß nicht mehr ob es ein kaffee-, reis- oder Baumwollsack war. Ein Kind kleines Mädchen war mit diesem Sack verkauft worden. Seine Mutter, die ihr Kind hergeben musste, hatte in den Sack die wenigen Habseligkeiten des Kindes gepackt und ihren Namen samt einer Liebeserklärung in den groben Stoff gestickt.
Das Kind sollte wenigstens wissen, dass es eine Mutter hatte und dass diese Mutter es liebte und immer vermissen würde.
Mehr brauchte es nicht, damit einem – und unseren behüteten Kindern mit Wucht – der Schreck über das grausame Unrecht der Sklaverei in die Knochen fuhr.
Heute habe ich gelesen, dass der republikanische Präsidentschaftskandidat Ron DeSantis den Lehrplan in Florida anpassen möchte. Schulkinder aller Jahrgänge sollen lernen, dass Sklavinnen und Sklaven nicht nur ausgebeutet wurden, sondern auch besondere anerkannte Fertigkeiten besaßen und sie nutzen konnten. Vom Reisanbau verstand in der Gegend beispielsweise niemand etwas bis die kundigen Afrikaner „importiert“ wurden.
Man schluckt schwer. Erst recht, bei der Begründung für diese Forderung: Floridas Kinder sollten zukünftig kein schlechtes Gewissen wegen ihrer Hautfarbe haben müssen.
Noch aufgeschlagen liegt auf meinem Schreibtisch Publik Form. Ahmad Milad Karimi erzählt von unverfügbaren Nähe zwischen Eltern und Kindern geteiltem Leid. Er erinnert, dass Jakob sein Augenlicht verlor als er von seinen Söhnen erfuhr, dass Josef von einem wilden Tier zerrissen worden sei. Wir wissen, dass sie den kleinen Bruder in einen ausgetrockneten Brunnen geworfen hatten. Es war der Weg in die Sklaverei. Und beide, Vater und Sohn, erlebten absolute Dunkelheit.
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Krumm sitzen
Cornelia Götz, Dompredigerin - 24.07.2023
In einem Hörbuch lernt eine Diplomatin von ihrer Hausangestellten, dass es ein türkisches Sprichwort gäbe: „Sitz krumm, sprich gerade!“
Ich weiß nicht, ob es dieses Sprichwort wirklich gibt und wenn, ob es richtig übersetzt ist. Es ist jedenfalls das ganze Gegenteil dessen, was ich früher zu hören bekam: „Sitz gerade, sprich deutlich!“
Das krumme Rumgehänge, womöglich noch kippelnd, war meinen Eltern – und oft auch Lehrern – ein Greul. Ohne Körperspannung bliebe auch der Geist schlaff. Die Aufforderung zur klaren Sprache hingegen zielte auf die Artikulation und im konkreten Fall gegen das verwaschene singende Sächsisch – was nicht heißt, dass politische und charakterliche Haltungsfragen keine Rolle spielten. Im Gegenteil – der gerade Rücken wurde da gleich mit sinnbildlich verstanden.
Trotzdem gefällt mir das „Sitz krumm, sprich gerade!“
Es ist irgendwie menschlich. Wenn wir etwas aussprechen müssen, was uns schwer fällt, wenn es einen hohen Preis hat, zu seiner Meinung zu stehen, wenn man der Mehrheit nicht nach dem Munde reden will, dann kostet das Kraft, dann hinterlässt das Spuren, dann kann es schon sein, dass man krumm sitzt, gar nicht anders mehr kann…
Und mich erinnert die mutmaßlich türkische Weisheit an den Theologen Helmut Gollwitzer und sein Buch „Krummes Holz – aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens.“
Der Mensch ein „krummes Holz“. Dieses Bild hatte Immanuel Kant vor zweihundertfünfzig Jahren in Königsberg gefunden. Kant schrieb: „Aus so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts gerades gezimmert werden.“
Vielleicht. Aber aufrecht gehen, gerade reden – das geht schon. Helmut Gollwitzer tat das und – so heißt es in einem Nachruf zu seinem 25. Todestag: „Er polarisierte wie kaum ein anderer deutscher Theologe im 20. Jahrhundert: Helmut Gollwitzer opponierte gegen das NS-Regime, ließ Rudi Dutschke bei sich wohnen und besuchte RAF-Terroristinnen im Gefängnis…“ 1938 schrieb er in einer Predigt und wer weiß wie krumm sein Rücken beim Schreiben gewesen sein mag: „Es steckt ja in uns allen, dass man erleben kann, wie biedere Menschen sich auf einmal in grausame Bestien verwandeln; wir sind alle daran beteiligt, der eine durch die Feigheit, der andere durch die Bequemlichkeit, die allem aus dem Wege geht, durch das Vorübergehen, das Schweigen, das Augenzumachen, durch die Trägheit des Herzens.“
Download als PDF-Datei Maria Magdalena
Maria Magdalena
Heiko Frubrich - 22.07.2023
Wenn Sie schon einmal in Paris waren, werden Sie sie bestimmt besichtigt haben, die Kirche La Madeleine, diesen an einen römischen Tempel erinnernden Bau aus dem 18. Jahrhundert. So untypisch die Architektur für eine christliche Kirche ist, so untypisch war auch die Frau in ihrer Zeit, der die Kirche gewidmet ist: La Sainte Marie Madeleine, die Heilige Maria Magdalena. Heute ist ihr Gedenktag.
Sie war untypisch, weil sie nicht in das den Frauen in der Gesellschaft zu Jesu Zeiten zugedachte Rollenbild passte. Maria Magdalena war selbstbewusst, vermögend, tapfer und galt ganz sicher als mindestens unangepasst, wenn nicht gar als ein Enfant terrible ihrer Zeit.
Alle vier Evangelien berichten von ihr. Sie erzählen, dass sie Jesus aufsuchte, als sie krank war und er sie von sieben Dämonen befreite. Daraufhin hatte Maria Magdalene sich ihm angeschlossen, zusammen mit weiteren Frauen, die Jesus begleiteten und für seinen Unterhalt sorgten. Maria Magdalena ist die Frau mit schlechtem Ruf, von der Lukas berichtet, die Jesus mit ihren Tränen die Füße benetzt und sie mit ihren Haaren trocknet. Und sie bleibt an Jesu Seite bis zu seinem Tod am Kreuz, als ihn nahezu alle anderen seiner Jünger verlassen haben.
Offensichtlich war Maria Magdalena bereit, für ihre Überzeugungen einzutreten, auch, wenn sie sich damit gesellschaftlich ins Abseits stellte oder sogar Gefahr lief, als Jüngerin Jesu, so wie er auch, verhaftet zu werden. Sie hat etwas riskiert, weil sie wusste, dass es die richtige Sache war, die dieser Jesus von Nazareth vertrat.
Absolut bemerkenswert finde ich die Begegnung Marias mit dem Auferstandenen, von der der Evangelist Johannes berichtet. Maria Magdalena will Jesu Leichnam salben, doch sie findet nur das leere Grab. Im Garten begegnet sie daraufhin einem Mann, von dem sie meint, dass es der Gärtner sei. Tatsächlich ist es der auserstandene Jesus Christus, den sie jedoch nicht gleich erkennt. Erst als er sie mit Namen anspricht, wird ihr klar, wem sie tatsächlich begegnet ist.
Und nun beauftragt Jesus eben jene Maria von Magdala mit folgendem: „Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ Und Maria geht und verkündigt den Jüngern: »Ich habe den Herrn gesehen«, und was Jesus noch zu ihr gesagt hat.
Maria Magdalena erhält von Jesus Christus höchstpersönlich den ersten Predigtauftrag überhaupt. Sie soll den Jüngern die frohe Botschaft von seiner Auferstehung verkündigen, was sie dann auch tut. Der erste Mensch im christlichen Verkündigungsdienst war also eine Frau! Schönen Gruß nach Rom und an alle, die immer noch mit Frauen im Pfarrdienst hadern.
Ein Theologiestudium hatte Maria Magdalena im Übrigen nicht, was uns allen Motivation sein könnte, so wie sie aus dem eigenen Erleben und dem eigenen Erfahren von Gott und den Glauben zu erzählen. Was es dazu braucht, sind Begeisterung und ein wenig Mut und das Gefühl im Herzen, dass der Choral ausdrückt, den wir heute in so vielerlei Bearbeitungen zu hören bekommen: Jesu, meine Freude! Amen.
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20. Juli 1944
Cornelia Götz, Dompredigerin - 20.07.2023
Über Donnerstag, dem 20. Juli 1944, dem Tag des gescheiterten Attentates auf Adolf Hitler, hieß es in den Herrnhuther Losungen aus dem 20. Psalm: „Jene verlassen sich auf Wagen und Rosse, wir aber denken an den Namen des Herrn, unseres Gottes.“ Und dazu aus dem Römerbrief: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“
Muss das denjenigen, die damals wussten, was für diesen Tag auf dem Spiel stand, welche ungeheuerlichen Hoffnungen sich mit dem geheimen Vorhaben verbanden, nicht Mut gemacht haben?
Man hatte schwer um die Möglichkeit des Tyrannenmordes gerungen.
Nun schien die Losung alles zu deuten:
Mögen die einen auch die Gewalt des gesamten Machtapparates zur Verfügung haben, wir haben dennoch die größere Kraft, den tieferen Grund.
Wer kann angesichts dieses Regimes des Bösen gegen uns sein, wenn wir wagen, es zu zerstören???
Wir wissen, wie es ausging …
War Gott selbst nicht auf der Seite der Widerständler?
Es muss so bitter gewesen sein.
Einen Tag später schrieb Dietrich Bonhoeffer an seinen Freund Eberhard Bethge aus der Gefängniszelle, deren Mauern für ihn mit dem Scheitern des Attentates erheblich dicker geworden waren:
„Ich denke, Du wirst in Gedanken so oft und so viel hier bei uns sein, dass Du Dich über jedes Lebenszeichen freust…“ und er schließt: „wie sollte man bei Erfolgen übermütig oder an Misserfolgen irre werden, wenn man im diesseitigen Leben Gottes Leiden mitleidet? Du verstehst, was ich meine, auch wenn ich es nur so kurz sage. Ich bin dankbar, dass ich das habe erkennen dürfen und ich weiß, dass ich es nur auf dem Wege habe erkennen können, den ich nun einmal gegangen bin. Darum denke ich dankbar und friedlich an Vergangenes und Gegenwärtiges.“
Und dann folgt ein sehr anrührender Satz:
„Vielleicht wunderst Du dich über einen so persönlichen Brief. Aber, wenn ich einmal so etwas sagen möchte, wem sollte ich es sonst sagen?“
Es ist nur ein klitzekleines Aufscheinen des verletzlichen Menschen, der dem Rad in die Speichen gefallen war und nun im Gefängnis sitzt, der liebt und geliebt wird, der noch nicht alt ist und leben will … - der wohl ahnt, dass er nicht mehr lebend hinauskommen wird. Es ist ein Aufblitzen wider die Verklärung. Vielleicht haben wegen dieser kleinen Sätze Dietrich Bonhoeffers Briefe nicht nur die unmittelbaren Adressaten erreicht, sondern seither zahllosen Menschen Mut gemacht und Orientierung gegeben.
Ein ganzes Menschenleben später fällt der 20. Juli heute wieder auf einen Donnerstag. Dieses Mal hören wir: „Dein Glaube hat Dir geholfen. Geh hin in Frieden!“
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Cornelia Götz, Dompredigerin - 19.07.2023
Im achten Gebot heißt es: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden.“
Wir neigen dazu, das Gebot zu verkürzen im Sinne von: „Du sollst nicht lügen.“
Aber Martin Luther präzisiert in seinem großen Katechismus: „Wir sollen Gott lieben und fürchten, dass wir unseren Nächsten nicht fälschlich belügen, verraten, afterreden oder bösen Leumund machen, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“
Mithin: vermutlich ist dies Gebot erheblich viel schwerer einzuhalten, als wir uns eingestehen wollen. Wie schnell hat man etwas weitererzählt, das man nur vom Hören-sagen wusste. Überhaupt das Hören-sagen! Ganz harmlos hält es einen Mechanismus fest, der dafür sorgt, dass aus Gemutmaßtem – falsche? - Gewissheiten werden.
Korrigieren lässt sich das schwer, denn Gerüchte und Halbwahrheiten entfalten Eigenleben, bestärken, was man denken will und sind irgendwann nicht mehr zurückzuholen. Kleine lügen tun dann doch weh.
Wahrscheinlich kennen wir das alle und ahnen beschämt unserer Grenzen, erst recht dann, wenn wir einem Menschen Unrecht getan haben. Und weil wir das kennen, ahnen wir auch die Gefahr von Leerstellen, Verkürzungen, nach dem Munde reden – wider besseres Wissen.
Politisch genutzt wird daraus Populismus – wenn nicht Schlimmeres.
Solch ein – auf den ersten Blick harmloses - Beispiel habe ich am Montag in den Nachrichten gehört: „Kosten für Pflegeheime sind weiter angestiegen. Im ersten Jahr müssen Heimbewohner im Schnitt 2548 Euro pro Monat aus eigener Tasche zahlen - 348 Euro mehr als Mitte 2022.“
Gründe seien die steigenden Personalkosten.
Was wie eine nackte Tatsache daherkommt, schürt Angst und Neid, treibt Menschen denen in die Arme, die mit sogenannten „einfachen“ Wahrheiten Wählerstimmen sammeln.
Denn zur Wahrheit hätte gehört, dass dies nur aus eigener Tasche zahlen muss, wer es zahlen kann! Ich habe gerade eine Geschichte erlebt, in der ein Mensch dank der Sozialkasse seiner Stadt ohne finanzielle Sorge im Heim leben und sterben konnte … Es war eine gute Geschichte. Seine Frau hat das dankbar erlebt aber sie glaubt jetzt, dass für sie niemand sorgen wird.
Diese Halbwahrheit wird Nahrung beim Hören-sagen in Bussen und Wartezimmern finden. Einmal mehr ist verpasst worden, der Stadt Bestes zu suchen.
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Erinnerungssteine
Jakob Timmermann, Pfarrer - 17.07.2023
Palmen? Azurblaues Wasser? Schnneweißer Strand? Brauche ich nicht. Denn ein Strand ohne Steine ergibt in meinen Augen überhaupt keinen Sinn. Wenn ich am Strand bin, dann brauche ich Wind, der meine Gedanken durchpustet. Dann brauche ich das Rauschen der Wellen, das den Lebenslärm ein bisschen dämpft. Und dann brauche ich Steine unter den nackten Füßen.
Denn jedes Mal, wenn ich am Meer bin, suche ich nach besonderen Steinen. Steine die anders sind: besonders glatt, besonders bunt, besonders aussagekräftig. Und dann nehme ich einen solchen Stein mit und stecke ihn in meine Hosentasche. Eigentlich ist das nur eine kleine Geste. Wenn man sich das aber mal genauer anschaut, dann ist das ein ziemlich heiliger Moment.
Da liegen diese unzähligen Steine am Strand. Es gibt sie schon seit Millionen Jahren. Sie haben einen tausende Kilometer langen Weg hinter sich. Wurde geformt und zerrieben, gespalten und glattgeschliffen. Und doch sind es so viele, dass die meisten Steine irgendwann zu Sand werden und kein Mensch sie weiter beachtet. Doch in dem Moment, wo ich mich herunterbücke und diesen einen Stein aufhebe, wird er herausgehoben aus der Bedeutungslosigkeit. Er bekommt von mir eine Bedeutung zu gesprochen.
Er wird zum Erinnerungsstein. Denn aus jedem Strandurlaub nehme ich einen Stein mit. Stecke ihn in meine Hosentasche und da bleibt er dann ein paar Wochen. Und immer wenn ich nach meinem Schlüssel krame oder nach einem Taschentuch, dann streifen meine Finger diese Steine. Und dann werde ich kurz daran erinnert, dass es mir vor gar nicht so langer Zeit mal richtig gut ging. Weil ich meine Gedanken in den Wind gehalten habe. Weil das Rauschen der Wellen mich für einen Moment ganz vereinnahmt hat. Und weil mich da kleine pieksige Steine unter meinem Fuß daran erinnert haben, dass ich lebe.
In der Bibel gibt es die Geschichte von Jakob, der einen Traum hat. Er träumt von einer Himmelsleiter, an der Engel auf und nieder fliegen. Und als er nach diesem Traum erwacht, nimmt er einen Stein, salbt ihn und sagt: Vor diesem Ort muss man Ehrfurcht haben. Hier ist gewiss ein Haus Gottes und ein Tor zum Himmel.
Der Stein in meiner Hosentasche und der Stein, den Jakob da aufstellt – beide erinnern uns daran: Die Welt ist voller „Tore zum Himmel“!
Vergesst das nicht!
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Demut ist keine Schwäche.
Heiko Frubrich, Prädikant - 14.07.2023
Am vergangenen Sonntag wurde in unseren Kirchen eine Passage aus einem Brief gelesen, den der Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth geschrieben hat. In der jungen christlichen Gemeinde dort, war ständig irgendwie Feuer unterm Dach. Es wurde gezankt und gestritten um das rechte Glaubensverständnis, über die richtige Auslegung dessen, was man von Jesus und seinem Leben wusste, über die Art, Gottesdienst und Abendmahl zu feiern und, und, und.
Paulus hatte richtig Arbeit, um zu verhindern, dass sich die Gemeinde spaltete. Und in diese aufgeheizte Stimmung schreibt er den Gemeindegliedern nun folgenden Satz: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft.“
Das war auch so ein Thema: Jesus Christus sollte nun der langerwartete Retter und Erlöser sein. Doch einige in Korinth sagten, dass man doch mit dieser Story keinen Hund hinter dem Ofen hervorlockt. Wie kann es denn sein, dass einer, der die ganze Welt retten soll, einsam und gedemütigt ein so jämmerliches Ende am Kreuz findet. Deutlicher und offensichtlicher kann doch eine Niederlage gar nicht ausfallen, meinten sie.
Doch Paulus hält dagegen indem er sagt: Löst euch mal von euren weltlichen Vorstellungen. Ihr wollt so schlau sein und seid doch so gefangen in eurem engen Denken. Die Weisheit der Welt hat Gott zur Torheit gemacht. Denn Jesus Christus, der nach menschlicher Beurteilung so hilflos und so schwach war, er hat unsere Sünden getilgt, den Tod besiegt und ist auferstanden.
Wo Gott ins Spiel kommt, müssen wir uns auf Überraschungen einstellen. Damit tun wir aufgeklärten und ach so schlauen Menschen des 21. Jahrhunderts uns mitunter ziemlich schwer. Wir fühlen uns sicher, wenn wir alles unter Kontrolle haben. Doch wir haben eben niemals alles unter Kontrolle und vor Gott schonmal gar nicht.
Demut ist angesagt. Manch einer versteht das als ein Eingeständnis von Schwäche. Aber was ist Negatives daran, sich demütig einem Gott anzuvertrauen, der es gut mit uns meint, der uns immer wieder zuruft: „Fürchte dich nicht!“, der uns zu sich einlädt, wenn wir mühselig und beladen sind und dessen Liebe auch mit unserem Tod nicht aufhört?
Gleich lädt er uns im Abendmahl an seinen Tisch und wir dürfen zu ihm kommen, so wir sind, mit all unseren Ecken und Kanten, unseren Stärken und Schwächen, unseren hellen und dunklen Seiten. Er sieht in unsere Herzen, kennt uns besser als wir uns vielleicht selbst kennen und er hat uns lieb. Wir hätten es schlechter treffen können. Amen.
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Heide Simonis
Heiko Frubrich, Prädikant - 13.07.2023
Sie war die erste deutsche Ministerpräsidentin, sie war beliebt, sie war kunstinteressiert und kunstschaffend und sie war bekannt für ihre Hüte: Heide Simonis aus Schleswig-Holstein, gestern ist sie gestorben. Zum Studium war die gebürtige Rheinländerin nach Kiel gekommen und dortgeblieben, hatten zunächst in der Berufsberatung gearbeitet bis sie dann hauptberuflich in die Politik ging. Sie war Finanzministerin unter Björn Engholm und ab 1993 selbst Ministerpräsidentin.
Zweimal wurde sie in ihrem Amt bestätigt und dann 2005 nach einer gewonnenen Landtagswahl von einem bis heute unbekannten Landtagsabgeordneten nicht gewählt. Sie scheiterte in insgesamt viel Wahlgängen – das Ende ihrer politischen Karriere.
Selten ist ein Mensch auf offener Bühne so gedemütigt worden und das auch noch von jemandem, der ihr hinterher seine eigene Bestürzung versichert hat. Selten war das Ende eines Lebensplanes so überraschend und so brutal zu beobachten, wie in dieser historischen Landtagssitzung vom 17. März 2005.
Wie geht man mit so etwas um? Das, was Heide Simonis passiert ist, kann jede und jeden von uns treffen, wahrscheinlich nicht so öffentlichkeitswirksam, dennoch aber genauso heftig und grundlegend. Schwere Krankheit, der Verlust des Arbeitsplatzes, das Scheitern einer Beziehung, der Tod eines geliebten Menschen all das können solche Ereignisse und Erlebnisse sein, die ein Leben vollkommen auf den Kopf und vieles, was stabil schien, in Frage stellen.
In solchen Lebensphasen brauchen wir etwas, das uns trägt. Das können liebe Menschen sein, die uns begleiten und denen wir uns anvertrauen können. Das kann aber auch unser Glaube sein, unser Vertrauen auf einen Gott, der uns sieht und der es am Ende gutmachen wird, auch mit uns.
Ob Heide Simonis neue Kraft im Glauben gefunden hat, weiß ich nicht. Doch sie hat sich aus der Politik komplett zurückgezogen und, wie sie selber sagte, mehrere Monate gebraucht, um das, was ihr passiert war, in ihr Leben einzusortieren. Ihr Engagement für Menschen hat sie fortgeführt – als ehrenamtliche Vorsitzende von UNICEF-Deutschland und in einer Reihe weiterer sozialer Einrichtungen.
Vor einigen Jahren hat sie gesagt: „Der Pastor wird an meinem Grab sagen: Hier ruht die Frau, die viermal nicht gewählt wurde.“ Ich denke, ihm wird zu dieser tapferen, engagierten und starken Frau noch etwas mehr einfallen. Amen.
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Kontraste
Heiko Frubrich, Prädikant - 12.07.2023
Tapetenwechsel braucht der Mensch! Einfach mal etwas Anderes sehen, etwas Neues erleben, etwas Unbekanntes ausprobieren. Unser Leben wird durch Abwechslung interessanter und spannender, es wird durch Kontraste bunter und attraktiver. Nicht zuletzt deshalb setzen wir Farbakzente in unseren Wohnungen, hängen ab und zu mal die Bilder an unseren Wänden um, fahren in den Urlaub, oder, oder, oder.
Kontraste bereichern, aber manchmal sind sie kaum auszuhalten. In der vergangenen Woche wurden im Bundestag zwei Gesetzesinitiativen zur Neuregelung der Sterbehilfe in unserem Land diskutiert. Es war eine leise Debatte ohne hämische Zwischenrufe oder höhnisches Gelächter. Die Abgeordneten fühlten sich vom Fraktionszwang befreit wahrnehmbar nur ihrem Gewissen verpflichtet. Und dass am Ende keiner der zu entscheidenden Anträge eine Mehrheit bekam, ist vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass sich unser Parlament diese weitreichende und grundlegende Entscheidung nicht leicht macht. Gut so!
Nahezu gleichzeitig wurde von vielen politisch und gesellschaftlich engagierten Menschen eine öffentliche Diskussion darüber geführt, ob denn die Lieferung und der Einsatz von Streubomben in der Ukraine moralisch und ethisch vertretbar sei. Damit muss man erst einmal klarkommen. Auf der eine Seite wird mit großer Ernsthaftigkeit über den Schutz von Würde, Leben und selbstbestimmtem Sterben geredet und auf der anderen Seite versucht, den Einsatz von geächteten Waffen zumindest soweit zu rechtfertigen, dass ein unbeteiligtes Zuschauen gerade noch vertretbar erscheint.
Aus christlicher Perspektive ist eines ganz klar: Jeder Mensch und jedes Menschenleben sind unendlich wertvoll, absolut schützenswert und nicht verfügbar. Gott ist die einzige Instanz, die berechtigt ist, über Leben und Tod zu entscheiden. Und dennoch stellt sich die Frage, ob man einen todkranken Menschen zwingen darf, sein Leiden bis zum Tod auszuhalten. Und es stellt sich die Frage, ob ein konsequenter Pazifismus mehr wiegt, als der zu Unrecht überfallenen Ukraine bei ihrer Verteidigung auch mit Waffen zu helfen.
Beide Themen führen uns schnell in ein Dilemma, aus dem herauszufinden, kein Spaziergang ist. Doch auch, wenn ich den Standpunkt vertrete, dass die militärische Unterstützung der Ukraine gerechtfertigt ist, ist damit nicht alles erlaubt. Es gibt selbst in einer solchen völkerrechtlichen Ausnahmesituation rote Linien, die die Staatengemeinschaft festgelegt hat. Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen gehört dazu und eben auch die Verwendung von Streumunition.
Streumunition kann nicht unterscheiden zwischen militärischen und zivilen Zielen. Es gibt massive Langzeitgefahren durch Blindgänger und somit eine unkalkulierbare Gefahr auch noch Jahre und Jahrzehnte nach Kriegsende. Nicht zuletzt deshalb ist diese Waffengattung von weit über 100 Staaten geächtet.
Ob wir es wollen oder nicht, auch wir spielen eine Rolle in diesem Krieg zwischen Russland und Ukraine. Ich will und kann nicht beurteilen, wie viel Schuld wir durch das, was wir tun, aber auch durch das, was wir nicht tun, auf uns laden. Doch wir nehmen für uns in Anspruch, auf der Seite der Guten zu stehen. Das sollten wir bei allen Entscheidungen bedenken. Amen.
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Gnade kostet nichts
Heiko Frubrich, Prädikant - 11.07.2023
Bei mir war neulich im Urlaub eine Schraube locker – also an meiner Brille, um genau zu sein. Ich bin damit zum Optiker gegangen, der das dann flink wieder in Ordnung gebracht und auch noch diese beiden Nasenpads ausgetauscht hat. Die seien nicht mehr so ganz in Ordnung gewesen, meinte er, gab mir die Brille zurück und wünschte mir einen schönen Tag. Als ich fragte, was er für seine Mühe bekäme, sagte er: Nichts, gern geschehen!
Der Optiker kannte mich nicht und konnte auch nicht davon ausgehen, dass sich aus der kleinen Reparatur diverse Folgeaufträge ergeben würden. Natürlich, das Material und die Arbeitszeit, die er investiert hat, lagen im überschaubaren Rahmen und doch war ich angenehm überrascht über diesen Service und habe mich darüber gefreut, dass es zumindest in Optikerkreisen offenbar Leute gibt, die etwas für ihre Kunden tun, ohne gleich die Hand dafür aufzuhalten.
Das widersprach ein wenig meinen Erfahrungen, und auch dem, was wir sonst so in unserem Leben gewöhnt sind. Denn sehr vieles basiert auf Leistung und Gegenleistung. Eine Hand wäscht die andere, das ist so ein Sprichwort, dass das Ganze gut beschreibt. Ich gehe arbeiten und bekomme dafür Lohn. Von dem zahle ich in die Rentenversicherung ein, die dann meinen Ruhestand finanziert. Ich mache meine Wochenendeinkäufe im Supermarkt und bezahle dafür an der Kasse. Ich helfe meinem Nachbarn im Garten und er lädt dafür am Abend zum Grillen ein.
In diesem Spiel aus Leistung und Gegenleistung fühlen wir uns sicher, es ist eine von Kind an einstudierte Übung und sie stellt uns innerlich auch irgendwie zufrieden, denn man will ja niemandem etwas schuldig bleiben. Und so habe ich beim Optiker auch gerne etwas im Kaffeekassensparschwein gelassen, das auf dem Tresen stand.
Über dieser Woche heißt es aus dem Epheserbrief: Aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es. Ein spannendes Bibelwort, wie ich finde, denn es macht uns deutlich, dass unser verinnerlichtes System aus Leistung und Gegenleistung vor Gott nicht funktioniert. Denn Gott gibt ohne Gegenleistung, er gibt aus Gnade. Und wir müssen uns eingestehen, dass wir das einfach mal so zu akzeptzieren haben. Wir können uns Gottes Gnade nicht verdienen, nicht erarbeiten oder gar kaufen. Wir können sie uns nur schenken lassen.
Höher, schneller, weiter spielen vor Gott keine Rolle und ganz sicher auch nicht die im Laufe des Lebens gezahlte Kirchensteuer. Gott beschenkt uns mit seiner Gnade, einfach weil wir sind, Gotteskinder, die er gewollt hat, die er annimmt, wie sie sind, und die er liebt – Sie und Euch und mich. Was für eine beruhigende Erkenntnis! Amen.
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Hilfe annehmen
Heiko Frubrich, Prädikant - 10.07.2023
Ich bin momentan mehr als sonst auf Hilfe angewiesen. Wenn Sie auch schon einmal mit Krücken oder bei größeren Entfernungen mit dem Rollstuhl unterwegs waren, werden Sie diese Erfahrung ebenfalls gemacht haben. Selbst einfachste Dinge werden unmöglich – den Teepott aus der Küche ins Arbeitszimmer tragen funktioniert einfach nicht mehr und wenn man dann meint, mit Hilfe von Rucksack und Jutebeutel alles mühsam zusammengesammelt zu haben, klingelt das Handy und ich stelle fest, dass das noch auf dem Wohnzimmertisch liegt – weit, weit weg.
Ich habe einen lieben Menschen an meiner Seite, der mir bei allem hilft und wir waren verrückt genug, eine Woche nach Helgoland zu fahren. Es waren wunderbare Tage und doch ist mir dort aufgefallen, wie schwer ich mich anfangs damit getan habe, die Hilfe von anderen Menschen anzunehmen. Das ging los beim Einsteigen in das Schiff, wo mir jemand von der Besatzung die steile Gangway hinaufgeholfen hat und setzte sich während der Woche in so vielen kleinen Situationen fort.
Die Hilfsbereitschaft der Menschen um mich herum war wirklich rührend und bewegend und doch wäre ich am liebsten, so wie sonst auch, alleine aufs Schiff gegangen, hätte meinen Teller gern alleine vom Frühstücksbuffet an unseren Tisch getragen und wäre mit meinem Partner gerne in der Abenddämmerung zur Langen Anna spaziert, anstatt mich im Rollstuhl chauffieren zu lassen.
Meine temporäre Hilfsbedürftigkeit hat mich dankbar und demütig gemacht, mir aber auch gezeigt, wie leicht es sich sagt: Mensch, lass dir doch helfen, und wie schwer es dann tatsächlich ist.
Und ich habe mich gefragt: Bin ich Gott gegenüber eigentlich genauso zurückhaltend, so stolz, so eitel? Kommt her zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken! So lädt uns Jesus Christus zu sich ein. Und ich frage mich mit den Erfahrungen der letzten Wochen im Hinterkopf: Habe ich das tatsächlich richtig gehört und verstanden?
Wie beladen muss ich mich fühlen, damit ich mich an Jesus wende? Reicht der kleine Alltagsärger, der mich nervt oder müssen es schon die großen Sorgen und Nöte sein, die drückende Verzweiflung und die beklemmende Hoffnungslosigkeit, die mich ins Gebet treiben? Ich weiß, dass Gott niemanden wegschickt und für alles ein offeneres Ohr hat. Und dennoch zögere ich in Manchem, mich ihm anzuvertrauen und anzunehmen, dass er mir die Last von den Schultern nimmt, auch wenn sie nur ganz klein ist.
Mir ist klargeworden, dass das Blödsinn ist und ich dachte, ich erzähle Ihnen das einfach mal – vielleicht betrifft Sie es ja auch. Amen.
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Rosen und Munition
Cornelia Götz, Dompredigerin - 08.07.2023
Gestern Abend hat mein Mann mir einen herrlichen Strauß Rosen mitgebracht.
Teerosen, gelblich-orangene, rote - es müssen alte Sorten sein. Sie duften. Aber schon am späteren Abend ließen sie die Köpfchen hängen und so habe ich es gemacht, wie ich es bei meiner Mutter gesehen habe. Eine Handbreit Wasser in die Wanne und die Blumen über Nacht hineingelegt, wirkt Wunder.
Heute Morgen habe ich sie dann tropfnass aus dem Wasser geholt - alle Köpfchen stehen wieder gerade. Und mich dabei ein bisschen geschämt: so viel Wasser für eine Handvoll Rosen. Einerseits. Und andererseits sind Blumen so teuer geworden. Die müssen doch wenigstens ein paar Tage schön sein.
Und schon war ich wieder bei meiner Mutter. In Karl-Marx-Stadt waren Blumengeschäfte voller Nelken, Chrysanthemen und Alpenveilchen.
Rosen, Tulpen, Gladiolen – Fehlanzeige.
An seltenen Frühlingstagen (rund um den internationalen Frauentag) gab es Fresien.
Ich erinnere mich, dass mein Vater zur Geburt meiner kleinen Schwester im Februar bis nach Zwickau fuhr, um eine schöne Blüte ins Krankenhaus mitbringen zu können. Es war ein Orchideenzweig. Er muss ein Vermögen gekostet haben - für meine schlechtbezahlten Eltern erst recht.
Blumen, das habe ich als Kind verstanden, sind eine ungeheure Kostbarkeit…
Jetzt - in Zeiten knapper werdenden Wassers - erst recht.
Ich war so versunken in meine Rosenbetrachtung, dass ich dem Radio nicht wirklich zuhörte. Es lief nebenher. Unwichtig in diesem Moment.
Dabei ging es um Streumunition…
Habe ich mich an den Krieg gewöhnt? Ist die entsetzliche Brutalität im Osten Europas normal geworden???
Der Braunschweiger Dichter Georg Oswald Cott, geboren 1931, er weiß viel von Krieg und Not, schreibt Gedichte, die so klein sind wie unser Leben und so groß auch. In einem heißt es: „… was wie Brände aussieht, sind die Feuerlilien - nur ein wenig Ablass, damit es weitergehen kann.“
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Mauern und Räume
Cornelia Götz, Dompredigerin - 07.07.2023
Eines der Lieder, die ich besonders mag, ist das englische „Die Kirche steht gegründet“ - „The church is ohne foundation“…
Das mag etwas damit zu tun haben, dass ich einige wenige Male in meinem Leben Festgottesdienste in der anglikanischen Kirche mitfeiern durfte. Kirchenmusik dort hat eine erstaunliche Feierlichkeit. Sie erhebt die Herzen weil sie so unverfroren groß daher kommt.
Aber ich mag das Lied auch deshalb, weil es uns nicht nur die Seele weitet, sondern eben auch gründet.
Denn es geht bei der Kirche gar nicht um die Großartigkeit der Bauten oder der liturgischen Performance, es geht überhaupt nicht um die sichtbare Kirche und ihre gefährliche Machtförmigkeit, sondern vielmehr um das Fundament - um Jesus Christus, seine gute Nachricht, seinen Entwurf eines anderen besseren Lebens, seinen Ruf in die Nachfolge und nicht zuletzt sein Sterben und Auferstehen.
Manchmal vergisst man das.
Ich bin gestern Abend mit voller Wucht daran erinnert worden, als ich mir im Museum „Hinter Ägidien“ die Installation von Rita de Matos angesehen habe. Die junge Künstlerin hat den Dom dreidimensional gefilmt, geschnitten und verfremdet. Der Zuschauer bewegt sich dazwischen – fliegend wie ein Engel, schwerelos und körperhaft zugleich.
Der Dom schaut in dem einen Moment wie eine Ruine unter Vulkanasche oder ein übergroßes verwittertes Holzmodell ohne Dach und Fenster aus und wird im nächsten Augenblick ein Stern der Milchstraße, vollkommen und ewig.
Es springt einen an, dass diese Mauern nicht von alleine Gottes Haus sind, sondern durchgebetet werden müssen.
Erst wenn Mauern voller Dank und Klage, voller Musik, Atem und Kerzenruß stecken, erzählen sie etwas von Gottes Geschichte mit uns, von lebendigem Glauben. Erst wenn wir hier Gott die Ehre geben, erahnen wir seine Heiligkeit in der Atmosphäre des Raumes.
Das klingt zuletzt in einem erstaunlichen Sound durch den Dom.
Es ist ein Chor von christlichen Flüchtlingen, sind Rhythmen und Stimmen aus vielen Ländern. Passen sie hier rein? Sind sie fremd oder zu Hause? Beides. Gottes Sein ist im Werden.
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Unschuldig
Henning Böger, Pfarrer - 05.07.2023
Fast 33 Jahre hat Daniel Saldana aus Kalifornien gegen einen Albtraum gekämpft.
Im Jahr 1990 wurde er zu einer Gefängnisstrafe von 45 Jahren verurteilt. Mit einigen Mitverurteilten soll er auf Schüler einer Hochschule geschossen haben. Seit Beginn der Gefängnisstrafe beteuerte Daniel seine Unschuld. Niemand wollte ihm glauben.
Nur seine Familien hielt immer zu ihm.
Vor fünf Jahren dann gab einer der Mitverurteilten zu Protokoll, Daniel sei damals nicht dabei gewesen, als die Schüsse fielen. Das Protokoll existiert, aber es wurde von niemandem beachtet oder weitergeleitet. Erst im Februar dieses Jahres nahm eine Justizbehörde in Kalifornien davon Kenntnis. Und dann ging es schnell: Es kam zur Wiederaufnahme des Verfahrens. Zeugen und Mitverurteilte sagten erneut aus. Und es stellte sich klar heraus: Daniel Saldana war nie am Tatort. Der heute 55-Jährige hatte 33 Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen. Bei seiner Freilassung sagt er: „Es war ein Kampf, jeden Tag aufzuwachen in dem Wissen, dass du unschuldig eingesperrt bist."
Kann es etwas Schlimmeres geben, als unschuldig angeblich schuldig zu sein?
Wohl kaum. Obwohl Daniel jetzt eine hohe Entschädigung erhält, gibt ihm das keine Lebenszeit zurück. Er sei dankbar, am Leben zu sein, sagt er und freut sich auf seine Familie - und die sich auf ihn.
Mit dem Wort Schuld sollten wir sehr vorsichtig sein. Das lerne ich aus der Geschichte des Daniel Saldana. Es gibt Schuld, natürlich, und nicht jeder, der beteuert unschuldig
zu sein, ist es auch. Aber umgekehrt gilt: Nicht alle, die beschuldigt werden, sind auch schuldig! Selbst Gerichte und Sachverständige können irren, jahrzehntelang.
Dann bescheren sie Menschen wie Daniel einen Albtraum.
Es ist gut, dass wir einen Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten haben.
Das bewahrt vor Willkür und straft Schuldige. Es bewahrt aber nicht vor Irrtümern. Womöglich war das der Grund, warum Jesus mit jeder Verurteilung sehr zurückhaltend war. „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein", soll er gesagt haben. Ich höre
diesen Satz als ernste Bitte um Zurückhaltung bei jeder Art von Verurteilung. Vorwürfe sind schnell gemacht; ein genauer Einblick aber und ein Verstehen des Geschehenen erfordern Zeit und sind manchmal anstrengend. Aber weil wir selber wohl nie frei von Schuld sind, müssen wir uns diese Zeit des Überlegens und Abwägens nehmen.
Und schon beim leisesten Zweifel muss gelten: Im Zweifel für die Unschuld!
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Mariä Heimsuchung
Cornelia Götz, Dompredigerin - 01.07.2023
2. Juli – unsere Glaubensgeschwister feiern heute das Fest der „Heimsuchung Mariä“. Heimsuchung ist ein altes Wort und für die meisten von uns wird es eher problematisch besetzt sein. Wir hören darin einen Schicksalsschlag, etwas, das über uns kommt, dessen wir uns nicht wirklich erwehren können. Das kann auch ein überraschender Besuch, der uns unvorbereitet trifft, mit dem wir nicht gerechnet haben – der etwas in unserer Leben verändert.
So gehört könnte man meinen, dieser 2. Juli erinnerte an den Besuch des Engels Gabriel bei Maria. Aber verblüffender Weise zählt da der liturgische Kalender ziemlich genau: Mariä Verkündigung war Ende März. Auch das Gotteskind reift in neun Monaten heran.
Jetzt ist Maria schwanger. Die ersten drei Monate sind überstanden.
Nun beginnt eine gute Zeit. Es ist ein Staunen über den eigenen Körper und ein horchen auf das, was werden will. Noch ist man nicht schwerfällig oder riskant nah am Geburtstermin. So macht sich Maria auf, leichtfüßig und flink.
Die Bibel erzählt:
„Maria aber machte sich auf in diesen Tagen und ging eilends in das Gebirge zu einer Stadt in Juda und kam in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth. Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom Heiligen Geist erfüllt und rief laut und sprach: Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Und wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe.“
Gott setzt Menschen in Bewegung; darum wird in den alten Geschichten viel gelaufen. Abraham wandert mit seiner ganzen Familie in ein fremdes Land. Später läuft Jakob weit fort und wieder nach Hause. Josef geht nach Ägypten und irgendwann zieht sein ganzes Volk durch die Wüste.
Maria läuft.
Jesus und die Seinen werden wandern.
Sie alle erleben Begegnungen und grüßen sich, wenden sich einander zu, öffnen Häuser und Herzen. So schenkt Gott Beziehung, so beginnt zwischen seinen Menschen immer wieder etwas Neues. Die beiden Frauen hören das nicht nur. Sie spüren das körperlich. Das Kind hüpft im Leib vor Freude.
So fängt eine wunderbare Geschichte an.
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